Die kalifornische Ideologie Teil II

Mit dem Cyberspace geht die kalifornische Ideologie einher - eine seltsame und offenbar verführerische Verbindung zwischen dem anarchistischen Gedankengut der einstigen Hippies und dem marktorientierten Liberalismus der Konzerne und der Neuen Rechten. Barbrook und Cameron stellen die Widersprüche und Hintergründe dieser anti-staatlichen Ideologie vor, die zu einer neuen Apartheid der Informationsgesellschaft führen könnte, und fordern eine eigenständige politische Utopie der Europäer für die digitale Zukunft.

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Richard Barbrook und Andy Cameron sind Mitglieder des Hypermedia Research Centre der University of Westminster, London. Klicken Sie auf die Homepage des Instituts, wenn Sie sich für die Theorie und Praxis des Hypermedia Research Centres interessieren.

Der Mythos des freien Marktes

Nach dem Sieg der Gingrich-Partei bei den Wahlen im Jahre 1994 befindet sich diese rechte Version der kalifornischen Ideologie im Aufstieg. Aber die heiligen Prinzipien des ökonomischen Liberalismus werden durch die aktuelle Geschichte der Hypermedien untergraben. Die Bildtechnologien des Computers und des Netzes konnten beispielsweise nur mit der massiven staatlichen Unterstützung und dem enthusiastischen Engagement von Amateuren entwickelt werden. Privates Unternehmertum hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, aber es war nur Bestandteil einer gemischten Ökonomie.

Der erste Computer - die Differenzmaschine - wurde beispielsweise von kommerziellen Unternehmen entwickelt und gebaut. Doch ihre Realisierung wurde erst durch einen Zuschuß der britischen Regierung in Höhe von 17,470 Pfund ermöglicht, was 1834 ein kleines Vermögen war. Vom Colossus bis zum EDVAC, von den Flugsimulatoren bis zur Virtuellen Realität hing der Fortschritt in der Computertechnologie in entscheidenden Momenten von staatlichen Forschungsgeldern oder großen Aufträgen staatlicher Institutionen ab. IBM produzierte den ersten programmierbaren digitalen Computer erst, als die Firma vom Verteidigungsministerium während des Koreakrieges dazu aufgefordert wurde. Seitdem wurde die Entwicklung der aufeinanderfolgenden Computergenerationen direkt oder indirekt vom Verteidigungshaushalt der USA gefördert. Neben der staatlichen Hilfe hing die Entwicklung der Computertechnologie in gleichem Maße von der Beteiligung.

Auch die Geschichte des Internets widerspricht den Behauptungen der Ideologen des "freien Marktes". Während der ersten zwanzig Jahre seiner Existenz hing die Entwicklung des Netzes fast vollständig von der geschmähten amerikanischen Regierung ab. Große Summen an Steuergeldern flossen seitens des amerikanischen Militärs oder der Universitäten in die Herstellung der Netzinfrastruktur und subventionierten den Gebrauch seiner Dienste. Gleichzeitig wurden viele der entscheidenden Programme und Anwendungen des Netzes von Hobbyprogrammierern oder von Spezialisten in ihrer Freizeit ausgearbeitet. Das MUD-Programm beispielsweise, das Netzkonferenzen in Echtzeit ermöglicht, wurde von einer Studentengruppe entwickelt, die Fantasy-Spiele in einem Computernetzwerk spielen wollten.

Einer der seltsamsten Aspekte in der Rechtstendenz der kalifornischen Ideologie ist der Umstand, daß die Westküste selbst eine Schöpfung der gemischten Ökonomie ist. Mit Regierungsgeldern wurden Bewässerungssysteme, Schnellstraßen, Schulen, Universitäten und andere infrastrukturelle Einrichtungen gebaut, die das gute Leben in Kalifornien ermöglichen. An der Spitze dieser öffentlichen Förderungen stand der High-Tech-Industriekomplex, der über Jahrzehnte hinweg die größten Zuwendungen in der Geschichte erhalten hat. Die amerikanische Regierung hat Milliarden von Steuergeldern für den Kauf von Flugzeugen, Raketen, elektronischen Systemen und Atombomben von kalifornischen Unternehmen ausgegeben. Wer nicht von den Dogmen des "freien Marktes" geblendet war, lag es auf der Hand, daß die Amerikaner immer eine staatliche Wirtschaftsplanung hatten. Man nannte sie lediglich Verteidigungshaushalt. Gleichzeitig stammten die wesentlichen Elemente des Lebensstils der Westküste aus der langen Tradition der kulturellen Bohème. Auch wenn sie später kommerzialisiert wurden, entwickelten sich kollektive Medien, der "New Age" Spiritualismus, Surfen, Naturkost, Entspannungsdrogen, Popmusik und viele andere Formen der kulturellen Heterodoxie aus den entschieden nicht-kommerziellen Szenen der Universitäten, der Künstlergemeinschaften und Landkommunen. Ohne die alternative Kultur hätten die kalifornischen Mythen nicht ihre heutige Resonanz gefunden.

