Die gegenwärtige Leere der Freiheit

Seite 2: Freiheit als ideologischer Mantel

An dieser Stelle stoßen wir ins Herz politischer Manipulation und ihrer rhetorischen Mittel vor, die derzeit auch den Wahlkampf der Parteien dominieren. Das Prinzip mit den Werten ist nämlich nur so lange unproblematisch, solange diese Begriffe selbst aktualisiert und aufeinander bezogen werden, ja in ein kritisches Verhältnis gebracht werden.

Da es aber in der Politik immer um Stimmen geht, werden die Werkzeuge der Abwägung häufig selbst als Problemlösungen verkauft: Mehr Freiheit, mehr Gleichheit oder mehr Gerechtigkeit! Aber ohne konkrete Anbindung sind diese Begriffe leer. Sie funkeln, sie strahlen und bedeuten am Ende doch wenig. Sie werden, sobald sie zum unreflektierten Markenkern der Parteien erstarren, zu ideologischen Begriffen der Identifikation. Die Bürger:innen sollen ihre Wünsche, Hoffnungen und Begehrlichkeiten in diese begriffliche Offenheit projizieren und sich in der jeweiligen Partei wiederfinden.

Unter dem Titel "Die brennende Frage" befragte Die Zeit alle Spitzenkandidat:innen zum Themenkomplex Klimawandel. Um einen direkten Vergleich zwischen der jeweiligen Rhetorik, den Wertgewichtungen und den Manipulationen zu ziehen, ist diese Interviewreihe eine wahre Goldgrube.

Denn neben all den bisweilen subtilen Unterschieden zeigte sich auch eine ganz bestimmte Problematik: Wenn sich der Freiheitsbegriff entleert hat, wenn es nur noch darum geht, jede Form der Einschränkung (um die wir nicht herumkommen werden) zu verhindern, verliert Politik ihre progressive, weltveränderte Kraft.

Annalena Baerbock (Grüne) und Janine Wissler (Die Linke) gehen in ihren Äußerungen über Verzicht und Einschränkungen sicherlich am weitesten. Während allerdings die Politikerin der Linken offen in die Konfrontation geht ("SUVs für niemanden), ist bei Baerbocks vorsichtigeren Formulierungen durchaus eine gewisse Angst zu verspüren.

Nicht erst seit dem Veggie-Day-Debakel hängt den Grünen ja das Label der übermoralischen Verbotspartei an. Auf die Frage, ob das Fleisch durch die Forderung nach strengen Tierwohlvorgaben teurer werden würde, antwortet die Parteichefin:

Das bedeutet, den Umstieg auf eine nachhaltige Tierhaltung und Bio für Landwirte zu erleichtern.

Annalena Baerbock

Ein Satz, der im Programm sicherlich Sinn macht, aber weit entfernt von einer klaren Antwort lediglich den Versuch darstellt, der richtige, aber unbequemen Frage auszuweichen: Kann angesichts der Klimabilanz von Fleisch weiterhin die Losung "Fleisch für alle" gelten?

Fragen, mit denen sich Christian Lindner (FDP) gar nicht erst herumschlägt. Er setzt einzig auf den freien Markt und wettet auf die technischen Lösungen, auf Innovation und Erfindergeist. Hauptsache, der Mensch ist frei und kann weiterhin mit 145 km/h über die Autobahn donnern. Glücklicherweise wissen wir nun auch, dass die Flugtickets von Christian Lindner teuer sind und er gerne Fleischersatzprodukte ist.

Geschickt grenzt sich der Liberale vom grünen Gegner ab, indem er ziemlich unverhohlen verspricht, dass sich das Leben der Bürger im Großen und Ganzen nicht ändern wird. Dort trifft sich die FDP mit CDU unter Laschet. Das gemeinsame Credo lautet: Alles soll so bleiben, wie es ist. Als ideologische Mäntelchen dieses Stillstands fungiert die Freiheit. Von der Politik muss keine aktive Bewegung ausgehen.

Es gilt lediglich die Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu verändern, die aus sich selbst heraus schon aktiv werden - wenn die Zeit reif oder eben der Markt bereit ist. Die harten Wahrheiten des Klimawandels sucht man vergebens. Es ist dann ausgerechnet Olaf Scholz (SPD), der diese Furcht vor den harten Tatsachen im sozialdemokratischen Tonfall verpackt:

Verzichtsideologie führt aus meiner Sicht nicht zum Ziel. Deutschland muss zeigen, dass beides geht: Wohlstand und Klimaschutz. Kein Land der Welt wird auf Wohlstand verzichten wollen. Hunderte neue Kohlekraftwerke sind weltweit in Planung. Sie werden nur dann nicht in Betrieb genommen, wenn es eine bessere Alternative dazu gibt. Deutschland ist in der Lage, die zu entwickeln. Wenn wir zeigen, wie Industrie, Wohlstand und Klimaneutralität zusammengehen, ist das ein Angebot an andere Länder, diesem Weg zu folgen.

Olaf Scholz (SPD)

Es geht um Wohlstand. Es geht um Wirtschaftlichkeit. Daran will niemand rütteln. An der grundsätzlichen Architektur unserer Gesellschaft muss nicht geschraubt werden. Zu sehr fürchtet sich die Politik vor den zu verkündenden Einschränkungen. Während Corona hat man gesehen, welche Widerstandskraft in der Gesellschaft schlummert. Egal, wie irrational diese Kräfte mitunter aufgetreten sind.

