Die Welt im Plural denken
Die durch Flutkatastrophe ausgelöste Informationsschwemme hat alte Utopien reaktiviert - somit auch alte Herrschaftsverhältnisse
Zeitgleich mit der Naturkatastrophe im Indischen Ozean setzte am 26.12.2004 eine gewaltige Bilderflut ein. Tageszeitungen adjustierten ihr Layout um der überbordenden Berichterstattung Rechnung zu tragen. Fernsehsender, CNN wie üblich an der Spitze, sendeten nahezu pausenlos aus der Krisenregion. Der Globus avancierte im Zuge dessen zum zentralen Ikon. Seit einigen Tagen sind der Tsunami und seine Folgen kein Topthema mehr. Grund genug, die Funktion des Globus-Ikons als visuelles Argument der Rede von der "einen Welt" zu hinterfragen.
Er hat aufgehört sich zu drehen. Wird aus allen Winkeln des Alls eingefangen. Aufgeschnitten. Durchleuchtet. Der Globus ist zu einem zentralen Ikon der Flutkatastrophe geworden. Seine Darstellungen sollen uns über das Gewühl des Tagesgeschehens erheben. Sollen Distanz zum Unfassbaren schaffen. Gleichzeitig wird der Globus herangezogen, um Nähe zu suggerieren. Er illustriert die Rede von der "einen Welt", von dem "Zusammenrücken der Welt". Und davon, dass jetzt alle an einem Strang ziehen. All diese Dinge zu repräsentieren, das ist dem Globus vorbehalten.
Der Globus wird herangezogen, wenn Not am Mann ist. Wenn irgendwas enorm wichtiges bedroht wird. Der Frieden. Der Hunger. Die Umwelt. Die Kinder. Das Paradies. Wenn Universalien dieser Kategorie in Gefahr sind, dann steht auch die Welt auf dem Spiel. Frische Satellitenaufnahmen der Erde werden in Umlauf gebracht. Musiker verbünden sich zu mächtigen Allstar-Bands. Präsidenten setzen sich zu historischen Beratungsrunden zusammen. Bürger aller Herren Länder werden aufgerufen - zum Mitdenken und zum Mitfühlen. Wen erreichen diese Signale tatsächlich? Und was?
In den gängigen Globusdarstellungen ist das menschliche Leben nicht mehr erkennbar. Städte und Staaten - alles löst sich auf. Wird unwesentlich, nichtig. Mit der planetarischen Perspektive wird der Blick Gottes simuliert. Durch die Augen des Schöpfers blickend, werden große Ideen ersonnen. Pläne zur Weltrettung und Weltbefreiung. Dieser Sinn lag dem Globus auch schon vor den ersten Satellitenaufnahmen der Erde zu Grunde. Eroberer haben, mit dem Globus vor sich, ihre expansiven Vorstöße geplant. Herrscher haben ihn wie einen Apfel in der Hand gehalten. Und mit dieser Geste ihre Macht zur Schau gestellt. In solchen Momenten jedoch auch die Welt als Sinntotalität definiert: Als einen Raum, den eine gewisse Tonart mit Resonanzen erfüllt. Das Weltbild legitimierte ihren Machtanspruch. Es stellte ein wünschenswertes Ziel in Aussicht, das die Massen mobilisierte.
Herrscher kamen und gingen. Ein Reich löste das andere ab. Mit der Zeit gingen auch die Weltbilder. Das teleologische Moment ist bis heute geblieben. Wer Anspruch auf die Welt erhebt, stellt seinen Anhängern ein Ziel vor Augen. Eine Entwicklung, die ein bestimmtes Ergebnis zeitigen soll. Die Globalisierung wird in diesem Sinne häufig als einstimmiger Prozess verkauft. Alles dreht sich. Alles fließt. Überall. Gleichzeitig. Und all das soll einen Sinn und Zweck haben, einer Idee unterstehen. Nicht zuletzt Naturkatastrophen dienen dazu, diese Einheit ex negativo herzustellen.
Die Idee der "einen Welt" als Lüge
Die Idee der "einen Welt" hatte schon immer blinde Flecken. Ein gutes Beispiel ist das Britische Imperium. Im 19. Jahrhundert hatte es mit einem bis dahin beispiellosen Handelsnetz die Welt erschlossen. Und war damit auch in der Lage, ein Weltbild zu artikulieren, sowie global verbindliche Werte. Entgegen weitverbreiteter Annahmen ist das ideologische Fundament der Expansion nicht immer eindeutig definiert gewesen. Zur Zeit der Französischen Revolution etwa war England gespalten. Die Konservativen befürchteten, die Nachbeben der Umwälzungen im Nachbarland könnten auch England erschüttern. Ihre Herausforderer und Kritiker, die Utilitaristen, setzten ihnen einen Apparat an Innovationen entgegen. Der innenpolitische Disput der zerstrittenen Lager fand in den fernen Kolonien nützliche Projektionsflächen und einen Testboden für die konkurrierenden Auffassungen. Kurz, die Expansion des Britischen Imperiums war beizeiten ein sehr widersprüchliches und alles andere als einheitliches Unterfangen.