Die staatliche Subventionierung und das Engagement der Szene übte einen enormen, wenn auch nicht anerkannten und nicht berechenbaren positiven Einfluß auf die Entwicklung von Silicon Valley und anderen High-Tech-Industrien aus. Kapitalistischen Unternehmern ist oft eine übersteigerte Wertschätzung ihrer Bedeutung eigen, während sie die Beiträge seitens des Staates, ihrer Mitarbeiter oder anderer Menschen kaum zu würdigen wissen. Jeder technische Fortschritt ist kumulativ. Er hängt von den Folgen einer kollektiven Geschichte ab und muß, zumindest teilweise, als kollektive Leistung gewürdigt werden. Wie in jedem industrialisierten Land griffen die amerikanischen Unternehmer auf Maßnahmen des Staates und auf die Szene zurück, um ihre Firmen aufzubauen und fortzuentwickeln. Als japanische Unternehmen sich anschickten, den amerikanischen Mikrochipmarkt zu übernehmen, hatten die liberalistischen Computerkapitalisten keine Probleme damit, sich einem vom Staat unterstützten Kartell anzuschließen, das die Eindringliche aus dem Osten vertreiben sollte. Bill Gates glaubte, daß Microsoft den Vertrieb von "Windows '95" solange aufschieben mußte, bis in es Netzprogramme eingearbeitet waren, die die Partizipation der Netzszene ermöglichten. Wie in anderen Sektoren der modernen Wirtschaft ist die Frage, der sich die aufkommende Hypermedia-Industrie stellen muß, nicht, ob sie sich als eine gemischte Ökonomie entwickelt, sondern lediglich, welcher Art diese gemischte Ökonomie sein wird.

Freiheit ist Sklaverei

Wenn seine heiligen Regeln also von der profanen Geschichte widerlegt wurden, warum haben dann die Mythen des "freien Marktes" die Vertreter der kalifornischen Ideologie so beeinflußt? Innerhalb einer Kultur des Vertrages führen die High-Tech-Handwerker ein schizophrenes Leben. Einerseits können sie nicht den Vorrang des Marktes über ihr Leben in Frage stellen, andererseits ärgern sie sich über Versuche derjenigen, die Machtpositionen einnehmen, sich in ihre individuelle Autonomie einzumischen. Mit der Vermischung der Neuen Linken und der Neuen Rechten sorgt die kalifornische Ideologie für eine mystische Auflösung der widersprüchlichen Haltungen, die die Mitglieder der virtuellen Klasse einnehmen. Vor allem der anti-staatliche Affekt stellt die Mittel bereit, radikale und reaktionäre Ideen über den technischen Fortschritt zu versöhnen.

Während die Neue Linke die Regierung kritisiert, weil sie den militärisch-industriellen Komplex unterstützt, greift die Neue Rechte den Staat an, weil er die spontane Ausbreitung neuer Technologien durch den Wettbewerb am Markt reguliert. Trotz der zentralen Rolle, die die öffentliche Hand für die Entwicklung der Hypermedia-Industrie spielte, predigen die kalifornischen Ideologen die anti-staatliche Lehre eines High-Tech-Liberalismus: das bizarre Mischmasch eines anarchistischen Hippieweltanschauung mit einem ökonomischen Liberalismus und mit einem großen Schuß an technologischem Determinismus.

Anstatt den wirklich existierenden Kapitalismus zu verstehen, ziehen die Gurus der Neuen Linken und der Neuen Rechten es vor, konkurrierende Versionen einer digitalen "Jeffersonschen Demokratie" zu vertreten. Beispielsweise glaubt Howard Rheingold aus der Perspektive der Neuen Linken, daß es die elektronische Agora den Individuen ermöglicht, die Art der medialen Freiheit auszuüben, die von den Founding Fathers vertreten wurde. Ganz ähnlich behauptet die Neue Rechte, daß die Befreiung von allen regulativen Beschränkungen es den privaten Unternehmen ermöglichen wird, eine der "Jeffersonschen Demokratie" würdige mediale Freiheit zu schaffen.

