Die Wirklichkeit der Träume des Massengeistes: Den Kosmos zur Erde zu machen
Die Geschichte des globalen Gehirns XXI
Auch wenn andere prophezeien wollen, wie sich die Computernetze auf die Zukunftsfähigkeit der Menschheit auswirken, erzählte dieses Buch die Geschichte vom Aufstieg des globalen Geistes aus den Urmeeren der Erde. Implantierbare Kommunikationsmittel und Quantencomputer1 werden unsere Schnittstellen in diesem eben dämmernden Jahrhundert tiefgreifend verändern. Gleichwohl haben viele Jahrmillionen der Evolution unsere Emotionen und unsere Biologie vernetzt.
In den 60er Jahren gelangten Beobachter der !Kung-Buschmänner aus der Kalahari-Wüste zu einer ziemlich verwirrenden Schlussfolgerung über den Lebensstil dieser Jäger und Sammler. Während unsereins in modernen Gesellschaften vierzig bis fünfzig Stunden in der Woche arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, können sich die !Kung mit weniger als 20 Wochenstunden Arbeit reichlich mit Nahrung, Unterkunft und Kleidung versorgen. Unsere "arbeitsreduzierende" Technik zeigte sich als eine neue Form der Lohnsklaverei. Die Jäger und Sammler waren diejenigen, die wirklich die Arbeit reduziert haben.2
Eine später erfolgte Analyse deckte allerdings einen grundsätzlichen Fehler in diesem Argument auf. Auch wenn die !Kung nur ein paar Stunden an einigen Tagen in der Woche auf die Jagd gingen - die Arbeit der Männer - oder Mongongo-Nüsse sammelten - eine Aufgabe der Frauen -, so investierten sie hingegen eine Menge Zeit in die Informationsverarbeitung.3 Die !Kung-Stammesmitglieder bleiben die ganze Nacht wach, um Streitigkeiten zu schlichten oder zu diskutieren, wo sich das nächste Wasserloch finden lassen könnte, bevor das jetzt vorhandene austrocknet.
Soziale Datenverarbeitung
Die Anthropologen, die zunächst eine !Kung-Utopie darstellten, hatten so getan, als wäre die Arbeit, die in modernen Gesellschaften an Journalisten, Geschäftsführern, Bürokraten, Rechtsanwälten und Büroangestellten delegiert wird, nur eine Freizeitaktivität sei. Sowohl bei den !Kung als auch bei den postindustriellen Menschen nimmt aber in Wirklichkeit ein großer Teil des Informationsaustausches die Form der Unterhaltung an. Selbst das Kinderspiel, ein offensichtlicher Zeitvertreib, ist ein primäres Mittel zur Datenverarbeitung.4 Dennoch ist die Vernetzung, Interpretation und Umformung der Daten, unabhängig davon, wieviel Spaß das bereitet, eine ernste Angelegenheit. Denn es ist ein Überlebensmittel, ohne das wir nicht existieren könnten.
In den 80er Jahren waren die Gabbra-Menschen - Züchter von Rindern, Ziegen, Kamelen und Schafen im nördlichen Kenia5 - mit Klimabedingungen konfrontiert, die von den jungen Mitgliedern des Stammes ganz anders als von den älteren gesehen wurden. Es kam die Zeit der Entscheidung und der Überlegung, wo die jahreszeitlichen Regenfälle in den nächsten Monaten niedergehen werden und wo das Gras, das das Vieh ernährt, wachsen wird, so dass die lange Wanderung zu neuen Weiden beginnen konnte. Die jüngeren Stammesführer hatten noch keine der großen Trockenzeiten der Region erlebt, weswegen sie hartnäckig dafür plädierten, zu den Chalbi-Niederungen zu ziehen, die nicht so weit entfernt waren. Das würde eine schöne Wanderung mit unterhaltsamen Gesprächen sein, die leicht an wenigen Tagen zu meistern gewesen wäre. Hier hatte es während der Lebenszeit der jungen Männer immer reichlich Gras gegeben. Die Älteren jedoch setzten ihr Vertrauen in eine Erbschaft, die von ihren Vätern und den Vätern ihrer Väter stammte, in eine traditionelle Methode, die Wetterzyklen zu berechnen. Und sie deutete auf sehr schlechtes Wetter hin. Das alte System der Vorhersage prophezeite in der Tat eine Katastrophe.
