"Die Zivilgesellschaft sollte muslimischen Gemeinden beistehen"

Über den Alltag anti-muslimischer Gewalt - Interview mit Yusuf Sari von der Initiative "brandeilig"

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110 Angriffe auf muslimische Gemeinden hat die Initiative Brandeilig.org für das vergangene Jahr dokumentiert. Mehr als je zuvor. Telepolis hat mit dem Leiter des im Juli vergangenen Jahres gestarteten Projekts, Yusuf Sari, gesprochen: über das Versagen von Politik und Behörden, den Alltag anti-muslimischer Gewalt und was der Rest der Gesellschaft dagegen tun kann.

Herr Sari, auf ihrer Website erscheinen oft mehrmals wöchentlich neue Angriffe auf Moscheen in Deutschland. Wie groß ist das Problem für muslimische Gemeinden?

Yusuf Sari: Für die Jahre 2014 bis 2019 haben wir bisher ca. 530 Moscheeangriffe registriert. Die Spannbreite der Taten reicht von Brandstiftung, Zerstörung von Sachgütern, Beschädigung der Gebäude, Hakenkreuzschmierereien, Schändung von religiösen Gegenständen, Ablegen von Tierkadavern bis hin zu Bombenanschlägen. Da gibt es viele verschiedene Facetten.

Was bedeuten diese Angriffe für muslimisches Gemeindeleben in Deutschland? Werden solche Taten eher als Einzelfälle wahrgenommen? Herrscht ein Klima der Angst? Oder wie kann man sich das vorstellen?

Yusuf Sari: Durch die Angriffe entsteht in der betroffenen Gemeinde und auch in Gemeinden, die davon hören, sicherlich ein Unsicherheitsgefühl. Ich würde aber nicht von einem generellen Klima der Angst sprechen. Soweit würde ich nicht gehen. Ich kann aber bestätigen, dass wir eine steigende Tendenz beobachten und dass diese Art von Fällen häufiger auftreten als in der Vergangenheit. Man sollte da auf keinen Fall etwas verharmlosen.

Aufklärungsquote sehr gering, Mängel in der Erfassung

Haben Sie Informationen dazu, von wem solche Übergriffe ausgehen? Anwohner, organisierte Rechtsextreme...?

Yusuf Sari: Die Aufklärungsquote ist leider sehr gering. Das bedeutet in der Regel können die Täter nicht ermittelt werden. Dies kann dazu führen, dass sich die Täter erst recht dazu ermutigt fühlen, weitere Angriffe auszuüben. Wir sehen aber ein breites Feld von Akteuren involviert. Es gibt Bekennerschreiben von rechts, sowie Linksextremen wie der PKK.

Anwohner haben des Öfteren auch schon neue Moscheebauten verhindert, zum Beispiel in Kaufbeuren, wo sieben oder acht Mal dagegen demonstriert wurde. Es gibt auch Politiker, die mit Populismus die Stimmung anheizen usw.. Jeder tut dies möglicherweise aus einer anderen Motivation heraus. Umso wichtiger ist es, dass diese Fälle aufgeklärt werden.

Brandeilig ist nicht die einzige Institution, die islamfeindliche Gewalt dokumentiert. Die Polizeiliche Kriminalstatistik macht das seit 2017 auch. Wozu braucht es ihr Projekt eigentlich?

Yusuf Sari: Brandeilig geht über die bloße Erfassung hinaus. Unser Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Nähe und den Kontakt zu den betroffenen Gemeinden aktiv suchen. Wir rufen die Vorstände an oder besuchen die Moscheen persönlich. Wir bieten den Betroffenen Beratungsmöglichkeiten an, zeigen uns solidarisch und versuchen die Gemeinden auf diesem Wege nicht allein zu lassen.

Außerdem ist uns aufgefallen, dass es eine Diskrepanz zwischen den von uns registrierten und den von der Polizei erfassten Fällen gibt. In der Regel konnten wir eine höhere Anzahl von Angriffen verzeichnen. Dies weist möglicherweise auf systematische Mängel in der offiziellen Erfassung hin.

Worin bestehen diese Mängel Ihrer Meinung nach?

