Die Wandlungsfähigkeit des deutschen Berufsbildungssystems

Seite 3: Segmentalismus und Dualismus

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Innerhalb der Bundesrepublik entwickelte sich ab den 1990er Jahren eine Neuordnungspolitik. In ihrem Mittelpunkt stand in den 1990er Jahren die Übertragung des dualen System auf neue Wirtschaftsbereiche (Dienstleistungen, IT, Freizeit und Tourismus).7

Mitte der 1990er Jahre wurde eine schon ältere Reformdiskussion wiederbelebt, im Jahr 1997 legte die schwarz-gelbe Regierung Kohl das "Reformprojekt Berufliche Bildung - Flexible Strukturen und moderne Berufe" vor. Darin hielt sie an den Grundpfeilern des dualen Systems fest, sprach sich gegen eine weitgehende Modularisierung und für eine Fortsetzung der Bekämpfung von ausbildungshemmenden Hindernissen aus. Ferner appellierte sie "an die Wirtschaft, die verbesserten Rahmenbedingungen auch tatsächlich zur Steigerung des Ausbildungsangebots zu nutzen".

Daneben wurde das Ziel der Prozessorientierung umgesetzt. So wurden Lehrpläne verändert, dass die theoretischen Inhalte in dem Berufsschulen nicht mehr nach Schulfächern, sondern nach Lernfeldern geordnet gelehrt wurden, also nach thematischen Einheiten. Diese "Modularisierung" wurde ab 2000 heftig diskutiert. Sie wurde von der Berufsbildungsforschung empfohlen, unterstützt vom Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, außerdem vom DIHK und BIBB, wobei letztere die Anwendungspotenziale vor allem in der Berufsausbildungsvorbereitung und der Weiterbildung sahen.

Die Arbeitgeber aus Industrie und Handel unterstützten eher theoriegeminderte bzw. verkürzte praxisbezogene Ausbildung. Das Handwerk wollte ausbildungsbegleitende Hilfen und ganzheitliche Ausbildung. Die Bundesländer dagegen waren der Modularisierung gegenüber kritisch eingestellt. Auch Gewerkschaften lehnten die Modularisierung ab, zudem verhinderten sie eine weitergehende Differenzierung der Ausbildung und lehnten die Einführung zweijähriger Ausbildungsberufe für Lernschwache ab. Die Wiedereinführung zweijährigen Ausbildungsberufe im Jahr 2003 unter Clement bedeutete den vorläufigen Höhepunkt der Konflikte und ein Bruch mit der Tradition des Konsensprinzips.

Auch die Durchführung der dualen Ausbildung unterlag einem Wandel. Beispiele dafür sind ÜBS und Komzet. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit 1973 überbetriebliche Berufsbildungsstätten (ÜBS), bundesweit inzwischen über 1000 Standorte mit Werkstätten, Unterrichtsräumen und teilweise Internaten.

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind, so das BMF, oft zu klein und zu spezialisiert, um alle vorgeschriebenen Ausbildungsinhalte in ihrem Betrieb abzudecken. Daher sollten bestimmte Ausbildungsinhalte in ÜBS vermittelt werden. Seit 2001 fördert das BMBF die Weiterentwicklung "ausgewählter" ÜBS zu Kompetenzzentren (Komzet). Die Förderung als solche geht an die Träger, meist Handwerkskammern und ihre Organisationen sowie Industrie- oder auch Landwirtschaftskammern, oder juristische Personen des öffentlichen Rechts oder gemeinnützige juristische Personen des Privatrechts mit einem entsprechenden Bildungsauftrag.

Ferner wurden individuelle und berufsfördernde Maßnahmen eingeführt. Im Jahr 1998 beschloss die neue Rot-Grüne Bundesregierung das "Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit - Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung Jugendlicher" (JUMP).8 Es enthielt Fördermaßnahmen zur Steigerung des betrieblichen Ausbildungsangebots und Fördermittel für überbetriebliche Ausbildung sowie zur Eingliederung von Jugendlichen in Beschäftigung. JUMP lief von 1998 bis 2004. Zwar nahmen mit 219.000 Jugendlichen mehr als doppelt so viele wie angestrebt teil - aber erstens wurden die meisten Maßnahmen in außerbetrieblichen Einrichtungen durchgeführt, und so wurden kaum neue Ausbildungsplätze geschaffen; außerdem wurde ein Viertel der Teilnehmer danach wieder arbeitslos.9

Im Rahmen des Reformprogramms "Agenda 2010" hat die Regierung Schröder die "Beseitigung ausbildungshemmender Hindernisse", schon unter Kohl wichtiges Element der Berufsbildungspolitik, verstärkt.10 Dies geschah durch eine Aussetzung der Ausbildereignungs-Verordnung und eine Liberalisierung des Handwerksrechts. Im Sinne der Agenda 2010 entstanden auch lokale Programme wie etwa die Fördermaßnahme "Jump Plus" des Jobcenters "Junges Mannheim" für Jugendliche, die ALG II beziehen.11

Im Januar 2005 beschlossen die Fraktionen der SPD, CDU/CSU und Grünen im Bundestag die Novellierung des BBiG. Damit wurde der langfristige Entwicklungstrend der Differenzierung der Ausbildung beschleunigt; gegen einen anderen Trend, nämlich die Aufwertung der vollzeitschulischen Ausbildung, setzte sie einen "Kontrapunkt". Dies sei, so Busemeyer12 kein Systemwechsel, sondern eine "Notfallmaßnahme angesichts der Lehrstellenknappheit."

Die Wandlungsfähigkeit des deutschen Berufsbildungssystems wird seit 100 Jahren immer wieder unter Beweis gestellt. Sie sollte einen Beitrag leisten können zur Integration von Migranten in Lehre und Arbeit. Diese Flexibilität könnte dazu beitragen, Migranten zu integrieren, um somit gegen den Lehrlings- und den Fachkräftemangel anzugehen. Allerdings wird dieser Beitrag sicher nicht besonders groß sein und es dürfte auch eine Weile brauchen, bis er wirkt. Denn mindestens 50 Prozent der Migranten scheinen schon schulisch, erst recht beruflich so schlecht ausgebildet zu sein, dass sie dem Fachkräftemangel kaum etwas entgegen setzen können.13

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