Während die Jungen für die offensichtliche und leichte Route eintraten, sprachen sich die Älteren für einen weit schwierigeren Weg aus: für eine lange Wanderung in den Norden durch dürres Land bis ins südliche Äthiopien, dessen Soldaten zwischen 1913 und 1926 systematisch die Angehörigen des Gabbra-Stammes getötet hatten.6 Auf diesem Weg gab es viele Gefahren, doch die Alten waren davon überzeugt, dass die Risiken nicht zu vermeiden seien.
Einige Stammesangehörigen folgten den jungen Anführern zum einfachsten Ziel. Andere schlossen sich den Älteren für die harte und anstrengende Wanderung an. Während der nächsten zwei Jahre fiel kein Regen an dem gewohnten Ort. Die Stammesgruppen, die mit den jungen Anführern gegangen waren, verloren "95 Prozent ihrer Rinder, 60 Prozent ihrer Ziegen, 40 Prozent ihrer Schafe ... fünf Prozent ihrer Kamele"7 und waren genötigt, Hilfsorganisationen anzubetteln, um nicht zu verhungern. Die Expedition, die dem Rat der Älteren gefolgt ist, entkam der Dürre und rettete ihren Stolz und fast ihre gesamten Herden.
Die Universalität des Vernetzens
Ein komplexes adaptives System hat einen Aspekt seines Mechanismus zum Treffen von Entscheidungen vorgeführt. Am Werke war ein sozialer Prozess, der Sensoren auf einer Zellmembrane, Bakterienkolonien, Langustengruppen, Pavianhorden und sich streitenden Modernen des Cyberzeitalters gemeinsam ist. Zwei Untergruppen mit zwei Hypothesen. Zwei Wege, die beide eingeschlagen werden. Aber nur die Einheit, der Wohlstand und die Lebensweise einer Untergruppe führten zum Überleben. Mit diesem Triumph lebte noch etwas anderes weiter: die beste Vermutung des Massengeistes des Stammes.
Es gibt zahlreiche Techniken, mit denen wir bald unsere gegenseitige Vernetzung verbessern werden: angefangen von intelligenten Kleidungstücken und digitalen Füllern bis hin zu Schuhen, die Informationen senden und empfangen können8, und Computern, die unsere Interessen erraten, indem sie die Größe unserer Pupillen beobachten, und dann als unsere persönlichen Diener ins WWW ziehen, um Dinge zu finden, die uns überraschen, unterhalten und uns in Notfällen helfen.9
Doch das Netz der Erfindungen, das dabei ist, unser Leben zu verändern, wird desto besser funktionieren, je besser wir die Verbindungen verstehen, die in unserer Physiologie schon vorhanden sind. Das globale Gehirn hat einen Puls und eine Macht, die größer als die Lebewesen sind, die es konstituieren. Wir sind Module eines globalen Gehirns, einer Intelligenz mit vielen Prozessoren, die jede Form eines Lebewesens verbindet.
Die gegenwärtige Evolutionstheorie behauptet, ein Individuum sei "fit", wenn es die Zahl seiner Nachkommen maximieren kann. Selbst ein brillanter Denker wie Richard Dawkins sagt, dass das Individuum letztlich nicht ein Mensch ist, sondern ein Gen in uns, das uns unbarmherzig steuert und bis zum n-ten Grad egoistisch ist. Solche Überlegungen sehen über die Universalität des Vernetzens hinweg. Weniger als eine Sekunde, nachdem ein falsches Vakuum diesen Kosmos ins Leben hat treten lassen, entstanden Elementarteilchen wie Quarks oder Leptonen, sonderten sich ab und bildeten Grenzen, die ihnen ihre Identität gaben. Dennoch waren alle miteinander trotz ihrer Autonomie verbunden. Wenn sie nicht durch die Starke Kraft, die Schwache Kraft oder die elektromagnetische Kraft zusammengehalten wurden, gab es immer noch die Gravitation.
