Die Wissenschaft und die Verwerfungen der Massenpsychologie
Geschichte des globalen Gehirns XIX
Dr. Gilbert Lings Lebensgeschichte eröffnet ein Paradox. Sie zeigt den Fortschritt, den das globale Gehirn in der Ära der modernen Transport- und Kommunikationssysteme gemacht hat, aber sie legt auch den Gedankendrossler offen, der tief im Massenbewusstsein an der Arbeit ist.
Ling wurde in China geboren und erzogen. Er erhielt seine Graduiertenausbildung in den USA, auf einem Gebiet, das größtenteils von Deutschen entwickelt worden war. Seine intellektuellen Helden waren Lao-Tse, Konfuzius, Sokrates, Joseph Priestley, Benjamin Franklin, Michael Faraday, und Saburo Ienaga aus Japan. Sein Einfluss reichte nach Amerika, Europa und Russland, um dann von autoritären Bewusstseinsverschließern blockiert zu werden, ironischerweise innerhalb der Wissenschaft selbst. Falls er die Hindernisse überwinden sollte, die ihm in den Weg gestellt wurden, dann hat er das starke Gefühl, dass uns seine Forschung in ein Turnier mit einem globalen Gehirn führen könnte, das wir für einen kurzen Moment lang geschlagen hatten, das uns aber schon wieder im Staub zurückzulassen droht. Im Staub unserer bakteriellen Brüder.
Um das Puzzle und den Preis zu verstehen, müssen wir ein Stück in die Geschichte zurückwandern. Wenn Wissenschaftler wie Peter Russell in England, Joel de Rosnay aus Frankreich, Gottfried Mayer-Kress aus Deutschland, Francis Heylighen aus Belgien, Gregory Stock aus Amerika und Derrick de Kerckhove aus Kanada irgendwann im 21. Jahrhundert die Ankunft des globalen Gehirns vorhersagen, dann sind ihre Geister oft auf die elektronische Kommunikation fixiert. Sie sehen die Knoten zwischen verschalteten Satelliten, fiberoptischen Kabel und neuesten Technologien als neuronale Zellen in einem Cyberkortex, der Kontinente umspannt. Der Handel und der steinzeitliche Technologieaustausch hatten aber bereits vor mehr als zwei Millionen Jahren frühe Versionen dieser weitreichenden Verknüpfungen geschaffen.1 Die Geschwindigkeit, mit der diese Verbindungen seit 3.000 vor Christus wuchsen, war nicht zu verachten.
Der Datenfluss auf dem frühen Handelsnetz
Der britische Neurobiologe Charles Sherrington sprach vom Gehirn als einem bezaubernden Webstuhl, der beständig an einem Bild der externen Welt webt... Das gemeinsame Bewusstsein der alphabetisierten Gesellschaften - die Weltkultur - ist ein immens größerer Webstuhl. Mit der Wissenschaft hat es die Fähigkeit erhalten, die externe Realität weit über den Zugriff eines einzelnen Bewusstseins hinaus zu kartographieren...
Edward O. Wilson
Die Ägypter nutzten den Nil, um einen langen Streifen von Städten zu einem Imperium zu vereinen, das vierzehn Mal länger existierte wie die USA als Nation. Boote ermöglichten einen erstaunlich schnellen und einfachen Verkehr zwischen einzelnen Zentren.2 Fremde Händler wiederum eröffneten Anbindungen bis nach Asien.3 800 vor Christus benutzten die Phönizier wendige Schiffe, mit denen man es auch mit turbulenteren Gewässern aufnehmen konnte, und segelten damit übers Mittelmeer und den Atlantik. So transportierten sie Güter und Ideen von Britannien und Spanien nach Agros und Assyrien über Strecken von 2.400 Meilen.4 Kurz vor der Geburt Christi zapften Griechen5 und Araber die Monsunwinde6 an, um einmal im Jahr nach Indien und China7 zu segeln. Dann kehrten sie mit wundersamen Ladungen von Perlen, Malabarpfeffer, Parfumes und Schmuck zurück.
Die Römer beschleunigten den wachsenden Verbindungsstrang, indem sie Straßen bauten8, phönizische Schiffe kopierten9 und ägyptische und persische Formen des Datenaustauschs über Langstrecken zu einem Postdienst namens cursus publicus verfeinerten, auf dem Nachrichten 170 Meilen am Tag zurücklegten.10 Der Heilige Paulus, ein Meister der Internetpromotion seiner Zeit, nutzte dieses Postsystem, um seine Episteln im östlichen Mittelmeerraum zu verbreiten, und benutzte dann die mächtige Erfindung des regelmäßigen Schiffsverkehrs11, um das Evangelium bis nach Rom und Spanien zu befördern.12 Gepflasterte Schnellstraßen und Postpferde waren so effektiv, dass der junge Konstantin laut 'Aufstieg und Fall des römischen Imperiums' den Palast in Nikomedia mitten in der Nacht verließ, dann durch Bithynien, Thrakien, Dakien, Pannonien und Italien reiste "und unter den begeisterten Zurufen der Leute den Hafen von Boulogne genau in jenem Moment erreichte, als sein Vater eben in Richtung Britannien einschiffte."13 Diese Reise hatte sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit über 1.600 Meilen erstreckt.
