Die Zukunft der Arbeit heißt Home Office
Arbeitsminister Hubertus Heil forciert ein Recht auf Home Office, die Mehrheit der Arbeitnehmer wünscht sich genau das, aber Union und Arbeitgeber sperren sich. Ein Kommentar
Es gibt ein Spiel in Deutschland, das sich seit Jahrzehnten in schöner Regelmäßigkeit wiederholt: Eine Partei (in der Regel die SPD, manchmal Grüne oder Linke, grundsätzlich nie CDU oder FDP) macht einen Vorstoß zur Verbesserung von Arbeitnehmerrechten - und prompt kommt aus der Union und von den Arbeitgeberverbänden ein Aufschrei.
Zuletzt war es der Mindestlohn. Wer erinnert sich nicht an die übliche Schwarzmalerei der üblichen Verdächtigen: Von massiven Arbeitsplatzverlusten war die Rede, von einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit hiesiger Unternehmen, gar von zu erwartenden Firmenpleiten. Eingetreten ist davon freilich nichts. Das hätte auch ein Blick in unsere Nachbarländer zeigen können, die längst gesetzliche Mindestlöhne hatten. Mit anderen Worten: Man hätte die alberne Scheindebatte einfach überspringen können.
Aber zu den Regeln dieses Spiels gehört es, dass diese Debatte geführt wird, politisch, medial, gesellschaftlich. Und dass derjenige, der den Vorstoß macht, möglichst hohe Forderungen stellt, damit die Gegenseite ihn runterhandeln kann, wodurch am Ende alle das Gesicht wahren, irgendwie.
In diesem Sinne geht Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) aktuell eher ungeschickt vor. Denn er hat eine Reform angestoßen, nach der Arbeitnehmern das Recht auf 24 Home-Office-Tage pro Jahr eingeräumt werden soll - ein Recht, das Arbeitgeber nur dann ablehnen können sollen, wenn sie dafür triftige betriebliche Gründe vorzuweisen haben.
Vorbild für dieses Gesetz sind die Niederlande, wo ein sehr ähnlich gestaltetes Recht auf Home Office bereits seit fünf Jahren in Kraft ist und gut funktioniert (und zwar ohne dass Unternehmen wegen der neuen Vorschriften zusammengebrochen wären, auch wenn die Arbeitgeber bei unseren Nachbarn ähnlich tobend gegen die Neuerung zu Felde zogen wie ihre Kollegen hierzulande). Besser wäre wohl, Heil würde 48 oder direkt 96 Tage Home Office vorschlagen, dann könnte man sich in der Mitte treffen.
Präsenzarbeit im Büro: ein Anachronismus
Der Trend ist seit Jahren eindeutig: Arbeitnehmer wünschen sich mehr Home Office, Arbeitgeber sperren sich dagegen. Die Corona-Krise brachte letztlich die Wende. Gab es vor dem März 2020 rund zwölf Prozent der Arbeitnehmer, die regelmäßig von zu Hause aus arbeiteten, sind es inzwischen rund 26 Prozent. Um die Zahlen ins Verhältnis zu setzen: Etwa die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer - das sind rund 18 Millionen Menschen - hat einen Büroarbeitsplatz, macht also irgendwas mit Schreibtisch und Computer. Ein Großteil davon sitzt seit gut einem halben Jahr coronabedingt am heimischen Schreibtisch.
Im Grunde ist Präsenzarbeit im Büro bei allen Tätigkeiten, die maßgeblich auf Computer und Telefon basieren, ein Anachronismus. Es gibt kein sachliches Argument dafür, das begründet, warum eine durchgehende oder überwiegende Anwesenheit im Betrieb notwendig ist. Eine sichere Verbindung zum Firmenserver auch von der Wohnung der Arbeitnehmer aus herzustellen, ist heute technisch keine Herausforderung mehr, und auch die Kosten sind überschaubar.