Der Triumph dieses nach rückwärts gerichteten Futurismus ist eine Konsequenz der nicht erfolgten Reform der USA während der späten 60er und der frühen 70er Jahre. Wie bei der Auseinandersetzung im People's Park trat der Kampf zwischen dem amerikanischen Establishment und der Gegenkultur in eine abwärts gerichtete Spirale der Gewalt ein. Während die Vietnamesen durch großes menschliches Leid es erreichten, die amerikanischen Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben, wurden die Hippies und ihre Verbündeten in den schwarzen Bürgerrechtsbewegungen durch eine Kombination staatlicher Repression und kultureller Mitarbeit zerbrochen. Die kalifornische Ideologie verinnert die Folgen dieser Niederlage für die Mitglieder der virtuellen Klasseauf perfekte Weise. Selbst wenn sie die von den Hippies erzielten Freiheiten genießen, sind die meisten nicht mehr aktiv mit der Verwirklichung von "Ökotopia" beschäftigt. Anstatt offen gegen das System zu rebellieren, akzeptieren diese High-Tech-Handwerker jetzt, daß individuelle Freiheit nur unter den Bedingungen des technischen Fortschritts und des "freien Marktes" erreicht werden kann. In vielen Cyberpunkgeschichten wird dieser asoziale Liberalismus durch die zentrale Figur des Hackers dargestellt, der als einsames Individuum in den virtuellen Welt der Information um sein Überleben kämpft.

Die Rechtstendenz der kalifornischen Ideologie wird durch die unhinterfragte Akzeptanz des liberalen Ideals des selbstgenügsamen Individuums unterstützt. Im populären amerikanischen Geschichtsbild entstand die Nation in der Wildnis durch die Aktivitäten von Individuen, die in Freiheit ihrem Gewinn nachstrebten - durch die Trapper, Cowboys, Prediger und Siedler im Wilden Westen. Die amerikanische Revolution hatte selbst das Ziel, die Freiheiten und das Eigentum der Individuen gegen unterdrückende Gesetze und ungerechte Steuern eines fremden Königs zu schützen. Für die Neue Linke und die Neue Rechte stellen die ersten Jahre der amerikanischen Republik ein mächtiges Modell für ihre konkurrierende Versionen der individuellen Freiheit bereit. Aber esgibt im Zentrum dieses ursprünglichen amerikanischen Traums einen tiefen Widerspruch: den einzelnen ging es in dieser Zeit nur durch das Leiden von anderen besser. Das wird nirgendwo deutlicher als im Leben von Thomas Jeffersion, dem zentralen Symbol der kalifornischen Ideologie.

Thomas Jefferson war es, der die mitreißende Berufung auf Demokratie und FReiheit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung schrieb und gleichzeitig der Eigentümer von nahezu 200 Sklaven war. Als Politiker befürwortete er das Recht der amerikanischen Bauern und Handwerker, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, ohne den Zwängen des deudalistischen Europa unterworfen zu sein. Wie andere Liberale in dieser Zeit war er der Überzeugung, daß politische Freiheiten gegenüber autoritäten Regierungen einzig durch einen weitgestreuten Besitz von Privateigentum geschützt werden können. Die Bürgerrechte wurden von diesem grundlegenden Naturrecht abgeleitet. Um die Autonomie zu fördern, schlug er vor, daß jedem Amerikaner als Garantie seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit mindestens 50 Morgen Land gegeben werden sollten. Während er die kleinen Bauern und Geschäftsleute des Wilden Westens idealisierte, war Jefferson in Wirklichkeit jedoch ein Plantagenbesitzer aus Virginia, der von Arbeit seiner Sklaven lebte. Obgleich die "besondere Rechtslage" des Südens sein Gewissen beunruhigte, glaubte er weiterhin, daß die Naturrechte des Menschen das Recht einschlossen, Menschen als Privateigentum zu besitzen. In der Jeffersonschen Demokratie basierte die Freiheit der Weißen auf der Sklaverei der Schwarzen.

Vorwärts in die Vergangenheit

Trotz der Emanzipation der Sklaven und den Siegen der Bürgerrechtsbewegung steht die Rassentrennung noch immer im Zentrum der amerikanischen Politik, besonders an der Westküste. In den kalifornischen Gouverneurswahlen siegte 1994 Pete Wilson, der republikanische Kandidat, durch eine bösartige Kampagne gegen die Immigranten. Auf der nationalen Ebene basierte der Sieg der republikanischen Partei von Gingrich bei den Kongreßwahlen auf der Mobiliserung der "wütenden weißen Männer" gegen die unterstellte Bedrohung durch schwarze Wohlstandsdiebe, Einwanderer aus Mexiko und andere dreiste Minoritäten. Diese Politiker ernteten in den Wahlen die Folgen der wachsenden Polarisierung zwischen der hauptsächlich weißen und wohlhabenden Bevölkerung der suburbanen Zonen, die zum großen Teil zur Wahl geht, und den größtenteils nicht-weißen und ärmeren Bewohnern der Innenstädte, die meistens nicht wählen.

