"Die Wahrheit ist hier, der Spaß in einer anderen Welt"

Der Philosoph Robert Pfaller über Hedonismus, die neue Lust an der Askese und die paranoid-narzisstische Gesellschaft

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In Ihrem Buch beschreiben Sie unsere Gesellschaft als zwanghaft asketisch, andere sprechen eher von einer hedonistischen Spaßgesellschaft. Wie gelangen Sie zu dieser Einschätzung?

Robert Pfaller: Ich glaube, dass unser Selbstverständnis da zutiefst trügerisch ist. Die Grundregel des Materialismus ist, das Sein niemals mit seinem Selbstbewusstsein zu verwechseln, also nicht den Selbstverständnissen der Kultur zu folgen, die man analysiert. Ich glaube, dass unsere Kultur im Gegensatz zu ihrem hedonistischen Selbstbild zunehmend dazu tendiert, Lust durch Selbstachtung zu ersetzen. So kommt es dann auch dazu, dass Lust stark diffamiert ist, sie ist dann bloßer Spaß und so weiter, aber nicht mehr.

Das ist sozusagen die grundlegende metaphysische Operation, dass man nicht wie der Materialismus mit einer Welt operiert, in der sich das Leben lohnen muss. Stattdessen schafft man zwei Welten. Die Wahrheit gehört in eine ideale Welt, der Spaß ist hier, aber dann auch schon verblödet. Gegen diese Zweiteilung muss man sich wehren. In dieser Hinsicht sind die Anhänger der Spaßgesellschaft Komplizen der finstersten Metaphysiker, die sagen, die Wahrheit ist hier und der Spaß dann in der anderen Welt. Während eine materialistische Haltung von der Wahrheitsfähigkeit des Scherzes ausgeht.

Was ist mit der materialistischen Haltung genau gemeint?

Robert Pfaller: Man muss den Materialismus vor allem als eine Art Ethik beschreiben, die danach fragt: Gibt es nun eigentlich noch ein gutes Leben vor dem Tod? So einfach diese Frage ist und so einfach auch die Antwort auf die Frage ist, wofür es sich zu leben lohnt, so selten ist es derzeit auch, sie zu stellen. Wir werden permanent abgelenkt mit pseudopolitischen Engagements, die uns relativ viel Selbstachtung verschaffen. Wir sehen ein, dass wir die Umwelt retten müssen, dass wir etwas für die Sicherheit tun müssen und fügen uns dann diesen Vernunftgeboten, aber es wäre ratsam, ein bisschen mehr Renitenz und eine Kultur des Zögerns zu praktizieren, die zuerst einmal auf den Tisch klopft und fragt: "Halt, wo bleibt mein gutes Leben?"

Wenn Sie von "wir" sprechen, wer ist dann hier das Subjekt?

Robert Pfaller: Wir haben in den letzten 20 Jahren eine Verschlechterung von Lebensqualität in reichen westlichen Gesellschaften erlebt: Vor 20 Jahren konnte man noch deutlich freier studieren, die Universität war noch nicht solchen Ökonomisierungszwängen unterworfen, es wurde nicht laufend geprüft, die Studenten hatten auch mal die Gelegenheit ein ganzes Buch zu lesen - heute schließen sie ganze Philosophiestudien ab, ohne je ein Buch ganz gelesen zu haben.

Das gibt es in viele anderen Bereichen ja auch. Man konnte am Abend den Fernseher einschalten und sich relativ sicher sein, irgendwo einen guten Film zu erwischen, heute ist das nahezu unmöglich. Es hat sich vieles verschlechtert und vielen Menschen ist der Zugang zu elementaren Gütern, die nicht allzu kostspielig sind, relativ erschwert. Diese Beraubung war aber nur möglich, weil sie viele scheinbar emanzipatorische Erzählungen in Dienst nehmen konnte. Das Subjekt sind also alle, die Gefahr laufen, diese emanzipatorischen Erzählungen weiter zu propagieren und dadurch weiter diesen Beraubungen eine Stütze zu liefern.

Ihre Sicht erscheint sehr kulturpessimistisch. Es gab doch in diesem Zeitrum auch viele Fortschritte. Beispielsweise heißt es, dass der relative Wohlstand dank des Kapitalismus noch nie so groß war wie heute.

Robert Pfaller: Angesichts der Steigerung an Produktivität, die wir erreicht haben, hat sich doch das allgemeine Leben erstaunlich verschlechtert. Wir haben einen Zuwachs an neuer Armut, Bildung wird prekär, Altervorsorge wird schwierig, man fragt sich wirklich, welche Leistungsfähigkeit dieses System besitzt, wenn es solche Mängel aufweist.

Wir mäßigen uns maßlos

Sie beziehen sich an vielen Stellen ihres Buchs auf antike Philosophen. An welchen Konzepten orientieren Sie sich dabei?