Die Gründe, aus denen die meisten Chefs darauf bestehen, ihre Mitarbeiter physisch vor Ort zu halten, sind daher auch andere: Es geht um Kontrolle und um Misstrauen. Offenbar glaubt man, dass Arbeitnehmer, die zu Hause sitzen, sich eher ablenken lassen, weniger effizient arbeiten oder unbemerkt versuchen, Freistunden bei voller Bezahlung zu schinden. Dass eine solche Grundhaltung nicht gerade Fundament eines angenehmen Betriebsklimas ist, versteht sich von selbst. Zumal wenn sich zeigt, dass diese Annahmen nichts mit der Realität zu tun haben.
Seit Beginn der Corona-Krise gab es eine Vielzahl von Umfragen, die ermitteln sollten, wie der (oft überstürzte und daher auch bisweilen holprige) Wechsel ins Home Office bei Arbeitnehmern ankam. Bei einer Umfrage des Fraunhofer Instituts vom April zeigten sich mehr als vier Fünftel der 500 Befragten zufrieden mit der Arbeit im Home Office.
Im Juli lag die Zufriedenheit einer Nachfolgeumfrage zufolge sogar bei gut 90 Prozent. Ein klarer Hinweis darauf, dass sich die anfänglichen Schwierigkeiten rasch in den Griff kriegen ließen. In einer DAK-Umfrage vom Juli gaben 77 Prozent der Befragten an, dass sie auch nach der Corona-Krise gerne weiterhin von zu Hause aus arbeiten würden.
Weitere Ergebnisse: Mehr als die Hälfte gab an, im Home Office produktiver zu arbeiten, zwei Drittel meinen, das Home Office ermögliche ihnen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine YouGov-Umfrage vom Juni sieht ähnlich aus: Gerade mal 22 Prozent wollen in Zukunft demnach lieber wieder im Büro statt von zu Hause aus arbeiten.
Arbeitgeber sperren sich: Irrationalismus
Diese Aufzählung ließe sich noch fortführen. Die Ergebnisse sind eindeutig. Eine überwältigende Mehrheit der Arbeitnehmer mit Bürojobs bevorzugt die Arbeit im Home Office. Zumindest in kleinem Maßstab haben die Erfahrungen während der Pandemie auch bei Arbeitgebern zu einem Mentalitätswandel geführt. Immerhin knapp die Hälfte kann sich inzwischen vorstellen, Home-Office-Modelle auch nach der Krise beizubehalten.
Das dürfte daran liegen, dass sie nun live erfahren haben, wie falsch ihre Vorbehalte waren. Denn wenn Arbeitnehmer zufriedener sind, arbeiten sie auch effizienter. Und wer nicht zigmal am Tag von Smalltalk oder sinnfreien Meetings von der eigentlichen Arbeit abgehalten wird, der wird schneller fertig und hat in der Folge mehr Freizeit, was wiederum die Zufriedenheit hebt.
Dass die Arbeitgeber sich trotzdem weiterhin zu großen Teilen gegen eine Veränderung, die letztlich auch ihnen selbst zugute käme, rigoros sperren, liegt in einer zentralen Irrationalität des Kapitalismus begründet, die der unlängst verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch "Bullshit Jobs" analysiert hat.
Denn einerseits ist das kapitalistische Wirtschaftssystem auf maximalen Profit um jeden Preis ausgerichtet, was dazu führt, dass Unternehmen vor allem am unteren Ende der Nahrungskette ausquetschen, was immer sie können, indem sie mit vielfältigen Tricks das Arbeitsrecht umgehen (dessen Einhaltung zu lasch kontrolliert und bei Verstößen zu niedrig sanktioniert wird), bei Zulieferern in Fernost oder Afrika Menschenrechte missachten (und sich gegen jede diesbezügliche Reform noch energischer wehren als gegen jede andere) und stets so billig zu produzieren versuchen, wie es nur geht - während sie sich gleichzeitig sündhaft teure aufgeblähte Verwaltungen, Juristen und Berater gönnen, ebenso wie die rational betrachtet ziemlich unwirtschaftlichen Bürotempel in den besten Lagen.