Diversitätserzeuger und Konformatitätserzwinger
Die Kräfte sind in sozialen Systemen noch komplizierter, aber das Prinzip ist dasselbe: Man kann rennen, so lange man will, aber man kann nicht fliehen. Man kann zwischen sich und dem Zentrum der eigenen Nation oder Familie den Abstand vergrößern, aber niemals vollständig die Verbindung kappen. Selbst wenn wir uns nach innen wenden, spricht eine Armee von unsichtbaren Anderen durch unsere Gedanken, rührt unsere Gefühle auf und bevölkert unsere private Persönlichkeit. Wir sind als Bestandteile eines Internet vernetzt, das unsere Gedanken ganz buchstäblich gestaltet, das befiehlt, was wir hören und sehen sollen, und diktiert, was wir als Wirklichkeit verstehen.
Das ist das Ende der Geschichte der Informationsnetze, die uns haben entstehen lassen, und der Veränderungen, die die Netze erfahren haben, als wir und eine Horde von Alliierten und Feinden um die Existenz auf dieser Erde kämpften. Wir sind von den Anziehungskräften, die die Moleküle aneinander halten, zu der Tendenz vorgestoßen, die Bakterien vor 3,5 Milliarden Jahren dazu gebracht hat, in Megastädten mit einer Einwohnerzahl zu leben, die größer ist als die Zahl der Menschen, die jemals gelebt haben. Wir haben gesehen, wie die ersten unserer einzelligen Vorfahren ihre riesigen Kolonien aufgebaut haben, während sie weltweit Informationen empfangen und versendet haben.
Wir konnten erleben, wie unsere weiter fortgeschrittenen Vorgänger die Möglichkeiten erwarben, die sich aus der mit der Vielzelligkeit einher gehenden Größe ergaben. Wir haben erkannt, welchen Preis die vielzelligen Geschöpfe zahlen mussten, als sie der Möglichkeit verlustig gegangen waren, jederzeit über datengesättigte DNA-Stränge miteinander kommunizieren zu können. Wir haben die Erfindung des Lernens durch Nachahmung, eines neuen Informationsübertragungsmittels, vor fast 300 Millionen Jahren bei den Langusten im Paläozoikum beobachtet. Später sahen wir, dass Datenstränge wie Worte und Symbole die Geschwindigkeit eines neuen Gruppengehirns anschoben: das der Menschen.
Wir konnten den Aufstieg der Städte in der Steinzeit und ihre Verknüpfung durch Handelsnetze mit erleben. Wir konnten sehen, wie sich die Datenströme durch die Kriege und die Konkurrenz im sechsten Jahrhundert v. Chr. beschleunigt haben, als der Philosoph Thales als erstes die Instanz eines internationalen Beraters schuf. Wir konnten beobachten, wie Subkulturen, die Häfen für Menschen mit unterschiedlichen Temperamenten, entstanden sind und wie die Spiele der Subkulturen den Gruppengeist in den Tagen des klassischen Griechenlands bereichert haben.
Wir haben gesehen, wie eine kollektive Intelligenz die Grundregeln eines neuronalen Netzes oder eines jeden komplexen adaptiven Netzes benutzt: Ressourcen und Einfluss jenen zu geben, die die aktuellen Probleme bewältigen, und denjenigen, die nicht zu verstehen scheinen, Einfluss, Verbindungen und Luxusgüter zu entziehen. Wir haben bei den Geschichten über Sparta, Athen und Gilbert Ling gesehen, wie der Massengeist Hypothesen erzeugt, testet und manchmal zerstört und wie dies durch den Kampf zwischen sozialen Kollektiven geschieht. Wir konnten sehen, wie das Gruppendenken, das von Anführern wie Mrs. Salt, der Priestertochter, aber auch allein durch die Herdenhaftigkeit der Menschen entsteht, den Anschein von Einigkeit erzeugt, und wie neue Optionen von Introvertierten ins Spiel gebracht werden, die Subkulturen an den Rändern der Gesellschaft bilden. Wir haben gesehen, wie Untergruppen danach trachten, den Wahrnehmungsapparat der größeren Gemeinschaft zu kontrollieren, um Massen von Männern und Frauen auf ihrem nächsten Flug durch die Stürme des Schicksals zu steuern. Und wir haben einen Blick auf die spartanischen Grundlagen geworfen, die versuchen, die Visionen der Menschheit an sich zu reißen.