Die Chinesen zogen über 300 Millionen Quadratmeilen zu ihrem Imperium zusammen und gründeten damit ein weiteres Reich, dessen lange Geschichte die der Nationen Europas wie ein kurzes Aufblitzen erscheinen lässt. Landwege und Transportadern auf Flüssen banden diese riesige Entität zusammen. Dann begann man mit Unternehmungen wie dem 600 Meilen langen Reichskanal, der für Barken bis zu 500 Tonnen Frachtgewicht einen schnellen Verbindungsweg zwischen Yangtse und Gelbem Fluss herstellte.14 In den beiden Amerikas nutzten die Inkas Strassen, Lamakarawanen und Kanäle, um einen Herrschaftsbereich zusammenhalten zu können, der 2.700 Meilen lang und einige hundert Meilen breit war.15
Ein funktionierender Datenfluss war die Voraussetzung für solche massiven Netze zwischen den Städten und dem Land. Die Römer verbreiteten eine gemeinsame Sprache und Kultur, um die Kommunikation zu vereinfachen, während die Chinesen ein gemeinsames Alphabet schufen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Inkas setzten ein einheitliches Buchhaltungssystem ein, das auf geknoteten Stricken basierte.16 Alle drei imperialen Mächte verfeinerten ihre Netzwerke weiter, indem sie Gewichte und Maße vereinheitlichten und wie im Falle Chinas sogar eine Standardweite für den Abstand der Wagenräder einführten, damit Fahrzeuge aus einer Provinz auch in der Nachbarprovinz leicht in den eingefahrenen Wagenspuren reisen konnten.17 Inzwischen sicherten chinesische Händler eine Seidenstraße durch die Takla Makan Wüste, um ihre Waren nach Rom zu transportieren18, wo die großen Matronen der Geschichte wie etwa Livia sich gegenseitig durch die Pracht ihrer schimmernden importierten Roben übertrafen. Um diese fernöstlichen Luxusgegenstände bezahlen zu können, machten sich die Römer die Arbeit von Sklaven aus allen erreichbaren Kontinenten zunutze, die Metall aus den Silberminen schürften, die die Römer auf ihren Feldzügen erobert hatten. Die Semi-Globalisierung des Handels war so grundlegend, dass die Römer eine stetig wachsende negative Handelsbilanz gegenüber den kommerziellen Tigern von Indien, Arabien, Spanien und Sezuan zu beklagen hatten.19
Ideen fluteten hin und her und vermischten sich schließlich, als dieses informationelle Bindegewebe immer schneller wuchs. Griechische Philosophen wie Pythagoras waren von Ideen beeinflusst, die aus den Hindukulturen des Ganges stammten. Indien wiederum nahm die künstlerischen Traditionen der Nachfahren der Generäle Alexanders des Großen auf, die Königreiche im Norden des Landes geschaffen hatten.20 Im Gegenzug wurden die indischen Märchen in Europa zur gemeinsamen kulturellen Währung.21
Nachdem Rom im Jahre 410 an die Goten gefallen war22, bemächtigten sich Piraten der mediterranen Seewege, die die Bürger Roms und Galliens mit Korn aus Ägypten versorgt hatten. Die Straßen, die Zinn aus Cornwall brachten, wurden von Banditen und plündernden Stämmen abgeschnitten. Europa gelang es erst im späten 18. Jahrhundert wieder, den Grad seiner Verschaltung auf römisches Niveau zu heben. Keime für eine Wiederanbindung wuchsen aber bereits seit 1100 nach Christus, als die Pfade, zu denen die römischen Straßen zerfallen waren, wieder ausreichend vor Kriminalität geschützt werden konnten, um eine Wiedergeburt des kontinentalen Handels zu ermöglichen.23
Im 15. und 16. Jahrhundert vergrößerten Spanien und Portugal ihr Netz ozeanischen Austauschs nach Afrika, Indien und die beiden Amerikas, und führten so die süßen Kartoffeln Mexikos auf den Philippinen24, sowie Chili aus Peru in Hunan ein.25 Sie trugen die afrikanische Kultur vom Kongo in die Karibik, in der man bald die Kongatrommel hören konnte.26 Zur selben Zeit wurde der lange daniederliegende Postdienst Europas wieder aufgenommen.27 Nun konnte Erasmus zu einem Briefjunkie werden, der durch eine Flut von Briefen28 eine Gemeinschaft internationaler Exzentriker in einer Bewegung zusammenführte, die die religiöse Todesfahrt zum Himmel als weitaus weniger wichtig ansah als die Preisung des irdischen Lebens der Menschheit.
Homo Sapiens war aber nicht der einzige, der durch dieses wachsende globale Netz gewann. Bakterien und andere Mikroorganismen reisten auf den Handelsstraßen Griechenlands und des antiken Roms und schnüffelten herum auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Und sie fanden sie. Wellen von Epidemien trafen Athen und das Reich, das die Cäsaren regierten.29 Eine infektiöse Epidemien reiste in der Zeit von Justinians Herrschaft per Anhalter aus dem Himalayagebiet über Indien nach Konstantinopel und tötete an einem Tag 10.000 Einwohner dieser prachtvollen Stadt.30 Die Pocken reisten mit den Conquistadores Spaniens übers Meer und trafen dort auf eine amerikanische Bevölkerung, die über keine entsprechende Immunabwehr verfügte. Geschätzte 70 Millionen Indianer starben an den Folgen. Die Tuberkulosis, die zuerst mit Jägern und Sammlern vor der Eiszeit über die Kontinente gewandert war31, tötete beide Eltern Gilbert Lings.32
Ling beginnt seine Erzählung mit dem Boxeraufstand in China, ein Vorfall, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des weltweiten Netzes abspielte. Die Entwicklung dampfgetriebener Schiffe seit 180733 ermöglichte es den westlichen Nationen wie England und den Vereinigten Staaten, zusammen mit den neuen Waffentechnologien des Hinterladers (1838), des Gatling Gewehrs (1862)34 und der leichten Artillerie35 die Turniere zwischen verschiedenen Gruppen eskalieren zu lassen. Darunter fallen Feldzüge ebenso wie die friedlicheren Handelskriege. China strotzte vor Exportgütern, nach denen der Westen verlangte, aber das Reich der Mitte zeigte im Gegenzug wenig Interesse an der Wolle und anderen Waren, die der Westen bieten konnte. Das Ergebnis war ein ernsthaftes Defizit in der westlichen Zahlungsbilanz, das die Engländer wettmachten, indem sie ein Produkt anboten, das in ihren indischen Provinzen hergestellt wurde - Opium.36
Der Handel lief gut, allein im Jahr 1836 wurden acht Millionen Pfund der Droge nach China geschmuggelt.37 Und amerikanische Kaufleute wie Warren Delano, Franklin Delano Roosevelts Großvater, wollten sich so ein Geschäft nicht entgehen lassen.38 Viele der Elitefamilien der Vereinigten Staaten hatten ihr Vermögen ursprünglich damit gemacht, Seeotterpelze von der Frontier in die chinesischen Häfen zu verschiffen. Jetzt folgte der Coolidge und Forbes Clan dem englischen Beispiel und widmete sich dem Drogenhandel in Kanton. Die Chinesen antworteten auf dieses Geschäft mit der Sucht mit einer Serie von Kriegszügen, die sie nicht gewinnen konnten. Einer davon war die Rebellion der Boxer.39 Als sie vorbei war, wurde China durch "Reparationsleistungen" gemolken. Amerika versuchte diese kaum zu rechtfertigenden Forderungen wieder gutzumachen, indem man Geld für eine Universität in Peking bereitstellte und Fellowships einrichtete, die mehr als hundert der besten Studenten Chinas das Studium in den USA ermöglichte.
