Die Wallfahrten des 21. Jahrhunderts
Demonstrationen und Aufmerksamkeit
Aufmärsche haben zwei Traditionslinien: Eine militärische und eine religiöse. Militärische Aufmärsche waren den Machthabern und ihrem Sicherungsapparat vorbehalten. In Rom waren Triumphzüge die einzige Möglichkeit für ein Heer, in die Stadt zu kommen und mussten vom Senat genehmigt werden. Größere Umzüge von Zivilpersonen nannte man Prozessionen und Wallfahrten. Die Teilnehmer erhofften sich Veränderung in einer verzweifelten Lage, deren Beseitigung außerhalb ihres eigenen Machtbereichs lag. Über die Erfolgsquoten weiß man wenig Verlässliches, aber allein die Teilnahme an der Wallfahrt bot offenbar so viel Ablenkung, dass sich das Modell über viele Jahrhunderte hinweg erfolgreich halten konnte.
Das Bürgertum konnte das Mittel der Parade, das von den Machthabern genutzt wurde, um die Macht zu "demonstrieren", nur bedingt nutzen. Zum Teil gelang dies, indem die Narrenfeste mit den Elementen des musikbegleiteten Umzuges und der Uniform versehen wurden, wie man sie heute noch beim rheinischen Karneval kennt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten sich auch Arbeiter an der Nutzung von Aufmärschen. Da sie in den meisten Fällen jedoch nicht oder nur über sehr wenig politische Macht verfügten, verwandelte sich das Ziel von der Machtdemonstration schnell ins Gegenteil: Seit dem Petersburger Blutsonntag von 1905 war es inhärentes Ziel von immer mehr Aufmärschen, möglichst viele Märtyrer zu produzieren, um so bei einer breiten Bevölkerungsschicht Empörung gegen die Machthaber zu schüren.
Für die Erzeugung von möglichst viel Empörung waren nicht nur Augenzeugen, sondern auch Medien notwendig. Wesentlich besser als mit Zeitungen und Fotographien funktionierte das mit dem Fernsehen. Ihren Höhepunkt erlebten die Märtyrer-Demonstrationen deshalb während der Proteste der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und frühen 1960er Jahren, als Fernsehen zwar schon weit verbreitet, aber für breite Bevölkerungskreise noch relativ glaubwürdig war. Wenn der stiernackige Südstaatensheriff seinen Schäferhund auf die alte Dame mit dem Hut und dem Handtäschchen hetzte, dann sensibilisierte das auch den weißen amerikanischen Fernsehzuschauer für die Problematik der Segregation.
Seit den 1960er Jahren verstand es die Staatsmacht jedoch zunehmend, aus Demonstrationen heraus verübte Sachbeschädigungen zu nutzen, um die Anliegen der Demonstranten zu diskreditieren. Der zottige Lederjackenträger, der ein Auto anzündet, war das Wirkungsgegenteil zur alten Dame, die vom Polizeihund gebissen wird. Es entwickelten sich sogar ganze Jugendkulturen, die unbeschwert und unbewusst ihre Freizeit opferten, um unbezahlt als fünfte Kolonne der Polizei zu fungieren.
Ein anderes Problem von Protestmärschen im 21. Jahrhundert ist, dass sie aufgrund ihrer Verbreitung häufig ohne mediale Aufmerksamkeit auskommen müssen. In den großen Städten finden mittlerweile an fast jedem Wochenende Demonstrationen statt, die kaum jemand bemerkt - außer wenn er zufällig beim Einkaufen vorbei muss. Das Relevanteste an solchen Demonstrationen ist dann die Bewegung der Teilnehmer an der frischen Luft.
Sind Demonstrationen heute nichts anderes als ein kostenloses exhibitionistisches Herumalbern für die Fernsehkameras? Und ist das einzige, was sie realistischerweise erreichen können, mehr Befürworter der Todesstrafe für Ruhestörung? Sind Demonstrationen also – unabhängig vom subjektiven Wollen ihrer Teilnehmer - objektiv weniger eine relevante als eine im besten Falle putzige und im schlechtesten Falle kontraproduktive Form des Protests?
Telepolis hat dazu eine Umfrage gestartet: Welche Demonstration der letzten Woche war die wichtigste? Wir bitten um lebhafte Beteiligung.