Aber wir haben nicht nur die Geschichte der sozialen Datenverarbeitung erzählt, sondern auch diejenige, wie die höheren Tiere ihren globalen Geist verloren und ihn dann langsam wieder gewonnen haben. Es war die Geschichte von zwei globalen Gehirnen, die einen Konflikt austragen: das globale Gehirn der Bakterien und das der Männer und Frauen. Und wir haben gesehen, wie der Datenaustausch in den Wissenschaften trotz aller Fehler es uns schließlich ermöglicht hat, uns auf die Höhe der Geschicklichkeit unserer Bakterienfeinde zu begeben. Da diese Bakterien- und Virenverwandten genau so oft Verbündete wie Feinde sind, sind zwei Milliarden Menschenleben gefährdet, wenn wir nicht die Geschwindigkeit und die Kreativität unseres kollektiven Geistes erhöhen.
Wir konnten sehen, wie das Gruppengehirn Gegensätze einsetzt: Instinkte, die uns auseinander reißen, und solche, die uns wieder in die Ordnung zurückkehren lassen. Diversitätserzeuger sind die treibende Kräfte, uns von anderen zu unterscheiden, während Konformitätserzwinger zur Akzeptanz bringen. Die Schiedsrichter sind Sortierer, wobei es drei verschiedenen Arten gibt: interne Richter, die in unserem Körper und in unserem Gehirn sitzen, Ressourcenverteiler, die in die Massenpsychologie eingebettet sind, und Konflikte, die festlegen, welcher Stamm aus dem Wettkampf zwischen sozialen Gruppen als Sieger hervorgeht. In gewissem Sinne sind diese Sortierer die Auswahlinstanzen von Charles Darwin: seine natürlichen Selektoren. Doch sie ergänzen Darwins Erkenntnisse durch einige harte Wirklichkeiten. Nicht alle Selektoren sind Elemente der Umwelt. Besonders die internen Richter befinden sich in unserem biologischen Körper. Warum? Weil Individuen Teile einer größeren Überlebensmaschine sind. Und genauso wie Individuen konkurrieren, ist dies auch bei den Gruppen der Fall, deren Bestandteile sie sind. Gruppen konkurrieren nicht nur aufgrund ihrer Macht, sondern auch aufgrund ihres Wissens. Jeder Mensch ist eine Hypothese in einem größeren Gehirn. Und unglücklicherweise funktionieren nicht alle Hypothesen. Daher werden manche durch etwas behindert, was man in früheren Jahrhunderten ein gebrochenes Herz nannte.
Die Träume des Massengeistes
Leben heißt, wie dies Aristoteles nur zu genau wusste, die Extreme zu vermeiden. Konformitätsverstärker sind notwendig, auch wenn meine nicht-konformistisch gestimmte Seele bei dieser Aussage erschauert. Doch sie wirken als Drossler des Massengeistes, wenn sie ganz zugreifen können. Diversitätsgeneratoren sind gleichermaßen entscheidend. Doch wenn sie zu stark werden, können sie eine Kultur zerstören und einst mächtige Zentren der Menschheit verwüsten. Interne Richter von der Depression oder der Begeisterung bis hin zu denjenigen, die sich in den Strukturen unserer Psychoneuroimmunologie verbergen, lassen uns zu wirksamen Modulen einer kollektiven Denkmaschine werden. Doch sie können uns auch in Prediger des Massenmörders oder zu verdrießlichen und selbstmörderischen Lebebewesen machen. Ressourcenverteiler können motivieren oder so an sich gerissen werden, dass sie den Reichtum zu stark einzig jenen zufließen lassen, die es geschafft haben, Macht zu erringen, und die Anteile für die angeblichen Minderwertigen blockieren. Konflikte zwischen Gruppen funktionieren in der Wirtschaft, aber sie können Millionen von Menschen töten, wenn sie mit Waffen ausgetragen werden.