So erwies sich der Kampf als Synapsenbauer, und im Jahre 1945 war Gilbert Ling einer derjenigen, die an diese Synapsen angeschlossen wurden, als er während der Weihnachtssaison an der University of Chicago ankam, um seine Graduierung zu erhalten. Ling entschied sich dafür, sich auf das Gebiet der Zellphysiologie zu konzentrieren, das ihn tiefer ins Netzwerk der Geister hineintragen sollte, das den kollektiven Intellekt der Menschheit zusammenhält.
Die Entdeckung der Zellphysiologie
Die Geschichte der Zellphysiologie begann im 17. Jahrhundert in England, als ein junges wissenschaftliches Allroundtalent ein neues Werkzeug in die Hände bekam, das mit Hilfe von Linsen einige besondere Aufgaben erfüllen konnte. Die Vergrößerungslinse war zum ersten Mal in Assyrien aufgetaucht40, war dann wieder vergessen worden, und wurde in Florenz im Jahre 128041 wieder neu erfunden - als Lesehilfe für die privilegierten Klassen, Kleriker und Adlige. Innerhalb von fünf Jahren wurde das Tragen einer Brille eine Modeerscheinung. Im frühen 17. Jahrhundert entdeckte ein obskurer holländischer Brillenmacher namens Hans Lippershey, dass man mit der Kombination verschiedener Linsen in einer Röhre eine Werkzeug zur Fernsicht bauen konnte. Er glaubte, dass der Verteidiger der Niederlande, Prinz Maurice von Nassau, mit diesem Instrument angreifende spanische Armeen frühzeitig erkennen können würde. Lippersheys Geheimwaffe Teleskop machte aber bald die Runde in Paris, Frankfurt und London. Galileo, ein Mann aus Pisa, der an der Universität Florenz Vorlesungen hielt, bastelte sich ein solches Instrument selbst. In einem Akt der Anwendungsdiversifizierung, der Forscherkollegen und Kirchenmänner gleichermaßen verschreckte, wandte er sein Teleskop von potentiellen Kriegsschauplätzen weg und richtete es auf ein Territorium, das der Religion und der Philosophie heilig war - den Himmel.42 Dort fand er heraus, dass die Planeten keine Bälle waren, die von Engeln auf kristallinen Bahnen bewegt wurden, sondern Globen aus fester Materie, ähnlich wie der unsere.43 Ein anderer Universitätsdozent aus Bologna diversifizierte das Gerät in die umgekehrte Richtung. Marcello Malphighi benutzte das Werkzeug, um nach unten zu blicken, und untersuchte so verborgene Dinge wie die inneren Schichten der Haut, die Dellen auf der Zunge, die bluttransportierenden Kapillaren und das äußere Gewebe des zerebralen Kortex.
Als sich die Erfindung der snail mail verbreitete, erhöhte sie die Geschwindigkeit, mit der Menschen vor dem Zeitalter der Vernunft Daten austauschen konnten. Malphigi war Mitglied in einer neu gegründeten lokalen Chat-Group, der Accademia del Cimento. Der Engländer Robert Hooke war wiederum Mitglied einer anderen solchen Gruppe, die das Postsystem benutzte, um interkontinental tätig zu werden - nämlich der British Royal Society. Hooke nahm sich der Erfindung Galileos an, baute sein eigenes Teleskop, entdeckte damit einen Stern im Orion und untersuchte die Oberfläche des Mars, um es dann auf den Kopf zu stellen und auf Schneeflocken, Moskitos, Federn und Pilze zu richten. Den Jackpot knackte er aber, als er seine Röhre auf ein Stück Kork richtete. Denn dort sah er, was er in seinem Bestseller 'Micrographia' als die "ersten mikroskopischen Poren" beschrieb, die er je erblickt hatte. Weil diese Poren ihn an die Schlafkammern von Mönchen erinnerten, nannte er diese Mikroräume Zellen.
