Die Wissenskluft wird größer

Die UNESCO sucht auf einer Weltkonferenz über das Wissen nach einer Lösung

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Die Ansichten darüber sind geteilt, ob die neuen Kommunikationsmittel, insbesondere natürlich das Internet, die Kluft zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern verstärken oder durch die prinzipiell leichtere Verfügbarkeit von Wissen überwinden helfen. Es bestehen jedoch Hoffnungen, daß der Wissenstransfer durch das Internet erleichtert werden kann, wenn die Weltgemeinschaft sich dies zu ihrem Ziel macht. Die von der UNESCO geplante Weltkonferenz über das Wissen strebt jedenfalls eine solche politische Agenda an.

Auch der World Development Report 98/99 der Weltbank hat diesmal das Wissen in das Zentrum gestellt und will dazu anregen, die noch bestehende "Wissenskluft" zwischen den reichen und den armen Ländern zu schließen. Die reichen Ländern würden allerdings durch ihre hohen Forschungs- und Entwicklungsausgaben die Wissensfront immer weiter und schneller nach vorne zu schieben, um an der Spitze zu bleiben. Neben dem Problem des Zugangs zum Wissen gibt es vor allem die ungleich verteilte Chance, Wissen zu produzieren, denn dies ist ein industrieller Rohstoff, der teuer ist und zur Voraussetzung eine Bevölkerung mit hohem Ausbildungsgrad hat. Wissen ist jedenfalls zur wichtigsten Produktivkraft geworden

"Für die Länder an der Spitze der Weltwirtschaft hat sich das Verhältnis zwischen Wissen und Ressourcen so stark zu ersterem hin verschoben, daß Wissen zum wichtigsten Faktor wurde, der den Lebensstandard bedingt - mehr als Land, Maschinen und Arbeit. Heute sind die technisch am weitesten fortgeschrittenen Länder wissensbasiert. Und wenn sie neuen Reichtum aus ihren Innovationen erzeugen, schaffen sie gleichzeitig auch Millionen von wissensbasierten Arbeitsplätzen in einem Netz an Disziplinen, das über Nacht entstanden ist: Wissensingenieure, Wissensmanager, Wissenskoordinatoren."

Mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts in den OECD-Ländern basiere bereits auf der Produktion und Verteilung von Wissen, und die Hälfte der am schnellsten wachsenden US-Unternehmen sind "Wissensunternehmen", die das Wissen und das Können ihrer Angestellten verkaufen.

Wissen aber ist nicht nur für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes wichtig und Grundlage für den Wohlstand seiner Bevölkerung, sondern Wissen ist auch der Schlüssel, um einen zukunftsfähigen Umgang mit der Natur zu ermöglichen. Obgleich die Autoren des Berichts darauf hinweisen, daß durch das Sinken der Telekommunikationskosten die Möglichkeiten gut seien, viel mehr Menschen einen Zugang zu den globalen Wissensressourcen zu ermöglichen, betonen sie jedoch auch die Gefahr, daß durch die Privatisierung und Kommerzialisierung des Wissens, also etwa durch Patente und stärkere Schutzmechanismen des geistigen Eigentums, der Zugang zum Wissen für ärmere Länder noch schwieriger werden kann.

Bislang zumindest, so Mohamed Hassan von der Third World Academy of Sciences, vergrößere sich die Wissenskluft zwischen den "wissenschaftsreichen" Ländern des Nordens und den "wissenschaftsarmen" Ländern des Südens. Im Norden produzieren 20 Prozent der Weltbevölkerung mehr als 90 Prozent des Wissens, während die restlichen 80 Prozent weniger als 10 Prozent dazu beitragen. Auch zu den weltweiten jährlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 470 Milliarden US-Dollar trägt der Süden nur 10 Prozent bei, wodurch der Abstand sich laufend vergrößert. Der Anteil an der Wissensproduktion schlägt sich unmittelbar im Wohlstand der Bevölkerung nieder. Die reichsten 20 Prozent haben ein Anteil von 85 Prozent am weltweiten Einkommen. Damit liegt ihr Einkommen 60 Mal höher als das der ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung. Es gebe auch allein deswegen schon Sorgen, so Hassan, weil vor allem die am wenigsten entwickelten Ländern eine extreme Knappheit an Wissenschaftlern haben, die sich den drängenden Umwelt- und Versorgungsproblemen zuwenden könnten. Umweltprobleme aber würden gerade eine globale Zusammenarbeit und damit auch eine Teilung des Wissens verlangen, um sie lösen zu können und so ein "wirklich gleichberechtigtes und vorhaltendes global village" zu schaffen