Im Grunde müsste die Aussicht, allein Letztere einsparen und dadurch zusätzliche Millionen und Milliarden an Rendite generieren zu können, ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Tut sie aber nicht. Denn diese Tempel sind, ebenso wie die von ihnen gebotenen Kontrollmöglichkeiten den Arbeitnehmern gegenüber, Instrument und Symbol von Macht, von Repräsentanz, vom Schein, der das nicht vorhandene Sein kompensiert. Und der darf kosten, was er will. Egal, wie irrational das auch ist.
Ein weiteres gutes Argument fürs Home Office ist der Wegfall bzw. die deutliche Reduzierung des Pendelns - und das gleich aus mehreren Gründen, von denen die Verringerung der Umweltbelastungen, die mit der morgendlichen und abendlichen Blechkolonne einhergeht, nur der offensichtlichste ist. Pendeln ist zum einen eine heillose Verschwendung wertvoller Lebenszeit. Ganz besonders, wenn man sich zu den Stoßzeiten in notorisch verspätete und überfüllte Bahnen und Busse quetschen muss.
An eine sinnvolle Nutzung dieser Zeit - sei es, indem man arbeitet, sich unterhält oder ein Buch liest - ist da in der Regel kaum zu denken. Wichtiger aber sind die gesundheitlichen Auswirkungen. Pendeln, das haben Untersuchungen gezeigt, ist für Arbeitnehmer einer der maßgeblichen Stressfaktoren, der mit der Länge der Pendelstrecke kontinuierlich ansteigt. Laut der Techniker Krankenkasse sind psychische Erkrankungen bei Pendlern um bis zu 15 Prozent höher als bei Menschen, die nicht pendeln.
Weiter heißt es bei der TK: "Zahlreiche Untersuchungen belegen inzwischen, dass Pendler häufiger unter Rücken- und Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und anderen funktionellen Beschwerden leiden. Zudem gibt es Hinweise auf ein erhöhtes Herzinfarkt- und Adipositas-Risiko."
Der Mehrheit sollte eine Option gegeben werden
Mit anderen Worten: Regelmäßiges Pendeln über lange Strecken macht krank. Wer hingegen nicht pendelt, kann in der Regel nicht nur diesen Stressfaktoren entgehen, sondern auch länger schlafen. Und da die Mehrheit der Menschen Eulen sind, also chronobiologische Langschläfer, die jeden Morgen vom Wecker aus ihrem Biorhythmus gezerrt werden, kann schon eine halbe Stunde oder gar eine Stunde an zusätzlichem Schlaf am Morgen - auch das ist nachgewiesen - förderlich für die physische und psychische Gesundheit sein. Dass so jemand dann auch im Job ausgeglichener und leistungsfähiger ist, liegt auf der Hand.
Natürlich ist aber auch der Einwand korrekt, dass Home Office nicht für jeden etwas ist. Mancher besteht auf der klaren räumlichen Trennung von Arbeit und Privatleben und hat in einer zu kleinen Wohnung nicht die Möglichkeit, sich ein klar abgegrenztes Büro einzurichten; andere mögen es, dem familiären Trubel mal entfliehen zu können; und wieder andere haben schlicht Schwierigkeiten damit, sich selbst zu organisieren und auch ohne die direkte und indirekte Kontrolle durch Vorgesetzte und Kollegen zielgerichtet zu arbeiten.
Letzteres kann man lernen. Aber man muss nicht. Die Minderheit, die wirklich lieber im Büro arbeitet, wird das auch in Zukunft und auch mit einem neuen Gesetz problemlos tun können. Aber man sollte der Mehrheit die Option geben, es anders zu machen - und wenn zu viele Arbeitgeber auf stur schalten, dann muss das eben ein Gesetz regeln. Klar - es wäre schön, wenn es anders ginge.