In der zweiten Verfilmung von "Mutiny on the Bounty" (1962) ist diese Zerrissenheit im farbenprächtigen Monumentalformat mythologisiert worden. Zwischen dem Kapitän und dem Ersten Offizier der Bounty entbrennt ein tiefgreifender Konflikt um Werte. Auf der einen Seite Menschlichkeit, Ehre und Gewissen. Auf der anderen Seite Pflichterfüllung, Disziplin und Ehrgeiz. Wird ersteres siegen und die Bounty auf ein pazifisches Eiland Kurs nehmen, wo Europäer und Polynesier einen Inselstaat gründen? Oder wird letzteres siegen und die Bounty plangemäß mit einer Ladung von Affenbrotbäumen nach Jamaika gelangen, um dort die Sklaven der Kolonie auf unabsehbare Zeit mit Nahrung zu versorgen? Harmonische Vermischung der Kulturen oder wohlkalkulierte Expansion des Imperiums?
Welches Ziel das Schiff schlussendlich erreicht, ist hinlänglich bekannt. 1790 kamen Bounty-Meuterer und Tahitier auf Pitcairn an. Ihre Nachkommen treiben heute Viehzucht, Gartenbau und Fischfang. Als der Film 1962 mit Marlon Brando in der Hauptrolle in die Kinos kam, dürfte er wie ein nostalgischer Nachruf auf eine Welt gewirkt haben, die sich so hätte entwickeln können. Die Tatsache, dass beides nebeneinander existiert, schien nebensächlich. Der Kurs des Raumschiffs Erde erschien einmal mehr als eine Frage von "entweder - oder". Die Globalisierung sollte nur ein Ziel haben.
Während der Film die Logik des teleologischen Weltbilds reproduzierte, unterschlug er historische Tatsachen. Ein wiederkehrender Schwachpunkt des bislang dreifach verfilmten Stoffes. Denn was mittlerweile zum Gut kollektiven Geschichtswissens gehört, hat in Teilen recht wenig mit den historischen Vorfällen auf der Bounty gemeinsam. Wie Historikerin Caroline Alexander versichert, seien die Figuren des Kapitäns und des Ersten Offiziers keinesfalls mit gut und böse identisch gewesen. Auch waren die Umstände des Vorfalls wesentlich banaler. Ideologien haben ihm nicht zu Grunde gelegen. Stattdessen einige Zufälle zur Meuterei geführt. Alkohol, Ängste und Überreaktionen waren die letztendlich entscheidenden Faktoren.
Nach der Flut ist vor der Flut
Auch heute stellen große Erzählungen ein Blendwerk dar. Nach der Flutkatastrophe ist die Rede von der "einen Welt" mit einer Zäsur begründet worden. Tatsächlich gilt: Nach der Flutkatastrophe ist vor der Flutkatastrophe. Denn an den internationalen Verhältnissen und Beziehungen hat sich nach dem 26.12.2004 nichts Grundsätzliches geändert. Nach der Flutkatastrophe kümmert sich beispielsweise Deutschland in erster Linie um Sri Lanka, was auch vor der Flutkatastrophe der Fall war. Deutschland ist neben Japan lange Zeit Sri Lankas größtes Geberland gewesen. Mit der Entwicklungshilfe sollte die "Perle im Indischen Ozean" anschlussfähig gemacht werden.
Sri Lanka ist auch das beste Beispiel für ein Land, in dem unterschiedliche Lager unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wohin der Inselstaat steuern sollte. Der Kurs ist seit mehr als 20 Jahren ein blutiger Streitpunkt. Im Westen wird die Legitimität des einen Lagers - das Volk der Tamilen - allzu häufig in Abrede gestellt. Daran hat sich nach der Flutkatastrophe nicht viel geändert. Helfer strömen von überall herbei, um die ohnehin schon durch den Bürgerkrieg zerrissene Ethnie aus den Trümmern der Naturkatastrophe zu bergen. Doch Anerkennung finden die seit langer Zeit für Unabhängigkeit Kämpfenden nicht. Ihre Ansprüche werden übertönt. Zu groß ist die Geräuschkulisse, die die Rede von der "einen Welt" generiert.
Das Ausmaß der Katastrophe wird als "ungeheuer", "biblisch" und präzedenzlos beschrieben. Unter großem Getöse werden Opferzahlen und Spendenmillionen präsentiert. Zum Showprogramm zählen auch Krisenstäbe, die öffentlichkeitswirksam einberufen werden sowie Hilfskonvois, die gen Asien unterwegs sind. Es herrscht Aufbruchstimmung. Das Projekt der Globalisierung soll jetzt unter Hochdruck vollendet werden. Gestützt durch das Globus-Ikon werden dabei die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Richtungen der Globalisierung ausgeblendet. Legitimiert wird damit nicht zuletzt der Kurs jener, die gegenwärtig das Tempo und die Richtung vorgeben. Doch was passiert eigentlich, wenn alle an einem Strang ziehen? Zuerst fallen die Schwächeren um, weil sie mit der Zugkraft und Zuggeschwindigkeit der Stärkeren nicht mithalten können.
Und wer nicht mithalten will oder kann, kommt ins Globalisierungsgefängnis. Wird, wie der Erste Offizier der Bounty im Film sagt, zwar nicht eingeschlossen, so doch ausgeschlossen - in der "einen Welt". Es ist an der Zeit, die Welt in Plural zu denken. Selbst aus dem Weltall ist die Erde als Ganzes nur mit mehreren Einzelaufnahmen erfassbar.