Das menschliche Netzwerk baute an seinem Gewölbebogen weiter. Zweihundert Jahre später nahm ein Duo von Laborkollegen, die beiden Deutschen Matthias Schleiden und Theodor Schwann, die Arbeit von Hook wieder auf und bauten daraus eine Theorie, die eine Plattform bilden sollte für das Verständnis von Bakterien, Tieren und beinahe der ganzen Biologie. Jede Pflanze und jedes Tier besteht aus Zellen, erklärten der Süddeutsche und der Preuße.44 Und Zellen waren wiederum das, was man bis zu ihrer Zeit nur angenommen hatte, nämlich wassergefüllte Kabinen, deren Wände eine passive "homogene, transparente Flüssigkeit" umschlossen. 45
Eine unerwünschte Entdeckung
Diese Erkenntnis führte aber zu einem Mysterium. Moleküle von Sodium waren vom Inneren von Zellen ausgeschlossen46, während Potassium aber eingeschlossen war47, eine Tatsache, die die Gesetze der Physik ad absurdum zu führen schien. Wie konnten die beiden Chemikalien, die sich mit der gleichen Dichte auf beiden Seiten der Zellmembran hätten ausbreiten müssen, vom Durchdringen der Zellwände abgehalten werden? In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts schlug der vom Weinhändler zum physiologischen Chemiker umgesattelte Deutsche Moritz Traube48 die Interpretation vor, dass die Membran eine Art von "Atomsieb" sein müsse, die das eine Molekül durchließ, das andere aber abwies. Die Forschung des 20. Jahrhunderts, die mit der Diffraktion von Elektronen und Röntgenstrahlen arbeitete, wies aber nach, dass diese Idee voller Löcher war, allerdings der falschen Sorte.49 Moderne Biologen erklärten die Siebe Traubes als viel wirkungsvoller und erklärten sie zu Leckwasserpumpen, mit denen die Membran übersät war.
Inzwischen baute Gilbert Ling an einem Korpus von Beweisen, die darauf hindeuteten, dass man einen gehörigen Schritt weiterkam, wenn man anerkannte, dass die passive Flüssigkeit innerhalb der Zelle in Wirklichkeit hochaktiv war, und dass aufgrund ihrer geschäftigen Natur keinerlei Wasserpumpen in der Zellmembran nötig sind.50 Lings Überlegungen wurden im Laufe der Zeit schließlich als Durchbruch in der Zellforschung erkannt, von dem Lancelot Law Whyte von der Cambridge University erklärte, "er sei einer der wichtigsten und fortgeschrittensten Beiträge zum Verständnis der Struktur lebender Systeme, die ich je gesehen habe."51 Dieser Beitrag eröffnete für Ling selbst "die einzige verifizierte, vereinheitlichte Theorie der Zellphysiologie."52 Der mit dem Nobelpreis bedachte Entdecker der oxidativen Eigenschaften von Vitamin C, Albert Szent-Gyorgyi, betrachtete Ling als "einen der erfinderischsten Biochemiker, den ich jemals getroffen habe."
Und hier ist ein Wort der Vorsicht angebracht. Gruppengehirne bewegen sich nach vorn, indem sie hin und her springen. Der Schaden, der durch ein dunkles Zeitalter angerichtet wurde, ist schließlich überwunden worden. Aber solche Momente der Einschränkungen haben auch immer ihre Opfer, und Gilbert Ling war eines dieser Opfer.
Überall Netzwerke, aber kaum ein Tropfen zu trinken
Komplexe adaptive Systeme werden nicht durch Verstandesleistungen, sondern durch die Biologie in Gang gesetzt. Dies kann ein Segen sein, aber auch ein Fluch. Zum Beispiel Ressourcenverteiler, die uns aufbauen, dann aber auch wieder niederschlagen können. Weil Gilbert Lings Ideen für außergewöhnlich bedeutend gehalten wurden, sorgten sie dafür, dass Ling auf der Sonnenseite des Lebens stand. Als Ling seine postdoktoralen Forschungen an der University of Chicago beendete, erhielt er ein Budget, um an der John Hopkins Medical School in Baltimore zu forschen und zu lehren. Dann bot ihm die Medical School der University of Illinois an, sich ganz auf seine Forschungsarbeit konzentrieren können, ohne lehren zu müssen.
Inzwischen erregte seine Arbeit stetig wachsende Aufmerksamkeit. Als das East Pennsylvania Psychiatric Institute in Philadelphia eine neue Abteilung für die Grundlagenforschung gründete, wurde Ling angeheuert, um ein eigenes Labor aufzubauen und zu leiten. Daraufhin erhielt er die Möglichkeit, ein Labor am Pennsylvania Hospital einzurichten.53 Aufmerksamkeit generiert immer mehr Aufmerksamkeit. Wie Ling erklärte, "strömten Scharen intelligenter junger Studenten in mein Labor, um dort für einen höheren Abschluss zu arbeiten oder anderweitig an der aufregenden Forschung teilzunehmen."54
Lings Arbeit floss rapide in den globalen Datenstrom ein. Er erinnert sich daran, "überall auf der Welt" Vorträge gehalten zu haben, und überall mit stehenden Ovationen verabschiedet worden zu sein. 1957 besuchte ihn "der sowjetische Forscher A.S. Troshin, ein weiterer Zellphysiologe, der sich gegen die Idee der Membranpumpe stellte und Direktor des Großen Leningrader Instituts für Zytologie war". Dieser hatte Lings Arbeit offensichtlich genauestens verfolgt.55 Lings Konzept der Salzwasser-Biophysik konnte bald an einen anderen, mit einem Nobelpreis bedachten Theoriestrang Isidor Rabis angeschlossen werden. Rabi war im Alter von drei Jahren als Immigrant aus Österreich-Ungarn in die Vereinigten Staaten gekommen und hatte wesentlichen Anteil an der Entwicklung von einem der Werkzeuge, das zu den wichtigsten der modernen Biologie zählt - die Nuklearmagnetische Resonanz-Bildverarbeitung (NMR-Tomografie), die heute dazu benutzt wird, Körper und Gehirn zu untersuchen.56 Ling war sich sicher, dass man den Bakterien, die seine Eltern getötet hatten, einen empfindlichen Schlag versetzen könnte, wenn man auf der Basis seiner Ideen weiterarbeiten würde. Mit einer verbesserten Theorie ausgestattet würden die Menschen neue Werkzeuge bauen. Mit ihnen würde man die bakteriellen Invasoren bekämpfen, die die Zellen, aus denen wir bestehen, zu ihren privaten Esszimmern umzubauen versuchen. Im Folgenden wird sich zeigen, warum Ling recht haben könnte.