Robert Pfaller: Es gibt einen Materialismus der Antike bei Demokrit und Epikur, da verbindet sich eine Philosophie, die auf das gute Leben ausgerichtet ist, mit bestimmten Vorstellungen von Materie, Atomismus und so weiter, hat aber viel mehr auch einen ethischen Sinn. Einer der Grundsätze von Epikur ist: Durch Wahnideen verderben sich Menschen ihr Glück. Er sagt aber auch einmal, gerade bei der Mäßigung muss man aufpassen, denn die kann man auch maßlos betreiben. Das hat mir zu denken gegeben, weil man die griechische Philosophie im allgemeinen ja eher als eine Philosphie der Mäßigung beschreibt. Seine Warnung erscheint mir von großer Aktualität, denn wir sind im Moment dabei, uns maßlos zu mäßigen.

Sie beschreiben unsere Gesellschaft als maßlos asketisch, doch auf der anderen Seite gilt gerade Epikur als jemand, der den Genuss propagiert. Wo bewegen Sie sich zwischen diesen beiden Polen Askese und Lebenslust?

Robert Pfaller: Das vordringliche Problem ist zunächst gar nicht zu sagen, welches Maß an Lust man sich gönnen soll. Die entscheidende Aufgabe der Philosophie ist eher, die Einbildungen zu mäßigen. Ich glaube unsere Lebenslust ist derzeit bedroht durch eine Organisationsform von Einbildung, die vielleicht sogar ein Kennzeichen unserer Epoche ist, nämlich eine Einbildung, die man als paranoisch bezeichnen muss.

Menschen sind ständig in einer Art Alarmzustand, wo sie ohne jede mäßigende Relativierung bereit sind, sofort Einsatz zu leisten: Die Umwelt ist bedroht, wir essen sofort kein Fleisch mehr. Die Sicherheit ist bedroht, wir ziehen sofort die Hosen aus. Demgegenüber möchte ich versuchen, mildernde Einbildungen zu kultivieren.

Der Begriff Paranoia stammt ja aus dem psychologischen Vokabular, sie bedienen sich in Ihrem Buch stark bei Freud und Lacan. Wie weit kann man solche individuell-psychologischen Vorstellungen auf die Gesellschaft übertragen und welche andere Aspekte spielen neben der Paranoia hier noch eine Rolle?

Robert Pfaller: Für mich war Freud immer auch ein Philosoph und ich sehe ihn in seinem Nachdenken über Einbildungen auch als einen würdigen Erben der antiken Philosophie. Oder auch der neuzeitlichen Philosophie, etwa von Spinoza oder Pascal, bei denen Einbildungen ebenfalls eine zentrale Rolle gespielt haben. Danach geriet das Thema seltsamerweise in der Philosophie für 150 Jahre in Vergessenheit und Freud ist deshalb möglicherweise ein besserer Erbe als manche Philosophen.

Sowohl bei Freud als auch bei Epikur werden Einbildungen immer in diesem doppelten Sinn verstanden: Es sind individuelle Ausprägungen, aber wir finden sie auch als kollektive Symptome vor. Freud hat in vielen Punkten seine Klinik, die auf individuelle Patienten bezogen war, überhaupt nur entwickeln können, indem er die gesellschaftlichen "Normalvorbilder" der individuellen Symptome in der Gesellschaft untersucht hat. In seiner Abhandlung "Zwangshandlungen und Religionsübungen" zum Beispiel untersucht er sozusagen die religiösen Rituale als Normalvorbilder der Zwangshandlungen der Neurotiker.

Das wichtigste Theorem, auf das ich mich hier stütze, wäre vielleicht der Begriff des Narzissmus, den die Psychoanalyse mit der Soziologie teilt - der Soziologe Richard Sennett hat 1974 in seinem Buch "Verfall des öffentlichen Lebens" schon vom Begriff des Narzissmus Gebrauch gemacht, in dem Sinn, dass die alte europäische Spaltung zwischen einer privaten Person und einer öffentlichen Rolle etwa seit den sechziger Jahren in Gefahr ist, zugunsten der privaten Person liquidiert zu werden. Das wäre auch insofern narzisstisch, indem wir angeleitet sind, ganz wir selbst, ganz authentisch zu sein, also nichts zu dulden, was nicht ich-konform ist.

Psychoanalytisch kann man das noch dahingehend ergänzen, dass diesem Narzissmus immer ein Objektverlust entspricht. Wir verzichten dabei auf einen beträchtlichen Anteil des gesellschaftlichen Lebens, das notwendig ist, um dieses Glück zu ermöglichen. Bestimmtes Glück können wir überhaupt nur als gesellschaftliche Wesen empfinden und nicht als private Individuen.

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