Die Wohnungsfrage, neu gestellt
Vorfertigung und Typisierung als Aufgabe einer bezahlbaren und humanen Architektur
Der Wiener Kaffeehausliterat Anton Kuh übersiedelte 1926 nach Berlin mit der Begründung, er wolle lieber "in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern" leben. Krems, siebzig Kilometer donauaufwärts vor Wien gelegen, galt als Provinz, und unter Provinzlern wollte der Intellektuelle nicht sein. Das war die Zeit, als man in Wien noch in die Innere Stadt, anderswo in die Altstadt ging. Das neunzehnte Jahrhundert mit seiner Hauptstadt Paris lebte noch fort in den Köpfen, die Vorstellung von der Straße als Roman, die Balzac und Dickens populär gemacht hatten, war nicht vergessen.
Heute heißt die Stadt City, sie ist ein "Tummelplatz mit Großstadtgefühl für den Großraum der Region", Vororte und Kleinstädte in ihrer Umgebung werden zu "Zonen der Regeneration" herabgestuft, weil die City kein Leben neben sich duldet. Meint zumindest Hannelore Schlaffer in ihrer essayistischen Ortsbegehung Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt.. Das mag zwar recht vorurteilsvoll erscheinen; aber es benennt, wenn auch eigenwillig, ein Faktum.
Ein ganze Reihe von deutschen Metropolen verfügen derzeit über ein rasantes Bevölkerungswachstum In den Top Seven zeichnen sich gegenwärtig enorme Zuwachsraten ab. Während Berlin und Hamburg jährlich zwischen 2 und 2,5 Prozent Wachstum aufweisen, müssen Frankfurt am Main 4,3 und München gar 7,5 Prozent verkraften.1 Einer der Hauptfaktoren für den starken Zuzug begründet sich in der gewachsenen Lebensqualität der Städte. Attraktive Grünräume, beste Voraussetzungen für Ausbildung, Studium oder Arbeit, ein breites Kulturangebot gepaart mit einer leistungsfähigen Infrastruktur und nicht zuletzt der Zeitgeist führen zur Aufwertung des Lebensraums Stadt und einer regelrechten Renaissance der Innenstädte.
Konkret bedeutet dies etwa für Berlin einen Zuzug von 40.000 Einwohnern pro Jahr und damit ein Mehr von 15.000 Einzelhaushalten. Und deshalb nimmt es nicht Wunder, wenn der Bedarf an Wohnraum in den deutschen Ballungsräumen erheblich über dem Ist-Zustand liegt. Mit anderen Worten: Es fehlt, quantitativ wie qualitativ, an entsprechenden Wohnungsangeboten.
Und als wäre dies nicht schon hinreichend herausfordernd, kommt aktuell und absehbar auch noch die Flüchtlingsproblematik hinzu. Man muss sich darauf einstellen, dass viele der Asylsuchenden und Migranten dauerhaft in Deutschland bleiben. Eine gewaltige Herausforderungen, weil sowohl die Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt geleistet, als auch ausreichend Wohnraum bereitgestellt werden muss. Gerade da liegt es aber im Argen. Weswegen wohnungsmarktpolitische Eingriffe unabdingbar sein werden, um die Situation beherrschbar zu machen.
Der Kanon reicht von einer systematischen Erfassung der leerstehenden Wohnungen (beispielsweise gab es einst eine Meldepflicht für unbelegten Wohnraum), über nachdrücklichere Strategien zur Wohnraumerhaltung (etwa Zweckentfremdungs- und Abrissverbote) bis hin zu aktiveren Formen der Wohnraumgewinnung (so sieht ein aktueller Gesetzentwurf der Bundesregierung bestimmte, zeitlich befristete Lockerungen der Vorschriften beim Bau der Flüchtlingsunterkünfte vor).
Einen ganz anderen Ansatz hat unlängst die Architektenkammer Hessen ins Spiel gebracht: Flüchtlingsunterkünfte könnten in Modulbauweise aus Holz errichtet, die konkreten Planungen dafür in einem zentralen Architekturwettbewerb gefunden werden. Derartige Gebäude seien nicht nur ein städtebaulicher Gewinn, sondern auch auf Dauer wirtschaftlicher als Container und Zelte; zudem könnten attraktive Holzhäuser ein "Signal der Willkommenskultur" darstellen.