Die Flüssigkeit im Inneren einer Zelle ist alles andere als ein vom Zufall bestimmtes Geplätscher. Atome sind Netzwerke von Quarks und Leptonen - es gibt drei Quarks und ein Lepton selbst im kleinsten Atom, das wir kennen. Moleküle sind wiederum Netzwerke von noch größerer Komplexität. Jedes Molekül verfügt auf seiner Außenseite über Module, die man mit Stecker und Steckdose vergleichen könnte. Mit Hilfe dieser Steckverbindungen kann ein hypersensitives Gittergewebe geschaffen werden, das Mediziner einen "kooperativen Status"57 nennen.
Ling führt aus, dass ein Wassermolekül nicht das beschauliche Stück Materie ist, als das wir es uns vorstellen. Zwei Sauerstoffatome und ein Wasserstoffatom sind so arrangiert, dass das eine Ende des Moleküls positiv, das andere aber negativ aufgeladen ist. Die positive Ladung eines Wasseratoms dockt sich an die negative Ladung eines anderen an. So werden Wassermoleküle dazu genötigt, sich zu großen Geflechten zu organisieren. Ein loses molekulares Gewebe lässt das Wasser flüssig bleiben, ein enges Gewebe lässt es dagegen zu Eis erstarren. Im Inneren einer Zelle schwingt ein Gewebe aus Wasser, Proteinen, Nukleinsäuren und Kohlehydraten in einem Zwischenstadium, das wir als Leben bezeichnen.58 Lings "Polarisierte Mehrschichtentheorie des Zellwassers"59 hilft bei der Erklärung, wie und warum dieser Zustand erreicht wird.
"Gelee besteht beinahe ausschließlich aus Wasser und dennoch kann dieses Geleewasser 'aufrecht stehen', wie es kein normales, reines und flüssiges Wasser jemals könnte. Diese Fähigkeit des Geleewassers, stehen zu können - die auch Eis besitzt - lässt darauf schließen, dass die Interaktion zwischen den einzelnen Wassermolekülen im Geleewasser durch die einzige zusätzlich vorkommende Komponente, nämlich Gelatine, verändert wird," so Ling. Der Schlüssel zu diesem Mysterium liegt laut Ling im Hauptbestandteil der Gelatine verborgen: das Protein Kollagen umhüllt sich mit Lagen von Wassermolekülen, als ob es sich mit mehreren Kleidungsschichten für den Winter fit machen würde.60 Wenn diese von Wasser umhüllten Kollagenmoleküle aneinander andocken, erhält man Gelee61 - oder das Fleisch, aus dem wir alle bestehen, denn Kollagen sorgt dafür, dass das vernetzte Wasser unserer Muskeln und Fasern Form und Kraft erhält.62 Lings molekulare Gewebe kleben mit solcher Kraft an ihren Wasserbestandteilen, dass man sie in Stücke schneiden, und schließlich mit tausendfacher Gravitationskraft zentrifugieren kann, ohne dabei auch nur einen Tropfen Wasser zu verlieren. Dies geschieht trotz des Umstandes, dass dieses Gewebe zu 80 Prozent aus Wasser besteht.
Wie in der zwischenmenschlichen Interaktion verschiebt jedes der verschalteten Wassermoleküle die interne Balance seiner Nachbarn. Dieser Fakt lässt das Gesamtgewebe in einen Zustand kippen, der weit von einer gewöhnlichen Verknüpfung entfernt ist, und verwandelt es in Lings Worten in eine "funktional kohärente und diskret kooperative Konstruktion." Lings molekulare Netze sind so wachsam, dass ein einziger Stoß eines auslösenden Moleküls, das man den kardinalen Absorbenten63 nennt, das Netz vom Ruhezustand in einen Zustand der Hyperaktivität versetzen kann.
Lings Konzept der in Gittern angeordneten Moleküle, die sich gegenseitig zu einer kooperativen Aufmerksamkeit nötigen64, mag sich seltsam angehört haben, als er es 1962 vorschlug. Seit damals haben aber andere Forschernachgewiesen, dass das Zellinnere einem Schwarm an Struktur und Aktivität gleich t, der mit einem Rahmenwerk von architektonischen Stützen und einer Bürokratie von Botschaftern, Empfängern, Administratoren und Einlasskontrollen ausgestattet ist.65 Die Interaktionen dieser zellulären Bestandteile lassen die Strukturen selbst der größten menschlichen Stadt im Vergleich recht simpel aussehen. Einige Forscher etwa behaupten, dass die Mikroröhren der Zellwand (ihr Zytoskelett) über die Rechenleistung eines Computers verfügen.66 Diese lebenden Balken und Querlatten operieren auf der Basis der Regeln komplexer adaptiver Systeme. Konstruktionszentren, die man Kinetochoren nennt, erzeugen chaotisch immer neue Kanälchen. So wird Diversifizierung erreicht.
