Die Wissenschaft schlägt zurück

Mehr als 26.000 Wissenschaftler haben den Verlagskonzernen ein Ultimatum gestellt, das am 1. September abläuft

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Im STM-Sektor ("Science, Technical and Medical") wird das wissenschaftliche Verlagswesen von sechs Major Players monopolisiert (Reed Elsevier, Thomson Corporation, Wolters Kluwer, Wiley, Springer, Blackwell's). Dies hat ähnlich unheilvolle Auswirkungen wie im Bereich der Musikindustrie: Gemeinschaftlich versuchen die Majors, den Vorgang des wissenschaftlichen Publizierens so umzugestalten, dass er ihren Profitinteressen nutzt, gleichzeitig aber ganz massive Nachteile für die wissenschaftliche Gemeinde hat.

Es geht dabei um elektronisches Publizieren. Wenn früher ein Artikel in einer Zeitschrift erschien, dann kaufte eine Bibliothek die Zeitschrift und stellte sie in ihre Regale. Wer immer den Artikel lesen wollte, musste lediglich die Bibliothek aufsuchen, um die Zeitschrift einsehen zu können und bei Bedarf Kopien des Artikels anzufertigen.

Dieser Zustand ist im STM-Sektor bereits jetzt nicht mehr gegeben. Zahlreiche Artikel erscheinen bereits jetzt elektronisch. Bibliotheken kaufen keine Zeitschriften mehr, sondern lediglich "Lizenzen". Gezahlt wird bei jedem Lesevorgang. Ausdrucke sind untersagt.

Die Folgen sind gravierend: Technologisch werden Wissenschaftler in die Zeit vor der Erfindung der Fotokopierer zurückgeworfen. Gleichzeitig werden die Budgets der Bibliotheken unkalkulierbar: Wie soll sich vernünftig planen lassen, wenn je nach Zahl der Leser zu bezahlen ist?

Dazu kommen noch prinzipielle Überlegungen: Wenn keinerlei Kopien, weder als Daten noch als Hardcopy angefertigt werden dürfen, so darf als sicher gelten, dass das Wissen der Menschheit in ein paar hundert Jahren vollständig verloren ist. Wir besitzen z. B. aus der Antike keine Originaltexte von der Hand des Autors, und antike Kopien überstanden nur unter sehr speziellen Umständen (z. B. Papyri, die in der Wüste lagerten). Die Lebensdauer einer qualitativ hochwertigen CD-ROM soll bei ca. 50 Jahren liegen (Erfahrungswerte gibt es aus verständlichen Gründen nicht). Wenn die Majors in ein paar Jahrzehnten keine Interesse an Neuauflagen haben und dann die Streamerbänder bei einem Erdbeben oder einem Flugzeugabsturz auf das Verlagsgebäude etc. untergehen, dann haben wir eine Lücke in der Wissenschaftsgeschichte.

Ein weiteres Problem ist der Austausch. Wissenschaftliche Zeitschriften kosten ein kleines Vermögen. Um für die Verbreitung von Wissen zu sorgen, gibt es den so genannten Bibliotheksaustausch. Reiche Länder tauschen ihre wissenschaftlichen Zeitschriften mit armen Ländern (z. B. Osteuropa) eins zu eins, um auch serbischen oder russischen Forschern den Zugang zu neuestem Wissen zu ermöglichen. Eine solche Maßnahme wäre nicht mehr möglich, wenn es keine Zeitschriften, an denen man Eigentum erwirbt, gibt, sondern nur noch Lizenzen.

Gottseidank ist nun die Position von wissenschaftlichen Verlegern deutlich schwächer als die von Plattenlabels. Denn die Wissenschaftsverlage haben es nicht mit Zlatko und No Angels zu tun, sondern mit den klügsten Köpfen der Welt. Deren Verbitterung ist gut zu verstehen: Die Forschungen entstehen mit öffentlichen Geldern, und die wissenschaftlichen Artikel werden kostenlos samt dem Copyright (!) an die Verlage abgetreten. Solange ein Konsens bestand und die wissenschaftlichen Verleger Zeitschriften zu angemessenen Preisen produzierten, war dieses System in Ordnung. Nun, da vor der Öffentlichkeit verschlossen werden soll, was von den Steuergeldern der Öffentlichkeit bezahlt wurde, kommt es zum Bruch.

Naturwissenschaftler, in erster Linie Biochemiker, gründeten eine Organisation namens The Public Library of Science mit dem Ziel, eine öffentliche, im Internet zugängliche Bibliothek aller naturwissenschaftlichen digitalen Artikel einzurichten. Nicht, dass sie damit auf besondere Sympathie der Verlagskonzern hoffen dürften: Reed Elsevier unternahm bereits massive Lobbyarbeit gegen PubSCIENCE, eine öffentlich finanzierte Abstracts-Seite für die Physik. Anscheinend mit Erfolg: Ein Kongress-Unterausschuss empfahl die Schließung der Seite, weil sie lediglich Aktivitäten dupliziere, die bereits von privater Seite geleistet würden. Absurd: Mit derselben Begründung ließen sich Schulen (Privatschulen) und Polizei (Wachdienste) einsparen.

Doch zurück zur "The Public Library of Science". Es ist offensichtlich, dass die Verlagshäuser nicht so einfach ihre Artikel für ein derart ambitioniertes Projekt herausrücken würden. Daher ging ein offener Brief an die STM-Zeitschriften: Alle Zeitschriften, die sich nicht bis zum 1. September (also Samstag dieser Woche) bereit erklären, sämtliche Artikel nach Ablauf von sechs Monaten nach der Erstpublikation der "The Public Library of Science" zur Verfügung zu stellen, werden von den Unterzeichnern vollständig boykottiert. Das heißt: In diesen Zeitschriften werden keine Artikel der Unterzeichner erscheinen, die Unterzeichner werden nicht als Gutachter zur Verfügung stehen und werden auch keine herausgeberischen Tätigkeiten wahrnehmen.

Die Sechsmonatsfrist soll garantieren, dass die Verlage ihr Geld einspielen können. Es geht ja nicht darum, die Verlage kaputt zu machen, Ziel ist lediglich, Wissenschaft weiter betreiben zu können. Wer intensiv an einem wissenschaftlichen Projekt forscht, wird keine sechs Monate warten können, und so kommen die Verlagshäuser zu ihrem Einkommen. Ein Wissenschaftler in Harare wird dagegen zufrieden sein, wenn er die neuesten Ergebnisse kostenlos, wenn auch mit sechs Monaten Verschiebung, lesen kann.

"The Public Library of Science" ist übrigens alles andere als ein kleines Weltverbesserer-Kaffeekränzchen. Mehr als 26.000 internationale Wissenschaftler haben den offenen Brief unterschrieben, alle mit vollem Namen und Funktion. Die "Advocacy Group" besteht aus dem Who-is-who der Biotech-Wissenschaft, mit zwei Nobelpreisträgern.

Bisher haben die großen Verlagshäuser keine Anstalten gemacht, bis Samstag einzulenken (nur ganz wenige Zeitschriften haben bereits vor dem offenen Brief wissenschaftsfreundlich verhalten). Was danach geschehen wird, kann man ahnen: Wer braucht Publikationsdienstleister im Zeitalter des Internets? Und was machen Verlage mit Fachzeitschriften, wenn keiner der renommierten Wissenschaftler für diese Zeitschriften mehr schreiben will?