Die immer hellere Kammer
Stetig nimm die Anzahl der Kameras im öffentlichen wie im privaten Raum zu. Verlernen wir das Vergessen?
Der Taucher und Meeresbiologe Markus Thompson fand vor Vancouver eine Kamera auf dem Meeresboden. Aus Neugier nahm er sie mit - zu seiner Überraschung waren die Daten auf der Speicherkarte noch lesbar, über ein Jahr, nachdem sie ins Wasser gefallen war.
Während dem Apparat, mit dessen Hilfe diese Daten erzeugt worden waren, das Salzwasserbad schlecht bekommen war, hatten die Bilder selbst also überlebt. Und nicht nur das: Thompson konnte sie auch dem rechtmäßigen Eigentümer wieder zukommen lassen.
Auch chemischer Film kann erstaunlich zäh sein. 2010 fand der New Yorker Filmemacher Todd Bieber eine Rolle unentwickelten Film im Prospect Park (Brooklyn). Er ließ die Bilder entwickeln und machte sich per Internet auf die Suche nach den Besitzern des Films. Einige Monate und einige Tausend E-Mails später hatte er sie gefunden: in Paris.
Entdeckungen in alten Kammern und ein neues Medium
2007 entdeckte der Makler und Hobbyhistoriker John Maloof etwa 100.000 Fotos einer bis dahin völlig unbekannten Fotografin namens Vivian Maier. Maier war zwar offensichtlich von der Fotografie besessen, aber von ihren eigenen Werken machte sie kein Aufhebens - zu Unrecht, wie eine von John Maloof eingerichtete Website belegt.
Diese Geschichten würden, für sich genommen, herzerwärmende Anekdoten bleiben, wenn sie nicht ein Licht auf die Dynamik des Erinnerns und Vergessens im technischen Zeitalter werfen würden. Es ist nicht die Anwesenheit von verschiedenen Arten der Fotografie allein, sondern ihre Kombination mit dem Internet, die das Vergessen immer schwieriger machen.
Dem Vergessen entrissen
Selbst uralte Dokumente, Dachbodenfunde der Photographiegeschichte sozusagen, werden durch das Internet dem Vergessen entrissen. Man könnte auch sagen, der Dachboden der privaten und der Photographiegeschichte wird hell. Er wird, so scheint es, eine mehr und mehr öffentliche, immer "hellere Kammer", in der nichts verborgen bleibt und nichts vergessen.
Kann es zu hell werden in dieser Kammer? So dass am Ende nichts als Blendung dabei herauskommt - eine Art Schneeblindheit im Gestöber der Bilder? Das ist die Betrachtung der Sache aus dem Blickwinkel der Kulturkritik - immer wieder gern genommen, da wohlfeil und konsensfähig; die Mahner und Künder von Neil Postman bis Frank Schirrmacher rennen da gern mit Macht offene Türen ein. Warum auch nicht, die Predigten verkaufen sich ja bestens.
Wäre es aber nicht besser, eine Art Handbuch für den Gebrauch der immer helleren Kammer zu schaffen? Sich auf das vorzubereiten, was kommen mag? Es kann ja sein, dass das gar nicht geht. Dass man das Bewusstsein eines cyborgisierten Menschen gar nicht denken kann, der mit den Augen fotografiert, in die Cloud hochlädt, was in seinem bioelektronisch oder sonstwie aufgebrezelten Gehirn keinen Platz mehr hat, der seine eigene "Timeline" als Welle im gigantischen Fluss aller Timelines begreift.
Aber es wäre doch fahrlässig, sich nicht einmal für die Möglichkeit eines solchen Bewusstseins zu interessieren. Wir sind da ein bisschen zukunftsvergessen, wenn wir nur die Brille der Kulturkritik aufsetzen.
Blow Up
Und es ist ja auch nicht so, dass noch niemand vom Unbehagen in der allzu hellen Kammer erzählt hat. Man nehme nur "Blow Up". Antonionis Film beschreibt genau die Situation eines Menschen, für den die Kammer der Phänomene kurzfristig ein wenig zu hell wird. Der Fotograf Thomas entdeckt zufällig beim Vergrößern einiger seiner Bilder, dass er offenbar einen Mord fotografiert hat, ohne es zu wissen. Als er überprüft, ob stimmen kann, was er in seine Bilder hineininterpretiert, findet er die Leiche.
Aber der Skandal, mit dem handelsübliche Krimis anfangen würden, ist in "Blow Up" überhaupt keiner. Der Impuls des Fotografen, seine Bilder mit der Wirklichkeit abzugleichen, zu belegen, was er gesehen hat, verliert sich in einem Wirbel aus viel Gleichgültigkeit, ein bisschen Paranoia und dem Verlangen einiger Unbekannter, die Bilder von Thomas ebenso wie die Leiche zum Verschwinden zu bringen.
Der gleichzeitig tief moralische, nihilistische und frivole Film spielt die Möglichkeit durch, dass wir gar nicht verstehen wollen, was wir in der hellen Kammer zu sehen bekommen. Dass tatsächlich eine Form der Schneeblindheit eintritt, die mit Acedia einhergeht.
Aber das wäre ja erst noch herauszufinden. Und auf dieses Herausfinden kann man schon gespannt sein.