Die islamische Diskussion heute ist stark von einem Säkularisierungsprozess beeinflusst

Thomas Philipp, Experte für den Vorderen Orient, über die Schwierigkeiten einer Demokratisierung des Nahen Ostens

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Führende deutsche Wissenschaftler diskutierten am vergangenen Wochenende beim "Dritten Mülheimer Nahost-Gespräch" über die Aussichten für eine Demokratisierung des Vorderen Orients. Stephan Lanzinger sprach am Rande dieser Tagung mit Thomas Philipp über Säkularismus, die Rolle des Islam und Demokratie in der arabischen Welt. Philipp ist in Erlangen Professor für Politik und Zeitgeschichte des Vorderen Orients.

In allen 22 arabischen Staaten gibt es keine wirkliche Demokratie. Ist der Islam daran schuld?

Thomas Philipp: Ich glaube, man muss das in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einbetten. Heute wird oft übersehen, dass bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in den politisch wichtigen Kreisen das Modell einer demokratischen nationalen Gemeinschaft stark war und dass die Hoffnung darauf sehr groß war, um dadurch zu Emanzipation und Fortschritt zu kommen. Es gab noch in den 20er Jahren sehr viele Parteien, die das förderten. Sie fragen, ob der Islam daran schuld sei oder nicht: Es ist bemerkenswert, dass der Islam hier sehr zur Seite gedrängt wurde. Es wurde gar nicht mit ihm diskutiert, sondern es wurde ein ganz neuer Entwurf dargestellt, der besonders auf Nationalismus basierte. Insofern gab es sehr viele Ansätze. Ägypten hat zwar in den 20er, 30er Jahren eine funktionierende parlamentarische Demokratie gehabt, aber man muss hinzufügen, dass alle diese Ansätze immer abgeblockt wurden, wenn sie nicht mit den Interessen der imperialistischen Mächte koinzidierten. Das fängt schon damit an, dass nach dem Ersten Weltkrieg den Arabern kein allgemeiner arabischer Staat gegeben wurde - wie versprochen -, sondern dass die Region aufgeteilt wurde. Ich glaube, diese geschichtliche Erfahrung ist sehr viel wesentlicher als die Frage, ob der Islam nun demokratisch ist oder nicht.

Das heißt, dass bereits in den 20er Jahren ein Säkularisierungsprozess eingesetzt hat. Nun hört man heute aber oft, dass Demokratie in der arabischen Welt nicht möglich ist, weil ein solcher Prozess nie stattgefunden habe.

Thomas Philipp: Ich meine, dass die islamische Diskussion heute stark von einem Säkularisierungsprozess. Beeinflusst ist. Nehmen Sie nur als Beispiel die Betonung der Gemeinde der Gläubigen im Gegensatz zur früheren Betonung des Kalifats. Die Souveränität der Umma - oder der Nation - spielt hier eine ganz neue Rolle. Selbst die Fundamentalisten sind gefangen in einem Säkularisierungsprozess, dem sie sich verweigern wollen, aber auf den sie auch eingehen und reagieren müssen.

Ist Säkularisierung überhaupt notwendig für Demokratie?

Thomas Philipp: Ich glaube ja. Hauptvoraussetzung ist, dass die legitime Souveränität vom Volk kommt und nicht von Gott, dass also Gesetze von Menschen gemacht, aber auch wieder abgeschafft werden können. Das bedarf einer Säkularisierung.

Was heißt das für die aktuelle Situation im Irak? Ist dort der Säkularismus nicht auf lange Sicht diskreditiert, da ja das Regime von Saddam Hussein zutiefst säkular war? Und müsste man dann nicht versuchen, islamische Gruppierungen mit einzubinden?

Thomas Philipp: Dass das Regime von Saddam Hussein höchst unerquicklich war, darüber besteht wohl kein Zweifel. Es war zwar säkular, aber nicht gerade demokratisch. Säkularismus allein bringt noch keine demokratische Herrschaftsform. Die Amerikaner haben jetzt einen Rat eingesetzt, der nach Gründen der Proportionalität eine gewisse Zahl von Schiiten, Kurden und sunnitischen Arabern einschließt. Auf Anhieb könnte man sagen: Ach, das ist schön demokratisch, alle sind vertreten. Aber das Gefährliche dabei ist, dass sich etwas festfährt wie im Libanon mit dem Proporzsystem, dass man letzten Endes nicht über weltanschauliche - sagen wir sozialistische oder kapitalistische - Vorstellungen mehr Politik machen kann, sondern nur noch über die Schiene, dass man Schiit, Kurde oder sunnitischer Araber ist. Und dann fährt sich eine Teilung der Gesellschaft fest, die - wie man im Libanon gesehen hat - keine Grundkonsensus herbeibringen kann, weil immer die religiösen Differenzen betont werden. Ich halte das also für ein ungeeignetes Instrument, ein demokratisches System einzuführen, denn hier werden permanente Merkmale, also dass man Kurde ist oder sunnitischer Araber oder Schiit, für politische Zwecke benutzt - und nicht Überzeugungen, Ideologien, Einsichten oder politische Diskussionen.

Sehen sie überhaupt positive Anzeichen für eine baldige Demokratisierung der arabischen Welt?

Thomas Philipp: Die erste Schwierigkeit ist, dass es ganz widersprüchlich ist, Demokratie per Gewalt von außen einzuführen. Das hat unter ganz bestimmten Umständen in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg funktioniert. Die Umstände im Irak sind ganz anders, insofern halte ich das für sehr schwierig.

Es gibt positive Ansätze wie Tunesien und Katar. Ich befürchte aber - und hier bin ich pessimistisch -, dass sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Grundbedingung nicht geändert hat, nämlich dass der Nahe Osten strategisch und wirtschaftlich viel zu wichtig ist, als dass die Großmächte oder eine Großmacht ihn sich selbst überlassen würden und den Gesellschaften den Raum gäben, sich selbst in eine demokratische Gesellschaft zu transformieren. Es wird immer wieder eingegriffen werden, weil andere Interessen vorrangig sind. Man sehe sich Saudi-Arabien an, mit dem die Amerikaner für 60 Jahre in Harmonie zusammengearbeitet haben. Jetzt ist es plötzlich passend zu sagen: Ach, das ist keine Demokratie. Das hat vorher nie gestört, im Gegenteil. Und da hat sich im Grunde nichts geändert.