Die Kanälchen werden dabei entlang ähnlicher Linien en masse produziert, so wird wiederum ein gewisser Grad an Konformität erreicht. Jedes Kanälchen fungiert als Testsonde, die die Möglichkeiten des Zellinneren erforscht. Diese Fähigkeit, Hypothesen zu testen, ist eine Gabe der Diversität. Die Mikrokanäle, die einen Verbindungspunkt finden, erhalten intern den Befehl, sich zu verfestigen. Diejenigen, die keine Möglichkeit zum Andocken finden, werden intern angewiesen, sich selbst zu zerstören. Dieser interne Mechanismus, der den Grad der Festigkeit regelt oder dafür sorgt, dass sich ein unbrauchbares Kanälchen selbst recycelt, fungiert als Nutzensortierer. Wenn sich Mikroröhrchen an einer Position befinden, an der sie Punkte miteinander verbinden können, die für die Arbeit der Zelle wesentlich sind, werden sie zu Superstars im Zytoskelett der Zelle. Durch zellinterne ökonomische Zentren in der Nähe oder auch weiter entfernt erhalten sie Ressourcen. Einige dieser Ressourcen sind lediglich Impulse, andere sind materiell. Die Impulse, die andere zelluläre Komponenten dazu bewegen, Aktivposten in ihre Richtung zu schieben, sind Ressourcenverteiler.67
Auch die Zellen selbst agieren als Testentitäten, aber sie tun dies in ihrer Funktion als Bausteine ihres Organismus. Wie die zellinternen Mikrokanäle unterliegen miteinander wetteifernde Zellen den Regeln komplexer adaptiver Systeme. Sie untersuchen die Möglichkeiten in ihrer Umgebung und wetteifern um Verbindungen, um Baumaterialien, Treibstoff sowie um die Möglichkeit, sich selbst zu duplizieren. Das interne Turnier zwischen einzelnen Zellen hat großen Einfluss über Leben und Tod der Mikrokanäle, die selbst in einem Wettbewerb darüber standen, das Skelett eines der Turnierteilnehmer zu formen. Wenn die Zelle, in der sich die Mikrokanäle befinden, ein fötales Neuron ist und Verbindungen findet, prosperiert die Zelle und ihre Mikrokanäle überleben.68 Wenn das fötale Neuron nicht andocken kann, töten es seine internen Nutzensortierer, und die Mikrokanäle sterben mit ihr (oder werden vielmehr von biologischen Säuberungsflüssigkeiten entsorgt), ganz unabhängig davon, wie erfolgreich sie innerhalb der Zelle selbst gewesen waren. Die selben komplexen adaptiven Systemregeln organisieren das Immunsystem, Organismen, Bakterienkolonien und menschliche Gesellschaften - wie Ling zuerst zu seiner Freude und später zu seiner Enttäuschung feststellen sollte.
Ling demonstrierte mit einer Serie von beeindruckenden Experimenten, dass Pumpen nicht unbedingt an der Peripherie einer Zelle angesiedelt sein müssen.69 Das geschäftige Gewebe der inneren Zellstadt schließt etwa sehr leicht Natrium aus. Lässt man die Membranpumpentheorie fallen, kann man sich Medikamente vorstellen, die weitaus effektiver als bestehende Pharmazeutika gegen bakterielle Feinde vorgehen könnten, so jedenfalls stellte sich Ling dies vor. Bevor diese Möglichkeit aber geprüft werden konnte, fiel Ling selbst Konformitätsverstärkern zum Opfer.
Einige Würger der Kreativität des Massenbewusstseins wie Neonazis, militante Fundamentalisten und linke Parteigänger der Antiwissenschaft weisen selbst offen auf ihre Gefährlichkeit hin. Andere, die dem Fortschritt des Massenbewusstseins im Wege stehen, sind dagegen weniger leicht auszumachen. Diese verborgenen Killer kollektiven Denkens müssen ebenfalls entdeckt und gestoppt werden. Die Befürworter der Natriumpumpe begannen ein subkulturelles Gefecht, einen Kreuzzug, um das wissenschaftliche Bewusstsein zu kontrollieren. Die erste Salve wurde 1966 abgefeuert, als der an der Cambridge University arbeitende Professor der Physiologie Dr. Richard Keynes in Vorlesungen und Papieren erklärte, dass "Ling für eine größere Häresie auf diesem Gebiet verantwortlich" sei. Der Ethos der Wissenschaft kennt das Konzept der Häresie nicht, denn jedes Konzept ist eine Hypothese, die befragt, verbessert und ersetzt werden kann. Schon die Benutzung des Begriffs der Häresie impliziert, dass diejenigen, die ihn in den Mund nehmen, unter die Gürtellinie zielen, um jemanden für sein Nichteinverstandensein in Bezug auf eine Position zu bestrafen, die der eigenen Machterhaltung dient. So entstehen Inquisitionen.