Yusuf Sari: Die offizielle Erfassung ist wichtig. Auch wir gleichen unsere Daten mit denen des BKA regelmäßig ab. Allerdings haben wir auch Lücken festgestellt und bemerken bis heute das viele Fälle unaufgeklärt bleiben und nur wenige Details wiedergegeben werden. Wir vermuten, dass es unterschiedliche Auffassungen bei der richtigen Einordnung gibt.

Das fängt schon bei der Definition von "Moschee" an. Die ist in den Berichten unverständlich und nicht nachvollziehbar. Die Täter machen keinen Unterschied zwischen Moscheen oder Gemeinden. Wenn keine konkreten Hinweise, wie z.B. Hakenkreuze oder andere Symbole entdeckt werden, werden viele Taten z.B. als bloße Sachbeschädigung angesehen, ohne einen etwaigen Kontext oder Diskurse zu betrachten.

Angriffe auf Baugrundstücke von Moscheegemeinden

Was können solche Kontexte oder Diskurse sein?

Yusuf Sari: Wir haben beispielsweise festgestellt, dass Angriffe auf Baugrundstücke von Moscheegemeinden erfolgten, nachdem es zuvor Debatten über das Bauvorhaben gab. Oder es gab eine Serie von Drohmails gegenüber Ditib-Moscheen, als die Debatten über die Türkei zunahmen. Innerhalb weniger Tage erhielten bundesweit acht Moscheegemeinden Bombendrohungen.

Zum Teil waren sie von rechtsextremen Gruppierungen oder Netzwerken unterzeichnet worden. Auch das Datum, an denen die Drohmails verschickt wurden, scheint für die Absender relevant zu sein. So erhielten z.B. die Moscheen in Bayern Drohmails am Jahrestag des NSU-Urteils. Für uns sind das alles wichtige Details und Zusammenhänge, die wir in unseren Protokollen aufnehmen, die aber in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt werden.

War dieser Mangel bei der offiziellen Erfassung auch der Grund, warum sie das Projekt gestartet haben?

Yusuf Sari: Das war einer der Gründe. Ein anderer Grund war, dass islamfeindliche Straftaten überhaupt erst seit 2017 erfasst werden. Was davor war, weiß man gar nicht. Dem wollten wir Abhilfe schaffen. Außerdem geht unsere Recherche über die statistischen Erfassungen hinaus. Wir widmen uns Fragen wie: Was machen solche Angriffe mit den Gemeinden? Wie gehen die Gemeinden damit um? Wie sind die Ermittlungserfolge? Wie gehen Kommunen, Politik und Behörde damit um?

Wir haben Brandeilig über zwei Jahre vorbereitet. Dabei haben wir auf die Daten der Antidiskriminierungsstelle Fair International zurückgegriffen. Fair dokumentierte die Fälle schon seit 2014 und wir haben nach Wegen gesucht, die Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So ist die Idee einer Onlineplattform entstanden.

Sie sagten bereits, ein Vorteil gegenüber staatlichen Ermittlungsbehörden sei, dass Sie den Kontakt zu Moscheen pflegen. Welche Quellen haben Sie noch für Ihre Informationen?

Yusuf Sari: Wir haben unterschiedliche Kanäle: Wir schauen uns Presseberichte an, wir nutzen auch die Informationen des BKA. Das besondere an uns ist aber unser großes Netzwerk. Dazu gehören viele NGOs und Moscheegemeinden. Diese können uns jederzeit kontaktieren. So kommen wir sehr zeitnah an Informationen heran.

Wenn in der Nacht um ein Uhr an einer Moschee Scheiben eingeschlagen werden, haben wir das nach sehr kurzer Zeit auf dem Schirm. Wir überprüfen die Informationen dann, gehen vielleicht hin, sprechen mit den Betroffenen. Dadurch, dass wir so einen engen Kontakt zu den Moscheevereinen pflegen, erreichen uns auch die Informationen schneller. Das ist auch unsere Stärke.

Wie kommt dieser gute Kontakt zustande?

Yusuf Sari: Schon bevor wir mit unserem Projekt begonnen haben, haben wir den Kontakt zu den islamischen Dachverbänden gesucht, haben unser Projekt vorgestellt und sie gebeten, unseren Kontakt zu den Moscheen weiterzuleiten.