Auch Hassan sieht die Chance, die Wissenskluft durch die modernen Informationstechnologien schließen zu können. Mit dem Internet und via Email lassen sich Informationen schnell mitteilen. Dadurch könnten auch isolierte Wissenschaftler im Süden an der wissenschaftlichen Gemeinschaft teilhaben, sich stets auf der Höhe des Wissens halten und virtuelle Forschungsteams miteinander und mit Kollegen aus dem Norden bilden. Schon allein der Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen scheitert oft am Geld, das auch die Universitäten nicht haben. Das Third World Network of Scientific Organizations versucht daher bereits, wissenschaftliche Institutionen verschiedener Regionen und Länder zu verbinden, um zu kooperieren, Wissen auszutauschen und Ausbildungsprogramme für Wissenschaftler und Studenten aus armen Regionen und Ländern durchzuführen. Auch die Weltbank will den Aufbau sogenannter Millennium-Institute in Entwicklungsländern im Rahmen ihrer wissensbasierten Wirtschaftspolitik fördern. Um den Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen zu erleichtern und selbst besser publizieren zu können, gibt es auch bereits einige Initiativen für Web-Veröffentlichungen. Ein Beispiel ist die High Wire Press, eine nicht-kommerzielle Organisation der Stanford University. Mit vielen führenden Wissenschaftspublikationen wurden reduzierte Subskriptionspreise für Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 9000 US-Dollar vereinbart. Das britische Institut of Physics bietet afrikanischen wissenschaftlichen Institutionen zu seinen Online-Publikationen einen kostenlosen Zugang.

Tatsächlich wächst die Benutzung des Internet in Entwicklungsländern gegenwärtig schneller als in anderen Ländern. Die Zahl der Internetbenutzer in Lateinamerika, Afrika und Ost- sowie Zentraleuropa soll in diesem Jahr von 7,6 Millionen auf 25,6 Millionen zunehmen, die der Internetbenutzer im asiatisch-pazifischen Raum von 6,5 Millionen auf 30 Millionen. Länder, deren Komunikationsinfrastruktur bislang weit hinter der der Industrieländer zurückgeblieben ist, auch einen Vorteil. Sie müssen nämlich nicht etwa ein altes Telefonnetz kostspielig erneuern, sondern können gleich wie etwa Gambia die neuesten Glasfasernetze legen. Dank der Liberalisierung der Telefonmonopole und von kommerziellen Betreibern, die sich in Entwicklungsländern niederlassen, wird der Ausbau einer schnellen Kommunikationsinfrastruktur erschwinglich. So soll beispielsweise ein 39000 Kilometer langes Glasfasernetz im Meer für 1,6 Milliarden US-Dollar von der International Telecommunications Union in Zusammenarbeit mit 30 afrikanischen Ländern und Unternehmen wie British Telecom oder AT&T um ganz Afrika herum verlegt werden.

Um Strategien zu finden, die "Wissenskluft" abzubauen, veranstaltet die UNESCO in Zusammenarbeit mit dem International Council for Science vom 26. Juni bis 1. Juli die World Conference on Science in Budapest. Ziel soll es sein, einen neuen globalen "Wissensvertrag" zu schließen, durch den sich alle beteiligten Parteien - und vor allem die Regierungen - konkrete Zielsetzungen geben sollen, um die Zukunft der Wissenschaft zu sichern. Federico Mayor, der Generaldirektor der UNESCO, schreibt, daß die gegenwärtige Infragestellung des wissenschaftlich induzierten Wandels der fundamentalste Wahrnehmungswechsel hinsichtlich der Rolle der Wissenschaft seit der Aufklärung im 17. Jahrhundert sei. Klarer als jemals sei es, daß man Wissenschaft benötige, um auf die Komplexität der Welt, beispielsweise auf die Klimaveränderung, reagieren zu können, gleichzeitig sei die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem Fortschritt niemals problematischer gewesen.