Aufgeschreckt suchte Ling die offene Debatte. Seine Gegenspieler aber bevorzugten, im Dunklen zu arbeiten und die Mittel politischer Manipulation zu nutzen, anstatt ihre Ideen auf dem wissenschaftlichen Marktplatz feilzubieten. 1967 plante der Präsident der American Societies for Experimental Biology70 eine Debatte zum Jahrestreffen des Verbandes. Um ihre Reichweite zu vergrößern, sollte diese Debatte auf einer internen Fernsehanlage übertragen werden. Obwohl das Symposium erst ein Jahr später stattfinden sollte, behauptete jeder der Angreifer, er habe bereits einen anderen Termin, so Ling. Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts fühlten sich noch durch ihren Berufsethos dazu verpflichtet, auf Foren dieser Art zu erscheinen, glaubt Ling.71 Wie aber jeder weiß, der heute unkonventionelle Ideen vertritt, ist dies im späten 20. Jahrhundert nicht der Fall.72
Stattdessen wurde hinter den Kulissen eine Kampagne inszeniert, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die Lings Ansatz der Assoziation/Induktion unterstützten. 1969 las Dr. Ludwig Edelmann von der Universität des Saarlands eines der Bücher Lings73 und führte ein geniales Experiment mit den Herzmuskeln von Meerschweinchen durch, das die Theorien Lings untermauerte. Er kritisierte vorsichtig die Konzepte der Membranpumpenschule und wurde daraufhin von seinen Professoren belehrt, dass trotz seiner Ergebnisse die Membranpumpentheorie richtig und Lings Theorien entkräftet worden seien. Edelmann ignorierte diese Vorhaltungen und präsentierte seine Resultate 1972 vor einer Gruppe von Schiedsrichtern. Dort wurde die Validität seiner Ergebnisse nicht widerlegt, trotzdem wurde er 1973 entlassen. Edelmann erklärte dazu: "Einer der Teilnehmer der Sitzung schrieb mir privat einen Brief und legte mir nahe, diese fixe Idee nicht weiter zu verfolgen und mich nach einem anderen wissenschaftlichen Gebiet umzusehen."74 So war er gezwungen, von der Biophysik zur Arbeit mit Elektronenmikroskopen zu wechseln.75
1971 wurde ein Student der biophysischen Chemie an der University of Pennsylvania neugierig, als das Lingsche Alternativmodell zur Natriumpumpe in der Klasse kurz erwähnt, dann aber für den Rest des Semesters ignoriert wurde. Als er die Angelegenheit vor seinem Professor zur Sprache brachte, erklärte der Pädagoge nervös: "Wenn ich Ling erwähne, muss ich mir Vorwürfe anhören, und meine Position gerät in Gefahr. Also denke ich nicht weiter über Ling nach - ich habe Frau und Kinder. Ich kann jetzt schon kaum etwas publizieren."76
Ling wehrte sich gegen diese Unterdrückung wissenschaftlicher Originalität. 1973 wurde er in ein siebenköpfiges Gremium berufen, das aufgrund einer Anfrage des texanischen Kongressabgeordneten Bob Casey eingesetzt wurde, um die Praxis des Peer Review zu untersuchen, die von Regierungsagenturen angewandt wurde.77 (Ling zitiert etwa einen Ratgeber, den die National Institutes for Health an Bewerber für Stipendien herausgaben: "Der Autor eines Projekts soll sich umfassend über diejenigen informieren, die sein Papier lesen werden und sich diese Leser vor Augen halten, wenn er dieses Paper verfasst."78 In anderen Worten: Vergesst neue Einsichten, verhaltet euch konform.) 1975 konnte Ling vor einem Komitee des Kongresses über die Hindernisse Bericht erstatten, die seiner Arbeit in den Weg gelegt wurden.79
Einer seiner Gegner, ein Natriumpumpen-Befürworter und Koautor eines Artikels, den Ling kritisiert hatte, konnte jedoch einen weitaus folgenschwereren Schritt tun. Er übernahm 1973 den Vorsitz der Sektion für Physiologische Studien innerhalb des National Institute for Health, der Quelle von Lings Forschungsgeldern. Ling musste bald feststellen, dass die Gelder, die seine Arbeit zwanzig Jahre lang finanziert hatten, auf einen Schlag zusammengestrichen worden waren.80 Er wurde in letzter Minute von zwei Beamten der Behörde gerettet, die seine Einwände gegen dieses Vorgehen für berechtigt erachteten. Die schnell zusammengestellte Gruppe, die die Ressourcen für Lings Forschung bereitstellen sollte, war aber fragil und verfügte nicht über genügend Mittel, um Dritte zu finanzieren, die in den Fußstapfen von Ling weiterforschen wollten. Der Ressourcenverteiler hatte Anweisungen erhalten und nahm nun all das weg, was er vorher so generös angeboten hatte.
Ling war beunruhigt über "die erschreckende Macht des Zwangs", der ihm gegenüber angewandt wurde. Des weiteren erinnert er sich, dass er tief erschüttert war, "als beinahe alle meiner graduierten und postdoktoralen Studenten meine Forschung verließen." Um ihre neue Loyalität unter Beweis zu stellen, äfften später viele dieser Studenten ihre Alpha-Männchen nach und veröffentlichten Arbeiten, die sich gegen Lings Theorien richteten.81 Inzwischen wuchs die Menge an Geldmitteln ständig, die die Membranpumpenprojekte erhielten.82 Das komplexe adaptive System folgte seinem primären Diktum: "Dem, der hat, soll gegeben werden. Dem, der nichts hat, soll auch das, was er hat, genommen werden."
In einem Manöver, das dem von Frau Salt glich, als sie ihren Coup auf dem Gebiet des Perceptual Engineering in Elm Hollow durchführte, erweckten die Advokaten des Natriumpumpenmodells den Eindruck, dass es keine anderslautenden Stimmen zu ihrem Standpunkt gab. 1975 erschien ein Artikel, der vorgab, eine Reihe von Studien zu präsentieren, die die Natriumpumpentheorie entweder stützten oder hinterfragten. In diesem Artikel zitierten laut Ling "I.M. Glynn und S.J.D. Karlish vom 'Mekka' der Zellphysiologie, dem Physiologischen Labor der Cambridge University, 245 Referenzen, die allesamt die Natriumpumpenhypothese unterstützten." Sie erwähnten keines der Forschungsergebnisse, die dagegen sprachen.83 Ling zog folgenden Schluss: "Dokument für Dokument wurden die experimentellen Beweisführungen gegen die Natriumpumpenhypothese so dargestellt, als hätten sie nie existiert. So wurde auch mit der Identität der Wissenschaftler verfahren, die diese kritischen Beiträge verfasst hatten."84 Indem sie eine Illusion wissenschaftlicher Einstimmigkeit projizierte, schüchterte die Natriumpumpenfraktion diejenigen ein, die unter Umständen kritische Einwände gegen die Theorie äußern würden. Es herrschte ängstliches Schweigen, und diese Strategie funktionierte laut Ling so gut, dass im Laufe der folgenden Jahre "sechs prominente Fachjournale und Symposien ihren vertrauensvollen Lesern einstimmig nur eine Version der Geschichte präsentierten und alle Arbeiten verschwiegen, die die andere Seite der Studien aufzeigen konnten."85
Parallel zu dieser Knebelung der Redefreiheit wurde der Geldhahn für zusätzliche alternative Forschungen weiter zugedreht. Die Teilnehmer eines einzigen Pro-Natriumpumpen-Symposiums erhielten dagegen etwa 44 Forschungsstipendien des National Institute for Health, um damit ihre Arbeit finanzieren zu können, die das Modell stützte. Trotz circa 200 Aufsätzen und anderen publizierten Arbeiten, die seine Position fundierten, war Ling zu einer Nicht-Entität geworden.86
Das sollte eigentlich der schlimmste Teil der Geschichte gewesen sein, aber das ist es nie - dank der Nutzensortierer, der internen emotionalen und biologischen Schließungsmechanismen, die uns den sicheren Halt nehmen, wenn die Signale des sozialen Tiers, in dem wir leben, uns deutlich machen, dass wir nicht länger gebraucht werden. In Lings Worten blieb nur eine kleine Zahl von wissenschaftlichen Unterstützern "standhaft, und sie bezahlten dafür oft mit dem Preis persönlicher Entbehrungen. Am 10. Oktober 1982 nahm sich Dr. Freeman Cope auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Kreativität das Leben."