Tatsächlich braucht es heute genau solche Initiativen. Das Wohnungsproblem ist mittlerweile vielerorts so virulent, dass wir erneut über die Produktionsbedingungen von Architektur nachdenken müssen. Gefragt ist ein Erfinder- und Tüftlergeist, mit dem das Bauen, aus der handwerklichen Tradition heraus, gleichsam in die Fabrikproduktion und schnelle Montage überführt werden kann. Wie es etwa Konrad Wachsmann mit seinem legendären Buch "Wendepunkt im Bauen" vor gut 50 Jahren gefordert (in Teilen auch vorgemacht) hat.
Wohnungsfrage ist kein neues Thema
Blickt man auf das letzte Zentenarium zurück, so stellt man fest, dass in dessen höchst unterschiedlichen Phasen das Schreckgespenst "Wohnungsnot" immer wieder an die Wand gemalt wurde. Denn so drängend die derzeitigen Probleme auch sein mögen, neu und einzigartig sind sie nicht. Viele Akteure und Strömungen mussten unter dem Druck der Verhältnisse bereits mehrmals darauf hinarbeiten, Behausungen in ausreichender Menge und zu erschwinglichen Kosten verfügbar zu machen: Politiker und Parteien (zur Legitimation ihrer selbst), die (Bau)Industrie (weil sich mit solchen Modernisierungsimpulsen Geld machen und die Voraussetzung für künftige Absatzmärkte schaffen ließ) und weite Kreise der Bevölkerung (aus naheliegenden Gründen). Und die Avantgarde hatte ohnehin vor, sich des Themas zu bemächtigen:
Sie zettelte, wohl mit gutem Grund, jene Rebellion gegen das Althergebrachte an, die noch heute so nachhaltig weiterwirkt. Gerade die fortschrittlichen Architekten in den 20er Jahren wollten die Welt, so wie sie ist, zunächst einmal ungeschminkt zur Kenntnis nehmen, um sie dann zu verändern. Rationalisierung war für sie Mittel zum Zweck. Richtig ist, dass die Avantgarde das Aufziehen einer industriellen Massenkultur ausdrücklich begrüßt hat. Und genauso stimmt es, dass sie in ihrer gestalterischen Umsetzung nur bedingt erfolgreich war.
Unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg hatte sich die Wohnungsfrage mit Vehemenz artikuliert. Mehr und mehr machte sich die Einsicht breit, dass mit handwerksbetonten Standards und Methoden keinesfalls die anstehenden quantitativen Probleme zu lösen sein würden. Die Forderung nach der Industrialisierung des Bauens und, damit einhergehend, der Typisierung von Gebäuden lag demnach nahe. Sie gehörte zum theoretischen Anfangsbestand des Wohnungs- und somit des Städtebaus in der Ära der Moderne. Allerdings: In kaum einem Sektor klafften Anspruch und Wirklichkeit derart auseinander wie in dem des Bauwesens
Bemerkenswerter Weise ist hundert Jahre später die Situation gar nicht so unähnlich. Denn so rasant Gebäudehüllen oder technische Ausrüstung sich auch verändert haben mögen, einen Einfluss auf den Prozess der Herstellung von Wohnbauten übten sie kaum aus. Die Fabrikation von Häusern erfolgt auch heute meist noch altbacken, indem die Konstruktion direkt auf der Baustelle (als Mauerwerk oder in Ortbetonbauweise) erstellt wird. Neubauten werden für gewöhnlich als Unikate geplant und erzeugt. Vorgefertigte Bauteile kommen in großen Stückzahlen allenfalls vereinzelt zum Einsatz. Selbst Fenster oder Aufzüge werden zumeist individuell für die jeweilige Baumaßnahme in ihren Abmessungen hergestellt. Auch beim Innenausbau von Wohnungen sieht es kaum besser aus.
Die Folge: Der geringe Grad der Standardisierung erschwert während des gesamten Lebenszyklus spätere Modernisierungsmaßnahmen, da für jedes Projekt wiederum maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln sind. Dabei weiß man doch eigentlich aus anderen Wirtschaftszweigen - dem Automobilbau, der Möbelherstellung oder der Textilindustrie -, dass die Produktion von gleichartigen Großserien oder die werkseitige Vorinstallation Vorteile generiert; und zwar sowohl finanziell als auch qualitativ.
