Die "extrem effiziente Tötungsmaschinerie" der Nazis
In 100 Tagen wurden mindestens 1,3 Millionen Juden getötet, was die deutsche Vernichtungsmaschine etwa auch im Vergleich zum Ruanda-Völkermord singulär macht
Wenn Politiker wie AfD-Chef Gauland von der Nazizeit als einem "Vogelschiss" sprachen, um die ansonsten angeblich "erfolgreiche deutsche Geschichte" hervorzukehren, während er die "Masseneinwanderung radikaler Muslime" als "eigentliche Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland" ansieht, ist das grotesk. Ebenso grotesk ist die Abwehr von "Menschen aus fremden Kulturen" in Deutschland, wo die Deutschen mit oder trotz ihrer Kultur und Religion und mit der vorhandenen Technik und Wissenschaft einen negativen Rekord der Massenvernichtung und des Völkermords zustande brachten.
Es ist leider angesichts der neuen Nationalisten, die die Nazizeit wie Gauland verdrängen oder wie andere gleich verklären, immer wieder notwendig, an die unvorstellbare Barbarei zu erinnern, der auf dem Boden der so gern beschworenen deutschen Kultur möglich wurde. "Nur" die systematische Vernichtung von Juden im Holocaust war eine der mörderischsten kollektiven Taten der menschlichen Geschichte.
Lewi Stone von der Tel Aviv University in Tel Aviv und der RMIT University in Melbourne hat mit dem Blick auf Massentötungen und Völkermorde, wie sie auch nach der Nazizeit und in jüngster Vergangenheit in Ruanda, Darfur, Bosnien, Syrien oder Myanmar geschehen sind, versucht, den Holocaust zwischen 1939 und 1945 als Modellfall zu quantifizieren. Es sei wichtig, um solche Ereignisse nachvollziehen zu können, nicht nur wie üblich zu fragen, wie viele Menschen getötet wurden, sondern auch wie sich Massentötungen über die Zeit entwickeln. Die Studie erschien in Science Advances.
Nach Schätzungen wurden 5,4 bis 5,8 Millionen Juden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs vor allem zwischen 1941 und 1945 ermordet. Nach Stone sind solche puren Zahlen so entsetzlich groß, dass man kaum etwas damit verbinden kann. Dazu handelt es sich hier nur um die Juden, die Gesamtzahl der Getöteten, die als "lebensunwert" betrachtet wurden, ist weitaus höher. Man wisse nicht näher, ob die Massentötung kontinuierlich über die Jahre stattfand oder ob es unterschiedliche Phasen gab, also ob es hinter Massentötungen eine sich möglicherweise wiederholende Dynamik gibt. Eine Analyse sei schwer, wie das oft in Konflikten und Kriegen ist, weil das Geschehen komplex und chaotisch sei.
Die Nazis hatten alleine schon kaum nachträglich zu überblickende 40.000 Gettos und KZs in ganz Europa eingerichtet, die schließlich der "Endlösung" dienen sollten. So werde oft gesagt, dass die Todesrate des Genozids in Ruanda im Jahr 1994 um ein Vielfaches größer als der Holocaust gewesen sei. In Ruanda waren nach Schätzungen in drei Monaten zwischen 500.000 bis zu einer Million Menschen getötet worden.
Um einen quantitativen Einblick in den Ablauf des Holocaust zu ermöglichen, nutzte Stone die Daten, die der israelische Historiker Yitzhak Arad über die 480 Deportationsfahrten der Reichsbahn aus 393 polnischen Städten im Rahmen der Aktion Reinhardt mit den Sonderzügen zu den drei neu errichteten Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zusammengetragen hat. Die Aktion Reinhardt, die im Februar 1942 mit der angeordneten "Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements" begann und bis November 1943 andauerte, gilt als die größte Massenmordaktion des Holocaust. Alle Juden Polens sollten ermordet werden, zur "industriellen Tötung" wurden Gaskammern und Massenerschießungen eingesetzt.
Schnell, barbarisch und effizient
Es gibt allerdings kaum Dokumente über die geheim gehaltene Aktion, die Nazis haben sie weitgehend vernichtet. Anders als in Auschwitz gibt es hier kaum Überlebende, aus dem Todeslager Belzec beispielsweise nur zwei. Schätzungen gehen von bis zu 1,7 Millionen getöteten Juden (und einigen Zehntausenden von Roma und Sinti) während der 21 Monate aus: schätzungsweise 515.000 in Belzec, 126.000 in Sobibor und 897.000 in Treblinka. An der Massentötung arbeiteten für die Reichsbahn auch 900.000 Arbeiter und fast eine halbe Million Bahnangestellte mit.