Auch der Massengeist hat wie seine Mitglieder Träume. Diese Sehnsüchte können in harte Fakten verwandelt werden, wenn sie nicht nur für Stunden oder Jahre, sondern über Jahrzehnte und Jahrhunderte verfolgt werden. Die Menschen haben mindestens seit der Zeit vom Fliegen geträumt, als die Geschichte von Daidalos vor 3000 Jahren im antiken Griechenland erzählt wurde. Aber es sollte die Arbeit von 150 Generationen des globalen Gehirns benötigen, um diese Fantasie in die Wirklichkeit umzusetzen. Leonardo da Vinci übernahm etwas von anderen Arten, indem er die Flugbewegungen der Vögel studierte, machte dann seine Notizen auf einem Material, das in China erfunden wurde10, und zeichnete mögliche Flugmaschinen. Die chinesische Erfindung, die da Vinci unterstützte, tauchte noch einmal auf, als zwei Söhne eines französischen Papiermachers entdeckten, dass sie, wenn sie eine dünne Tasche, die aus dem Produkt ihres Vaters hergestellt wurde, mit heißer Luft füllten, diese Tasche zum Fliegen bringen konnten. 1783 ließen die beiden Brüder - die Montgolfiers - zwei Freunde im ersten bemannten Langstreckenflug über Paris hinweg schweben.11
Der Amerikaner Benjamin Franklin schlug bald darauf vor, den Ballon mit einem Antriebsmotor auszustatten, zur damaligen Zeit ein Ding der Unmöglichkeit. 1799 entwarf Sir George Cayley aus Großbritannien ein Fahrzeug mit feststehenden Flügeln mit einem Schwanz zur horizontalen und vertikalen Stabilität und arbeitete an dieser Vision lange genug weiter, bis 1849, 50 Jahre später, einen erfolgreichen Gleitflugapparat baute. Der deutsche Otto Lilienthal, der von einem selbst aufgeschütteten Hügel außerhalb von Berlin sprang, unternahm zwischen 1867 und 1891 2000 Gleitflüge und zeichnete jedes Ergebnis sorgfältig aus: bis auf den letzten Flug, bei dem er durch einen Absturz tödlich verunglückte. Vor seinem letzten Sturz veröffentlichte Lilienthal die Konstruktionsdaten der für die Herstellung von Stabilität erfolgreichsten Flügelformen und der von Cayley entworfenen Schwanzgebilde, die er so zu praktischen Gegebenheiten machte. Die Gebrüder Wright aus Ohio übernahmen Lilienthals Erfindungen, um eine motorisierte Maschine, die schwerer als die Luft war, zu bauen. Diese Maschine konnte man lenken, anstatt sie nur unkontrollierbar gerade aus fliegen zu lassen.12 Aufgrund der Entwicklung neuer Materialien flog im Jahr 1988, 3000 Jahre nach der ersten Erzählung über die Wachsflügel von Ikarus, ein von einem Menschen angetriebener Flugapparat eben jene Strecke von Kreta bis zur griechischen Insel Santorin, die der Mythenerzähler von Daidalos sich vorgestellt hatte.
Die Erkundung der Geschichte des Massengeistes, die dieses Buch gibt, gleicht den Bemerkungen Lilienthals, die er über einen seiner ersten Gleitflüge machet. Sie will ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einem anderen alten Traum sein: dem Traum des Friedens zwischen den Menschen. Wir werden stets an Gemeinsamkeiten festhalten, aber den Boden für den Zwist überwachen.13 So denkt und schafft, testet und imaginiert das globale Gehirn. Je stärker wir unsere notwendigen Konflikte friedlich austragen, desto näher kommen wir dem Ziel, Speere in Rebmesser und Schwerter zu Pflugscharen zu machen und das globale Gehirn vom Blut und Abschlachten zu befreien.
Bakterielle Mikro-Cyborgs
1998 ging Eshel Ben-Jacob von der Erforschung von Bakterienkolonien zur Herstellung von Mikroprozessoren und Steuerungselementen über, die so klein sind, dass Tausende von ihnen auf der Spitze einer Stecknadel Platz finden. Wohin wird diese Nanotechnologie in ihren vielen Formen führen? Ich will eine hoch spekulative Möglichkeit ausführen.
