Die dunklen Schatten der totalen Reform-Resistenz auf allen Ebenen
- Die dunklen Schatten der totalen Reform-Resistenz auf allen Ebenen
- Nur das Herumdoktern an Oberflächensymptomen ist noch möglich
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Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 22
Das System der entwickelten repräsentativen Demokratien ist so gut wie zu überhaupt keiner Reform mehr fähig. Es wird immer nur am bestehenden Chaos herumgedoktert. Jede tief greifende Reform, die ein Problem an der Wurzel anpackt und grundlegende Veränderungen nach sich ziehen würde, scheitert am allumfassenden Konsensstreben der politischen Parteien, dem Widerstand der Vetogruppen und der Lobbyisten. Jeder Eingriff in das fragile Gleichgewicht des Status quo gefährdet die Machtbasis und wird um jeden Preis vermieden. Und je mehr das vermieden wird, desto drängender wächst der Reformbedarf. Und desto hartnäckiger wird die Resistenz gegen alle Reformen. Ein Teufelskreis…
Wie festgefahren die Lage ist, kann man selbst an Kleinigkeiten sehen. Das zeigt selbst die politische Behandlung einer scheinbaren Marginalie: der Sommerzeit. 1980 führte Deutschland die Sommerzeit als Nachwirkung der Ölkrise von 1973 ein. Zur Begründung hieß es, dass man mit der Regelung durch bessere Nutzung des Tageslichts Energie sparen könne. In der Ölkrise der 1970er Jahre setzte sich die Idee in ganz Europa durch. 1996 wurden alle Sommerzeiten in Europa vereinheitlicht.
Eigentlich hätte man das auch damals schon als Unsinn erkennen können: Wenn es morgens früher hell wird, wird es abends auch früher dunkel. Doch der Hang demokratischer Gremien, sich per Groupthink an absurden Schnapsideen festzubeißen, setzt sich immer wieder machtvoll durch.
Heute jedenfalls ist sicher, dass das zweimalige Hin und Her im Jahr viel schadet und überhaupt nichts nützt; denn die innere Uhr des Menschen hängt vom Sonnenaufgang und nicht von der Uhrzeit ab. Der Chronobiologe Till Roenneberg von der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität nennt die Sommerzeit einen "von oben diktierten Eingriff in unser biologisches Zeitsystem"1 und behauptet gar, Folgen des "sozialen Jetlags" seien mehr Rauchen, mehr Alkohol und Kaffee trinken, Depressionen und Fettleibigkeit. Dies sind die Kernerkenntnisse aus Untersuchungen des Schlafverhaltens von 120.000 Menschen in Mitteleuropa.
Nachweise gibt es für einen Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Unfallraten infolge der Zeitumstellung. Die Forderung nach Abschaffung der Sommerzeit ist berechtigt. Es geht nicht nur um die Vermeidung von Aufwand. Es geht um die Vermeidung von Schaden. Es ist auch längst belegt, dass die Sommerzeit keine Stromeinsparungen, dafür aber mehr Bürokratie bringt.
Neue Untersuchungen zeigen, dass sich die Zeitumstellung nicht nur kurzfristig schädlich für die Gesundheit ist, etwa in Form von Schlafstörungen oder vermehrten Herzinfarkten. Vielmehr stört sie sieben Monate lang bis zum Anfang der Winterzeit die innere Uhr einer Mehrheit der Bevölkerung. Das kann zu gesundheitsschädlichem Schlafmangel führen.
Das ursprüngliche Ziel, Energie einzusparen, wurde durch die Sommerzeit sowieso nicht erreicht. Tatsächlich ist die Energiebilanz sogar negativ, da durch das verschobene Aufstehen die Heizperiode verlängert wird. So haben Wissenschaftler in Kalifornien 2008 durch dreijährige Beobachtung des Stromverbrauchs von sieben Millionen Haushalten in Indiana, wo die Sommerzeit erst 2006 eingeführt wurde, festgestellt, dass der Stromverbrauch nach der Umstellung auf die Sommerzeit um ein bis drei Prozent anstieg.
Die Autoren der Studie, die Wirtschaftswissenschaftler Matthew Kotchen und Laura Grant von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, berechneten zudem die Kosten der stärkeren Umweltverschmutzung für die Gesellschaft auf jährlich 1,6 bis 5,3 Millionen Dollar.
Die Sommerzeit schadet der Bevölkerung. Na und?
Dass die erwünschte Energieeinsparung auch in Deutschland nicht erreicht wurde, bestätigte am 18. Mai 2005 sogar die Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion. Das Umweltbundesamt stellte keine positiven Energiespareffekte fest, da die Einsparung an Strom für Beleuchtung durch den Mehrverbrauch an Heizenergie durch die Vorverlegung der Hauptheizzeit "überkompensiert" werde. Der zunehmende Einsatz von Energiesparlampen würde diesen Effekt in Zukunft zudem weiter verstärken. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft.
Mediziner haben negative Auswirkungen der Zeitumstellung festgestellt, da sich der Organismus mit der Anpassung seines Rhythmus schwer tut. Physiologische Studien haben ergeben, dass einige zirkadian schwankende Hormonspiegel, ähnlich dem des Stresshormons Kortisol, bei einstündiger Zeitumstellung gegen die natürliche Rhythmik, also nach Art der gängigen Sommerzeit, bis zu viereinhalb Monate brauchen, um sich vollständig den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Besonders Menschen mit Schlafstörungen oder organischen Erkrankungen haben größere Probleme. Auch kommt es in der Umstellungsphase messbar zu mehr Autounfällen, meist durch Übermüdung oder durch Wild, das sich natürlich auch nicht an die früher einsetzenden Stoßzeiten gewöhnt.