All das heißt beileibe nicht, nun wieder klotzige Mietskasernen, Plattenbauten oder Arbeiterschließfächer in die Landschaft zu stellen. Insbesondere in der DDR hat keine Facette das Bild des Bauens so geprägt wie die "Platte". Sie ist zum - heute stigmatisierten - Inbegriff für eine Rationalisierungsmanie geworden.2
Offene Bausysteme mit industrieller Grundstruktur
Im Gegenteil, man muss die Zuschreibung, dass Vorfertigung in der Architektur in "Vermassung und Uniformität" münde, durch bildhafte, überzeugende Lösungen konterkarieren. Die neuen Schulen in Modulbauweise in Freiham (Wulf Architekten) oder die Erweiterung der Europäischen Schule in Frankfurt am Main (NKBAK Architekten) etwa, das achtgeschossiges Wohngebäude H8 (Schankula Architekten) in Bad Aibling oder das Projekt "Wohnen an der Barnimkante" (architekten 24) in Berlin illustrieren, dass das geht, ohne baukulturelle Ansprüche ad acta zu legen.
Es ist möglich und nötig, preiswerte und nachhaltige Systembauweisen mit industrieller Grundstruktur zu entwickeln, die architektonischen und stadträumlichen Kriterien dezidiert standhalten, zudem die gesamten Lebenszykluskosten einbeziehen. Der Einsatz intelligenter, adaptiver Haustechniksysteme - vorkonfektioniert, reversibel, bauteilintegriert - muss dem Prinzip der Trennung von Roh- und Ausbaustrukturen folgen. Just-in-time-Prozesse erleichtern die Logistik, etwa bei Baulückenschließungen; Kosten können vor Baubeginn exakter ermittelt werden. Ökonomisch unvertretbar freilich ist, dass beispielgebende Projekte Einzelfälle bleiben, die geleistete Entwicklungsarbeit in den seltensten Fällen weitergeführt wird.
Offene Bausysteme erlauben durchaus die Verknüpfung unterschiedlicher Materialien und differenter Elemente, um anspruchsvolle Architektur zu generieren. Hinsichtlich der Nachhaltigkeit (auch) im kostengünstigen Bauen müssen jedoch bereits im Entwurf spätere Nutzungsanpassungen antizipiert werden. Allerdings setzt das vernetztes Denken und Planen voraus.
Augenscheinlich bewirkt die Fülle von Vorschriften, verstreuten Innovationen und neuen Materialien, dass Architekten und Bauherren in der Regel auf bewährte Bauverfahren zurückgreifen; am liebsten in Ortbeton. Folge ist die immer stärkere Spezialisierung der Planer mit der Gefahr einer fehlenden objektiven Einschätzung hinsichtlich von Alternativen. Die Potentiale des Holzbaus etwa werden nach wie vor unterbewertet.
Wenn man die alte Devise "Der Markt ist eine schlechter Meister, aber ein guter Diener" ernst nimmt, dann sollte sich ein aufgeklärter Staat hier doch mit Erfolg des Marktes bedienen. Das setzt freilich ‚smart governance‘ voraus, die bei Fehlentwicklungen rechtzeitig gegensteuert - und bei unerwartetem Erfolg die Ansprüche erhöht. Ausreichende Verfügbarkeit von Wohnungen bestimmt wie kaum ein anderes Architektur-Thema das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dabei stehen die Tatsache, dass Hunderttausende von erschwinglichen Wohnungen fehlen, und die Geschichte der seriellen Bauproduktion in einem inhärenten Zusammenhang. Gleichwohl, man sollte sich von den teils ernüchternden historischen Erfahrungen nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern die Herausforderung annehmen und das Beste daraus machen.
Die damit verbundenen Probleme darf man nicht kleinreden. Es mag ja sein, dass es unter dem Motto "Mut zur Masse" wirklich ans Eingemachte geht. Denn wer sich für Typisierung als Behausungsmodell entscheidet, senkt unter Umständen die Individualitätsansprüche der Bewohner ab, oder er muss andere Formen für deren Entfaltung finden. Dies zu erproben und damit das Moderne-Projekt des industriellen Bauens in eine nächste, höhere Realisierungsphase zu überführen, wäre in der Tat radikal. Und deshalb wohl auch ein erstrebenswertes Ziel.
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