Scheu vor der Polizei

Beim Thema antimuslimische Gewalt hört man häufig, dass die Anzeigequote eher gering ist. Haben Sie erlebt, dass Gemeinden sich scheuen auf die Polizei oder Sie zuzugehen?

Yusuf Sari: Ja, wir haben festgestellt, dass viele Vorfälle erst sehr spät oder gar nicht berichtet werden. Die Gespräche mit den Gemeinden haben uns gezeigt, dass viele Informationen nicht an die Polizei weitergegeben werden. Manche sind sehr verhalten dabei, die Polizei einzuschalten. Da muss man auch überlegen, warum das so ist.

Haben Sie eine Antwort auf die Frage?

Yusuf Sari: Bis jetzt leider noch nicht. Wir versuchen es aber über Gespräche herauszufinden. Das sind Sachen, da muss man etwas länger daran forschen, um das genau konkretisieren zu können. Wir wollen mit unserem Projekt aber auch Gemeinden ermuntern, sich zu melden.

Im vergangenen Jahr haben islamische Organisationen zum Beispiel nach den Attentaten im neuseeländischen Christchurch Polizeischutz für ihre Moschee gefordert. Halten Sie und die Moscheen, mit denen Sie im Kontakt stehen, das für notwendig?

Yusuf Sari: Es kann durchaus sinnvoll sein, eine erhöhte Polizeipräsenz an den Moscheen zu zeigen - vor allem angesichts der hohen Anzahl von Bombendrohungen. Das allein ist aber nicht ausreichend, um Moscheeangriffen entgegenzuwirken.

Wichtig wäre auch die Aufklärungsquote zu verbessern und eine effektivere Auseinandersetzung mit dem Problem des antimuslimischen Rassismus. Die Gemeinden erwarten Maßnahmen, die das Problem von Grund auf beseitigen und nicht nur Symptome bekämpfen.

"Fehlende kritische Auseinandersetzung"

Auf ihrer Website kritisieren auch die Berichterstattung zum Thema. Was können Medien besser machen?

Yusuf Sari: Große Angriffe auf Moscheegemeinden erscheinen häufiger in den Medien. Je nach Intensität des Anschlages läuft auch die Berichterstattung weiter. Allerdings sehen wir auch hier häufig, dass es bei einer bloßen Wiedergabe des Tathergangs bleibt. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik, weitere Nachforschungen oder Forderungen bleiben oft aus.

Wir haben auch Fälle gehabt, zum Beispiel in Bielefeld, wo eine komplette Teestube einer Moschee abgebrannt ist, da wurde in der lokalen Berichterstattung die Frage aufgeworfen, ob es sich nicht doch um interne Streitigkeiten handle, obwohl die Gemeinde dies selbst ausschloss. Diese Art zu denken muss sich ändern.

Und was wünschen Sie sich vom Rest der Gesellschaft?

Yusuf Sari: Genauer hinzusehen und den antimuslimischen Rassismus nicht zu unterschätzen. Die Zivilgesellschaft sollte sich bei Vorfällen solidarisch zeigen und muslimischen Gemeinden in ihrer Nachbarschaft beistehen. Das stärkt das Zusammenleben und muntert die Gemeinden auf, die sich oft allein gelassen fühlen und nicht wissen, was sie tun sollen.

Auch die Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften sollten sich vehement dagegen äußern. Damit wir uns geschlossen gegen jede Art von Extremismus stellen können. Auch der Alltagsrassismus sollte stärker in den Blick genommen und angeprangert werden. Ob Politiker, Behörde oder Influencer - ich kann jedem Akteur nur raten, mehr Interesse zu zeigen, jeder auf seine Art.

Ihre Website ist jetzt ein halbes Jahr alt. Haben Sie den Eindruck, schon etwas zum Positivem verändert haben zu können?

Yusuf Sari: Für konkrete Aussagen ist es noch etwas zu früh, aber wir haben durch unsere Interviews schon wichtige Erkenntnisse erlangt. Zum Beispiel, wenn Moscheen mehrmals angegriffen wurden aber nur ein Angriff gemeldet haben. Allein diese Erkenntnis ist schon ein Erfolg. Die Gemeinden begrüßen das Projekt sehr, weil sie auf diese Weise eine Stimme erhalten und auf ihre Probleme und Erfahrungen aufmerksam gemacht wird.