Die Massentötung vollzog sich vor allem in drei Monaten August, September und Oktober 1942, also in 14 Prozent der gesamten Dauer der Aktion. Hier wurden mit irrsinniger Geschwindigkeit mehr als 1,3 Millionen Juden umgebracht, also ein Viertel der während der Kriegsjahre getöteten Juden, 15.000 pro Tag. Von etwa 50.000 Ermordeten im Juni, waren es im Juli bereits 150.000 und im August 400.000, im Oktober noch 300.000, um dann wieder auf 50.000 und weniger zu sinken. Bezieht man alle ermordeten Juden ein, so wurden alleine im August eine halbe Million umgebracht - weitaus mehr als die geschätzten 240.000, die monatlich in Ruanda in den drei Monaten ermordet worden sind. Ausgegangen war man meist in Studien, so Stone, dass durchschnittlich nur etwa 50.000-80.000 Juden monatlich im Holocaust getötet wurden.
Allein aus dem Warschauer Getto kam ab dem 22. Juli sieben Wochen lang jeden Tag ein Zug mit 50 Güterwägen, in denen jeweils bis zu 100 Menschen eingepfercht wurden. Bis 12. September kamen so täglich 5000-6000 Juden aus dem Getto in Treblinka an, wo sie meist umgehend getötet wurden. Mitunter trafen am Tag mehrere Züge auch aus anderen Orten ein. Es gab nur ein paar Tage einen Einbruch, als die Gaskammern aussetzten und sich die Leichenberge zu hoch stapelten. In den sieben Wochen wurden mehr als 240.000 Juden aus dem Getto vergast oder erschossen. Das von den Nazis optimierte Tötungssystem, so Stone, habe alle Eigenschaften eines "automatisierten Fließbands" aufgewiesen. Nur ein paar Zehntausend sind dem Tötungssystem entkommen, das 94-97 Prozent aller Juden im Generalgouvernement vernichtete.
In den 100 Tagen vom 27. Juli bis zum 4. November 1942 wurden nach den Schätzungen in drei Lagern über eine Million Juden vergast, über 300.000 durch Einsatzgruppen erschossen und in Ausschwitz über 90.000 getötet. Das sind 445.000 Ermordete im Monat oder insgesamt 1,47 Millionen. Nicht-polnische Juden wurden dabei nicht berücksichtigt. Stone geht davon aus, dass es vermutlich weit mehr waren, da nur verlässliche Zahlen verwendet wurden. Verglichen mit dem drei Monate andauernden Ruanda-Massaker ist die Todesrate in den 100 Tagen mit 85 Prozent fast doppelt so hoch.
Nicht nur nach der Todesrate, sondern auch räumlich sind nach Stone die Unterschiede zwischen Ruanda und dem Holocaust erheblich. So habe Ruanda nur 20 Prozent der Fläche des Generalgouvernements, die Opfer haben mit den Tätern zusammengelebt, während die Nazis ein geografisch ausgedehntes Eisenbahnnetz benutzten, um die Opfer erst einmal in die Todeslager zu bringen, was Tage dauern konnte.
Stone ist der Meinung, dass die "extrem effiziente Tötungsmaschinerie" der Nazis in ähnlichen Größenordnungen wie in den 100 Tagen auch weiter mit der geschätzten Todesrate funktioniert hätte, wenn die "Versorgung mit Opfern" gleich geblieben wäre. Aber die Maschinerie war so effizient, dass die meisten der möglichen Opfer schon getötet waren, weswegen die Todesrate einbrach. Dann hätten die Nazis das Endlösungsprogramm für die verbleibende jüdische Bevölkerung in Europa auf Auschwitz-Birkenau umgestellt, wo es dann im Mai und Juni 1944 zu einem "sehr großen Peak" von 200.000 und mehr kam.
Die Aktion Reinhardt sei in drei Hinsichten für einen Völkermord extrem oder wahrscheinlich singulär: nach der Todesrate in der Zeit, der Zahl der Ermordeten und dem Anteil der ermordeten Bevölkerung (99,99 Prozent in den Todeslagern und mehr als 94 Prozent der Juden im Generalgouvernement). Ist das die Effizienz deutscher Kultur, Wissenschaft und Technik?
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