Stellen wir uns den Tag vor, an dem wir Molekularcomputer14 in das Genom von Bakterien einbauen und dann die Lebewesen sich vermehren lassen.
Stellen wir uns ganze Schwärme dieser bakteriellen Mikro-Cyborgs vor, die in kreaktiven Netzwerken interagieren, kontinuierlich ihre kollektive Software durch genetische und erfinderische Algorithmen verbessern. Nehmen wir an, dass sie die Leiter des Paradoxen zu unserem Besten erklimmen, um neue Möglichkeiten zur Lösung alter Probleme vom Krebs bis zum Schlachtfest der Kriege zu finden.
Eine einzige Kolonie von Cyanobakterien, wie sie für den Bau eines Stromatoliten verantwortlich ist, hat eine Population, die tausend oder gar eine Million Mal so groß ist wie die gesamte Menschheit. Was könnte eine bakterielle Nano-Cyborg-Population von lernenden und erschaffenden Hybriden mit einer Million Mal mehr Agenten, als es Zellen in einem menschlichen Gehirn gibt, hervorbringen? Würde sie unsere Weise, den Möglichkeitsraum zu durchsuchen, also durch die interagierenden geistigen Kapazitäten von Milliarden von Menschen, die sich 2,5 Millionen von Jahren verbreitet haben, schwerfällig und tapsig erscheinen lassen?
Würden sie ihre fraktalen Verzweigungen jenseits aller Vorstellungskraft entfalten? Könnten sie sich von subatomaren Plankton ernähren, dem schäumenden Eintopf aus Elementarteilchen, die aus den Tiefen des Vakuums im Weltraum kurz erscheinen und wieder verschwinden?15 Könnten Schwärme solcher Nano-Computer-Bakterien durch Sternnebel reisen und die Landschaft Einsteins aus Raum und Zeit neu gestalten? Könnten Sie durch Wurmlöcher kriechen und Möglichkeiten entdecken, die Energien der gewaltigen Ausbrüche zu nutzen, die von Schwarzen Löchern in den Zentren der Galaxien ausgehen?16 Könnten sie zu unseren künftigen Erkundungsmaschinen, zu den Antennen und Energielieferanten für die menschliche Gattung werden? Können wir von globalen Gehirnen zu Megaintelligenzen übergehen, die von einem Universum zum anderen springen? Ein kleiner Schritt für Bakterien, ein gewaltiger Sprung für die ganze Menschheit?
Die Horizonte liegen in uns
Alte Sterne haben in ihren Todeskrämpfen Atome wie Eisen17 ausgespieen, die es in diesem Universum zuvor nicht gegeben hat.18 Die neuartigen Abfallfluten wurden von jungen Sonnen aufgenommen, die ihrerseits noch mehr Atome erzeugten, als ihre Zeit dem Ende zuging. Jetzt belebt das Eisen der alten Sternauswürfe die Röte unseres Blutes. Strenge Ökologen und Fundamentalisten fordern, dass wir unsere Gesichter in die Vergangenheit richten und unsere Augen schließen, um über eine von Menschen gemachte Hölle nachzudenken. Doch wenn sich Sterne kontinuierlich nach oben bewegen, warum sollte das globale Netzwerk aus Menschen, Bakterien, Pflanzen und Tieren nicht ebenso ungebrochen voranschreiten?
Die Horizonte, auf die hin wir uns ausrichten sollen, liegen in uns und drängen danach, ins Freie auszubrechen und aus unseren Vorstellungen hervorzugehen, um uns dann in neue Wirklichkeiten zu treiben. Wir haben einen Auftrag, Neues zu schaffen, denn wir gehören zur Evolution. Wir sind ihr Selbstbewusstsein, ihre Frontallappen und Fingerspitzen. Wir sind Sternematerie der zweiten Generation19, das lebendig geworden ist. Wir sind teilweise 3,5 Milliarden Jahre alt, aber im Rahmen der kosmischen Zeit pubertär. Wir sind Neuronen des artenübergreifenden Geistes dieses Planeten.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rötzer