1988 musste Ling sein Labor am Pennsylvania Hospital schließen und wurde zum wissenschaftlichen Flüchtling.87 Tatsächlich hatte er dabei aber noch mehr Glück als andere. Seine "kleine Gruppe von drei" - er selbst sowie zwei Kollegen, die trotz aller Schwierigkeiten an ihrem Forschungsprogramm festhielten - wanderten zu einem weiteren Arbeitsplatz. Aufgrund seiner Rolle in der Entwicklung des Bilderzeugungsverfahrens der Nuklearen Magnetischen Resonanz wurde Ling ein Hafen im Hauptquartier der Fonar Corporation angeboten. Fonar stellte NMR-Geräte her und wurde von Dr. Raymond Damadian88 geleitet, der das Ganzkörperscanning mittels NMR erfunden hatte. Der Preisträger eines National Technology Awards hatte außerdem eine Zelltheorie entwickelt, die Lings Theorie ergänzt und ebenfalls die Theorie der Natriumpumpe ablehnt.89
Obwohl Ling oft dazu gezwungen war, Chemikalien und Labortiere aus eigener Tasche zu bezahlen, erlaubte ihm seine Isolation vom wissenschaftlichen Mainstream, eine mathematische Erweiterung seiner Theorien auszuarbeiten und seine Forschungen über die zellulären Mechanismen von Krebs sowie der Aktivitäten von Medikamenten fortzuführen.90 Fonar konnte sich jedoch kein vollständiges Forschungsprogramm leisten, mit dem man eine neue Generation von Wissenschaftlern hätte ausbilden können, um neue Entdeckungen voranzutreiben. Ling fuhr fort, von 1966 bis 1997 insgesamt 100 neue Studien zu publizieren, die jedoch zunehmend nur noch in seinem eigenen Journal 'Physiological Chemistry and Physics and Medical NMR' erschienen. Lings Hauptkontakt mit der Öffentlichkeit beschränkte sich auf eine Website.
In China hatte Ling die Werte der westlichen Wissenschaft erlernt. Heute sagt er: "Es ist außerordentlich schmerzlich mit anzusehen, wie der große Beitrag des Westens an der menschlichen Zivilisation durch einige hochrespektierte Mitglieder der Scientific Community in den Dreck gezogen wird."91 Um mit Ling einer Meinung zu sein, musste man sich in die eigenen vier Wände zurückziehen, und die Fensterläden fest verschließen. Das Kidnapping des wissenschaftlichen Massenbewusstseins war komplett.
In seiner Jugend hatte Ling von den Axonen des globalen Gehirns profitiert, die sich durch China, Rußland, Deutschland, England, Amerika und alle dazwischenliegenden Punkte zogen. Dies war nicht länger das träge kollektive Bewusstsein, das sich über Millionen Jahre hinweg an den gleichen Steinwerkzeugen festgehalten hatte, bevor es zu einem größeren Wandel kam. Vielmehr fanden Veränderungen innerhalb von Generationen und Dekaden statt oder konnten wie im Falle der Kehrtwendung, die Ling zu einem Pariah machte, in wenigen Tagen über Kontinente rasen. Aber abgesehen von den technologischen Veränderungen, beginnend mit der Muskelkraft bis hin zu Flugzeugen und Modems, blieben die darunter liegenden Mechanismen die selben. Die Biologie hatte bereits vor langer Zeit das globale Gehirn der Menschheit verknüpft. Das Ergebnis ist ein planetarer Geist, der auch in seiner höchsten Form von Irrationalitäten korrumpiert wird.
Ling, der einem internen Turnier dieses Gehirns zum Opfer fiel, behauptet, dass seine Niederlage uns in einem größeren Turnier behindern wird - nämlich dem Kampf zwischen resistenten Bakterien und Viren gegen die Menschen. Wenn neue Stämme des Mycobacterium tuberculosis, des Streptococcus pneumoniae, des Staphylococcus aureus, der vancomycinresistenten Enterokokken92 und HIV entstehen, könnte dieser Kampf zwischen dem globalen Mikrobengehirn und dem unseren zum großen Krieg des 21. Jahrhunderts werden.93 Und damit könnten sich Lings Ideen, die heute noch unterdrückt werden, als eine notwendige Waffe herausstellen.
Egal ob Lings Theorien richtig sind oder diejenigen seiner Gegner: Letztendlich basiert jeder Glaube, jedes Individuum, jede Clique oder Bewegung und jede Nation auf Hypothesen in einem größeren Prozess des Denkens. Durch das Zusammenspiel der Hypothesen - ihre Kämpfe, Vergewaltigungen und ihre bastardisierten Nachkommen - wächst und lernt das Massenbewusstsein, auch wenn es dabei manchmal die falsche Richtung einschlägt.