Kinder gewöhnen sich so gut wie überhaupt nicht an die Umstellung. Wie sollen sie auch? Aus der Landwirtschaft ist bekannt, dass die Milchkühe ein bis zwei Wochen benötigen, um sich an die neuen Melkzeiten anzupassen. Bei der Frühjahrsumstellung ist sogar ihre Milchleistung einige Tage lang geringer.
Die Zeitumstellung stellt viele öffentliche Einrichtungen vor große Probleme. Bei der Deutschen Bahn erfolgt der Wechsel am Ende der Sommerzeit, indem die verkehrenden Nachtzüge eine Stunde an geeigneten Bahnhöfen halten. Auch Einrichtungen mit nächtlichem Bereitschaftsdienst haben mit dem Problem zu kämpfen, dass entweder der Dienst eine Stunde länger, oder aber die Ruhezeit eine Stunde verkürzt ist und somit eventuell nicht mehr den gesetzlichen Anforderungen genügt.
Es spräche also überhaupt nichts dagegen, die zweimalige Zeitumstellung im Jahr wieder abzuschaffen. Im Gegenteil: Es spricht überhaupt nichts dafür, sie weiterhin beizubehalten. Doch das wird nicht geschehen. Und das hat einen einfachen Grund: Die umständliche Gesetzgebungsapparatur und der aufwändige parlamentarische Diskussionsapparat müssten sich in Bewegung setzen, um Schaden von der Bevölkerung abzuwehren.
Man kann in einem derart schwerfälligen System einen Fehler nicht einfach wieder gutmachen. Man kann wahrscheinlich noch nicht einmal zugeben, dass man einen Fehler gemacht hat. Wahrscheinlich würden die Parteien streiten. Und wenn die Regierungsfraktionen dafür wären, wären die Oppositionsfraktionen dagegen. Schon aus Prinzip.
Endlose Debatten wären die Folge. An dem Thema würden sich Politiker und "Experten" wochenlang in Talkshows im Fernsehen die Köpfe heiß reden. Und wie üblich bei dem bombastischen Gequatsche wären viele dafür, sich dagegen auszusprechen, und manche wohl auch dagegen, sich dafür zu äußern. Sicherlich gäbe es auch viele, die weder dafür noch dagegen sprechen mögen…
Und dann haben die europäischen Nationen sich ja überhaupt erst 1996 darauf geeinigt, die Sommer- und die Winterzeit zu synchronisieren. Da kann doch Deutschland nicht einfach aus der Reihe tanzen - nur weil es sich ausnahmsweise mal für das Wohlsein der eigenen Bevölkerung entscheiden würde. Ja, wo kämen wir da hin?
Also wird alles beim Alten bleiben, obwohl schon seit vielen Jahren bekannt ist, dass die Sommerzeit nur schadet und nichts nützt. Der parlamentarisch-bürokratisch-politische Aufwand wäre einfach viel zu hoch.
Die Abschaffung der Sommerzeit hätte den unabweisbaren Vorteil, dass sie nichts kostet. Man müsste sich nur dazu entschließen, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Doch dazu ist der Apparat längst viel zu antriebsarm geworden. Das Parlament und einige Ausschüsse müssten tagen und darüber beraten.
Ein endloses Palaver würde einsetzen, und am Ende käme doch nichts dabei heraus. Und in allen europäischen Demokratien müssten alle Parlamente und die in ihnen agierenden politischen Parteien auch noch gleichzeitig und gleichsinnig die gleichen Beschlüsse fassen. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Ein einfacher Akt, der nur den Zweck hätte, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden, würde im parlamentarischen Diskussionsdickicht versacken. Wenn es den politischen Repräsentanten um nicht mehr als darum geht, Schaden abzuwenden, ist ihnen der Aufwand viel zu hoch. So viel ist ihnen die Bevölkerung denn doch nicht wert. Ja, wenn man damit Wahlen gewinnen könnte, dann wäre das vielleicht eine Überlegung wert. Aber dazu ist das Thema denn doch wieder nicht gewichtig genug.
Es ist relativ einfach, einen Fehler zu begehen und ihn zu institutionalisieren. Aber es ist in den entwickelten repräsentativen Demokratien so gut wie unmöglich, ihn einzugestehen und dann auch noch zu korrigieren.
Dazu müsste ein ziemlich schwerfälliger und höchst umständlich agierender Apparat in Gang gesetzt werden, der überhaupt nur schwer in die Gänge kommt. Und außerdem wäre es höchst ungewiss, wie die Leute darauf reagieren: Man würde damit keine Klientele bedienen, und womöglich kann man dabei sogar Wähler verlieren. Denn bei allen politischen Themen gibt es immer welche, die dagegen sind. Und möglicherweise sind ausgerechnet unter den eigenen Wählern welche, die dagegen sind. Wer kann schon ahnen, wie viele das sind?
Das Risiko, dass vielleicht sogar wahlentscheidend viele dagegen sind, ist viel zu groß und vor allem viel zu unkalkulierbar. Am besten also lässt man alles so, wie es gerade ist. Dann ist man auf der sicheren Seite. Das System der repräsentativen Demokratie ist selbst zu einfachen Reformen nicht mehr fähig.