Die Zahl der Arbeitslosen als politisches Konstrukt
Was die amtliche Statistik abbildet, ist eine Frage der Definition und Ausgrenzung
Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein drängendes gesellschaftliches Problem, sondern statistisch gesehen auch eine Definitionsfrage, mit der sich die Politik je nach Gusto ihre eigenen Arbeitslosenzahlen basteln kann. So ändert die Bundesagentur für Arbeit jetzt im Zuge einer gesetzlichen Regelung der Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ab Mai ihre Zählweise: Arbeitslose, die von der Arbeitsagentur an externe Träger zur Betreuung und Vermittlung weitergereicht werden, tauchen nun nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auf.
Im April 2009 befanden sich rund 200.000 Arbeitslose in der „Obhut“ dieser externen Träger - private Firmen, die praktisch die Arbeit der Bundesagentur übernehmen. Durch die neue Zählweise können nun jeden Monat mehrere zehntausend dorthin überwiesene Arbeitslose aus der Statistik verschwinden – im Mai 2009 waren es zwischen 12.000 und 20.0000 -, was der Politik im Wahljahr 2009 nicht ungelegen kommt. „Bundesagentur frisiert ab sofort Arbeitslosenstatistik“, titelte dann auch die „Financial Times Deutschland“, was von der Bundesagentur natürlich sofort zurückgewiesen wurde. Doch auch das hauseigene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kritisierte die neue Zählweise, die nicht für Klarheit der Statistik sorge. „Die Arbeitslosenstatistik sollte offen legen, wie viele Menschen tatsächlich ein Beschäftigungsproblem haben“, so das IAB.
Dies tut die Arbeitslosenstatistik aber eben nur bedingt, sie ist keine naturwissenschaftliche Größe, sondern eine politisch instrumentalisierbare Zahl. So verändern gesetzliche Regelungen von je her die Definition von Arbeitslosigkeit und damit die Zahl der Arbeitslosen, meist in beschönigender Weise.
Dazu eine kleine Chronik: Durch eine Gesetzesänderung im Januar 1986 mussten 58-jährige und ältere Arbeitslose nicht mehr jede zumutbare Beschäftigung annehmen, wegen „fehlender Verfügbarkeit“ für den Arbeitsmarkt flogen sie aus der Statistik. Gleiches galt für jene, die wegen der Erziehung und Betreuung eines Kindes nicht zur Verfügung standen. Ab März 1989 wurden Arbeitslose, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, für die Dauer von drei Monaten nicht mehr gezählt. Ab Oktober 1990 verschwinden die Bezieher von Altersübergangsgeld aus der Statistik, ab August 1992 die Asylbewerber. Ab Mitte 1994 werden die Empfänger von Arbeitslosenhilfe nicht mehr als Arbeitslose gezählt, wenn sie eine gemeinnützige Arbeit (die heutigen Ein-Euro-Jobs) ausüben. Ab Januar 2004 gelten die Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, darunter auch Teilnehmer an Trainings- und Eingliederungsmaßnahmen nicht mehr als arbeitslos.
Ab Januar 2005 trat das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, besser bekannt als Hartz IV, in Kraft. Durch dieses Gesetz wurden Arbeitslose mit Leistungsanspruch und arbeitsfähige Bezieher von Sozialhilfe in einen Topf gesteckt. Dadurch wurde die statistischen Angaben über Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger grundlegend und dramatisch verändert und sind seitdem nicht mehr mit den Zahlen von vor 2005 vergleichbar. So reduzierte sich die Zahl der Bezieher von Sozialhilfe im engeren Sinne („Hilfe zum Lebensunterhalt“) von 2,9 Millionen vor 2005 auf rund 82.000. Dafür wuchs entsprechend die Zahl der Arbeitslosen.
Wie viele Arbeitslose durch diese Reihe an gesetzlichen Änderungen aus der amtlichen Statistik verschwinden, darüber brachte 2008 eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag Aufklärung. Danach tauchten 2007 rund 3,2 Millionen Personen, die Arbeitslosengeld bezogen, in der Statistik nicht auf. Darunter befanden sich zum Beispiel die 225.000 Arbeitslosen, die von der (inzwischen ausgelaufenen) 58-Regelung profitierten. 60.000 Bezieher des Arbeitslosengeldes I wurden wegen Krankheit oder Teilnahme an einer Maßnahme nicht gezählt. Von den Beziehern des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV), seien 54 Prozent oder 2,85 Millionen Personen nicht als arbeitslos geführt worden. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Ein-Euro-Jobber, um Teilnehmer in Maßnahmen, um Kranke und um sogenannte „Aufstocker“ – Menschen, die von ihrer Erwerbstätigkeit nicht leben können und zusätzlich Geld nach Hartz IV bekommen.
Zu diesen so nicht gezählten Arbeitslosen kommt im übrigen noch die sogenannte „stille Reserve“: Menschen, die erwerbsbereit sind, sich aber nicht arbeitslos oder arbeitssuchend melden, etwa aus Resignation. Das Nürnberger IAB schätzt deren Zahl auf 1,15 Millionen.
Doch trotz all dieser in der amtlichen Statistik nicht auftauchenden Arbeitslosen hält das IAB die deutsche Arbeitslosenstatistik im internationalen Vergleich noch für sehr transparent. So wiesen die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit immerhin mehr Arbeitslose aus als die Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). In Ländern wie Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden oder Schweden sei es umgekehrt, dort lägen die offiziellen Zahlen um bis zu 45 Prozent unter den ILO-Angaben. Eine Ursache der dortigen niedrigen Arbeitslosenzahlen, so die IAB-Forscher, läge in dem hohen Anteil an Beziehern von Erwerbsunfähigkeitsrenten. Deren Anteil liegt beispielsweise in den Niederlanden bei rund acht Prozent, in Großbritannien bei rund sieben Prozent, in Deutschland aber nur bei drei Prozent aller Personen im erwerbsfähigen Alter.
„Würde man die strengere deutsche Definition von Erwerbsfähigkeit in diesen Ländern anwenden, wäre ein beträchtlicher Teil der Sozialleistungsbezieher dort als erwerbsfähig einzustufen – und dann auch in der Arbeitslosenstatistik verzeichnet“, so das IAB. Was im Umkehrschluss aber auch heißt, dass sozialpolitisch die Definition von Erwerbsfähigkeit hierzulande vergleichsweise sehr restriktiv gehandhabt wird.