Eine solche wütende Minderheit kann Wahlen entscheiden. Das weiß Laschet und rührt in der Debatte um die Impfverweigerung keinen Finger. Man könne immer noch nach der Bundestagswahl nachjustieren. Sicherlich agiert der CSU-Chef nicht ganz so radikal wie Hubert Aiwanger in Bayern.

Dieser bettelt mit seiner eigenen Impfverweigerung fast verzweifelt offen um ganz bestimmte Stimmen. Alles im Namen der Freiheit, versteht sich. Niemand will hier irgendwem auch nur irgendetwas vorschreiben. Hier gibt es nichts zu sehen. Bitte gehen sie weiter.

Freiheiten bilden sich

Was ist das nun für ein seltsamer Freiheitsbegriff, der hier durch den Diskurs wabert. Eigentlich geht es immer um Konsumfragen. Diese werden auch von den Journalisten gerne gestellt. Das treibt die Menschen um. Es geht also um eine Freiheit zum Handeln. Darauf liegt der Fokus. Zwar spielt dabei sicherlich auch die Frage nach der Freiheit von jeglicher staatlichen Einmischung eine Rolle.

Diese Dimension wird allerdings gerne rhetorisch umschifft. So kommt man um die harten ethischen Fragen herum: Muss ein Staat nicht mit Weitblick auch die Freiheitsrechte der kommenden Generationen im Blick haben? Was, wenn in der Zukunft die Grundlage fehlt, diese Freiheiten überhaupt leben zu können?

Aber lassen wir das. Bleiben wir lieber bei Flugtickets, den Fleischpreisen oder dem Tempolimit. Das ist schön konkret und verfängt sich bei den Bürgerinnen und Bürgern - so zumindest das Kalkül. Bei aller berechtigten Kritik an der Politik. Auch die Wähler müssen in diese Rechnung einbezogen werden.

Die Wahlkampfstrategen der Parteien messen den Puls des Volks, schauen den Leuten aufs Maul. Und da herrscht - zumindest recht häufig - eine vehemente Verweigerung, die erwirtschafteten Privilegien aufzugeben. Die Verantwortung der Politik wäre auch, diese Verweigerungen schrittweise abzubauen. Stattdessen werden die Ressentiments angezapft und in Stimmen umgewandelt.

Mit jedem Monat, den wir ohne effektive Maßnahmen verstreichen lassen, zieht sich die Schlinge des Klimawandels enger. Dabei wäre es an der Zeit einzusehen, dass die Freiheiten, die wir heute leben, gewordene Freiheit sind. Wir müssen also die Bedingungen unserer Freiheiten hinterfragen. Darauf hat der Philosoph Daniel Loick in Bezug auf die Redefreiheit hingewiesen. Freiheiten haben eine Geschichte, einen Kontext - sie bilden sich heraus. Loick bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt:

Freie Meinungsbildung ist selbstreflexiv. Eine freie Meinung befragt sich immer wieder neu daraufhin, ob sie wirklich Resultat eines freien Urteilens ist oder nicht doch nur die Wiedergabe überkommener Autoritäten und von Macht durchzogener Ausschlussprozesse.

Daniel Loick

Ähnliches lässt sich für die Freiheit im Allgemeinen konstatieren: Die Freiheiten, auf denen wir so selbstverständlich beharren, müssen hinterfragt werden. Freiheitsbildung ist selbstreflexiv. Freiheiten erwachsen aus einem historischen Prozess, ergeben sich aus wirtschaftlichen, sozialen und eben auch ökologischen Gegebenheiten. Freiheiten sind nicht unbedingt.

Daher müssen wir uns fragen, in welchem Sinne diese, unsere Freiheiten überhaupt noch eine vernünftige Grundlage besitzen? Können wir mit Recht auf einen Konsum beharren, dessen materiellen Grundvoraussetzungen nicht mehr erfüllt sind?

In Bezug auf den Klimawandel ergibt sich eine konkrete Spaltung: Unsere gegenwärtigen Freiheiten rauben womöglich meine kommenden und die zukünftigen Freiheiten meiner Mitmenschen.

Die Gegenwart ist nicht mehr der Bezugspunkt. Unsere jetzigen Freiheiten müssen sich an den Werten einer kommenden Gleichheit und Gerechtigkeit messen lassen. Wir müssen begreifen, dass einige Kräfte in der Politik um die verführende Wirkung der Freiheitsrhetorik ganz genau wissen. Wir sollen in der Gegenwart gehalten werden, weil in dieser die Stimmen verteilt werden.

Freiheit wird zu Marketing, zur Wähleransprache und nicht zu einem konkreten Wert der Vermittlung. Es ist an der Zeit, die Freiheiten zu hinterfragen und vielleicht entdecken wir dann, dass wir durch die Einschränkung unserer gegenwärtigen Freiheit(en) eine zukünftige Freiheit ganz neuer Qualität gewinnen. Dafür brauchen wir aber einen ehrlichen Diskurs, der mitunter die Logik der Wahlkämpfe sprengt. Es wird nicht einfacher. So oder so.