Eines der großen Probleme sieht denn Mayor in der "Privatisierung der Wissenschaft", obgleich die Grundlagen der gegenwärtig prosperierenden Informations- und Biotechnologien durch Forschung in Institutionen gelegt wurde, die mit öffentlichem Geld finanziert wurden. Ziehen sich die Staaten noch mehr aus der Förderung der Grundlagenforschung zurück oder wird durch die Privatisierung der freie Fluß wissenschaftlicher Erkenntnis weiter eingeschränkt, so bestehe die Gefahr, daß die Probleme, mit denen sich die Menschheit konfrontiert sieht, nicht angemessen gelöst werden können: "Die Welt kann es sich nicht leisten, die öffentlichen - und von der Öffentlichkeit inspirierten - Grundlagen der Wissenschaft zu verlieren, ohne ihr eigenes Überleben zu gefährden. Die meisten der wichtigen gesellschaftlichen Probleme benötigen heute zur Lösung wissenschaftlichen Input, und sie sind, vom Verlust der globalen Biodiversität bis hin zu neuen Krankheiten, globale Probleme. Doch globale Lösungen werden nicht als zufällige Spin-Offs aus einer Forschung entstehen, die ausschließlich auf Profit oder Prestige orientiert ist." Auch der Markt werde dies nicht allein durch die Nachfrage der Konsumenten lösen, denn viele Stimmen werden heute nicht gehört. Auch wenn der Profit heute die wissenschaftliche Aktivität vornehmlich motiviere, dürfe diese Orientierung nicht die Entwicklungs- und Forschungspolitik steuern.

Die Vorbereitungsgruppe fürchtet, daß durch die Forschungsfinanzierung die Wissenschaftler auf kurzfristige und kleine Problemlösungen gedrängt werden, während wir vielmehr langfristige und globale Prozesse besser verstehen müßten. Verantwortlich dafür eben sei die zunehmend privatwirtschaftliche Finanzierung der Forschung. So müsse man das Ernährungsproblem in der Landwirtschaft der Dritten Welt nicht nur als Produktionsproblem verstehen, dem man mit neuen, gentechnisch manipulierten Pflanzen und Tieren begegnet, sondern eben auch als gesellschaftliches Verteilungsproblem. Westliche Unternehmen würde häufig auch die natürlichen Ressourcen der armen Länder ausbeuten, für sich patentieren und keine angemessene Entschädigung leisten. Mit aus Pflanzen, die von Einheimischen der Dritten Welt entdeckt wurden, gewonnenen medizinischen Produkten erzielte man bereits 1990 weltweit Umsätze von über 40 Milliarden US-Dollar. Und überhaupt müssten Wissenschaft und Forschung sich stärker ihrer gesellschaftlichen und globalen Verantwortung bewußt sein und besser auf gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren. Wie aber eine Grundlage für die Wissenschaft des nächsten Jahrhunderts gelegt werden könne, in der "gesellschaftliche Bedürfnisse, Marktkräfte und ethische Überlegungen" ihren Platz finden und die dann auch tatsächlich nicht bloß eine schöne Forderung bleibt, ist offenbar noch ausgearbeitet worden - und vermutlich auch kaum zu leisten.

Selbst die Weltbank, die lange Zeit vornehmlich den freien Handel vertreten hat, sieht einen Grund für die sich weitende Wissenskluft in der seit einiger Zeit betriebenen Verschärfung der Rechte auf geistiges Eigentum, die den Produzenten des Wissens mehr Macht zuschaufeln. Gerade die schwindelerregende Zunahme des Wissens bringe die Gefahr mit sich, daß die Entwicklungsländer immer weiter zurückfallen. Man müsse hinsichtlich der Rechte auf geistiges Eigentum als Anreiz zur Produktion neuen Wissens und den Möglichkeiten, dieses zu kommunizieren, ein neues Gleichgewicht finden. Zu strenge Restriktionen von Patenten könnten gerade darauf aufbauende Innovationen verhindern, zumal wenn Patente nicht nur Produkte, sondern weite Bereiche der Technik, insbesondere in der Biotechnologie, einbegreifen. Nicht nur vermarktbare Produkte, sondern auch Forschungsmethoden werden so für neue Ansätze und Firmen unzugänglich. Überdies seien oft die "gesellschaftlichen Gewinne" viel größer als diejenigen der Investoren, weswegen gerade die Regierungen verantwortlich dafür seien, Forschung zu unterstützen oder der Privatwirtschaft Anreize zu geben.

Doch trotz aller Mahnungen scheint derzeit der Trend in die Richtung zu gehen, die Kommerzialisierung des Wissens eher zu erweitern und so die Wissenskluft zu verstärken. Im Bereich der Software sind Open Source und Freeware Möglichkeiten, ein Allgemeininteresse der Menschen jenseits der Vermarktung zu wahren. Öffentlich geförderte Wissenschaft sollte ebenso diese Tradition wahren. Ohne einen öffentlichen, nicht von außen reglementierten Diskurs wäre Wissenschaft schließlich auch nicht entstanden - und dieser war neben allen Innovationen und Erkenntnissen einer der wichtigsten Beiträge der Wissenschaft zur Aufklärung. Heute ist nur an die Stelle der Religion oder Ideologie der Markt gerückt.