Auch wenn sich die kalifornischen Ideologen ein paar der Hippie-Ideale bewahrt haben, finden sich viele von ihnen außerstande, eine klare Position gegen die Teilungspolitik der Republikaner zu beziehen. Der Grund liegt in dem Sachverhalt, daß die High-Tech- und Medienfimen ein zentrales Element in der auf die Wahlen ausgerichteten Koalition der Neuen Rechten bilden. Kapitalisten und gut bezahlte Angestellte fürchten teilweise, daß das offene Zugeständnis der Subventionierung ihrer Unternehmen seitens der öffentlichen Hand Steuererhöhungen rechtfertigen könnten, um die verzweifelt benötigten Ausgaben für das Gesundheitssystem, den Schutz der Umwelt, den Bau von Wohnungen, die öffentlichen Verkehrsmittel und die Ausbildung bezahlen zu können. Aber entscheidender ist, daß viele Mitglieder der virtuellen Klasse durch die liberalistische Rhetorik und den technologischen Enthusiasmus der Neuen Rechten: verführt werden wollten. Da sie für High-Tech- und Medienfirmen arbeiten, würden sie gerne glauben, daß der elektronische Marktplatz irgendwie Amerikas soziale und wirtschaftliche Probleme ohne Opfer auf ihrer Seite lösen könnte. Gefangen in den Widersprüchen der kalifornischen Ideologie, ist Gingrich, wie es ein Beitrag in Wired formulierte, gleichzeitig ihr Freund und Feind .

In den USA ist eine größere Verteilung des Reichtums für das langfristige wirtschaftliche Wohlergehen des Landes dringend nötig. Aber das richtet sich gegen die kurzfristigen Interessen der reichen Weißen, zu denen auch viele Mitglieder der virtuellen Klasse gehören. Anstatt ihren schwarzen und lateinamerikanischen Nachbarn etwas abzugeben, ziehen sich die Yuppies lieber in ihre reichen Vorstädte zurück, die von bewaffneten Wächtern beschützt werden und mit ihren privaten Fürsorgeeinrichtungen sicher sind. Die Ausgeschlossenen partizipieren am Informationszeitalter nur als billiges, nicht gewerkschaftlich organisiertes Arbeitsreservoir für die ungesunden Firmen der Chiphersteller im Silicon Valley. Selbst der Bau des Cyberspace wurde zum Bestandteil der Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft in antagonistische und durch die Rassenangehörigkeit bestimmte Klassen. Die Bewohner der armen innenstädtischen Zonen, bereits von den profithungrigen Telekommunikationsunternehmen an den Rand geschoben, werden durch Geldmangel vom Zugang zu den neuen Online-Diensten abgehalten. Im Gegensatz dazu können die Mitglieder der virtuellen Klasse und andere Spezialisten spielen, daß in der Hyperrealität Cyberpunks seien, ohne ihren verarmten Nachbarn nch begegnen zu müssen. Mit der sich immer weiter vergrößernden sozialen Kluft wird eine andere Apartheid zwischen "Information-rich" und den "Information-poor" geschaffen. In dieser High-Tech-Jeffersonschen Demokratie geht die Unterscheidung zwischen Herren und Sklaven in eine neue Form über.

Cyborg-Herren und Robotersklaven

Die Angst vor der rebellierenden "Unterschicht" hat jetzt die grundlegendste Überzeugung der kalifornischen Ideologie zersetzt: ihren Glauben an das emanzipatorische Potential der neuen Informationstechnologien. Obwohl die Anhänger der elektronischen Agora und des elektronischen Marktes die Befreiung der Individuen von den staatlichen Hierarchien und privaten Monopolen versprechen, läßt die soziale Polarisation der amerikanischen Gesellschaft eine noch beklemmendere Vision der digitalen Zukunft entstehen. Die Technologien der Freiheit werden zu Maschinen der Herrschaft.

Auf seinem Grundbesitz in Monticello erfand Jefferson viele ausgeklügelte Mittel für seinen Haushalt, wie beispielsweise einen "stummen Diener", der das Essen von der Küche in den Speiseraum brachte. Indem er die Kontakte mit seinen Sklaven durch Technik vermittelte, konnte dieser revolutionäre Individualist es vermeiden , der eigenen Abhängigkeit von der erzwungenen Arbeit seiner Mitmenschen ins Auge schauen zu müssen. Im späten 20. Jahrhundert wird Technik wieder dazu eingesetzt, um den Unterschied zwischen den Herren und den Sklaben zu verstärken.

Nach einigen Visionären wird die Suche nach einer Perfektionierung des Geistes, des Körpers und des Verstandes unvermeidlich zur Heraufkunft des Post-humanen führen - zu einer biotechnologischen Manifestation der sozialen Privilegien der virtuellen Klasse.

Während die Hippies Selbstverwirklichung als Teil der gesellschaftlichen Emanzipation betrachteten, suchen die High-Tech-Handwerker im zeitgenössischen Kalifornien die individuelle Selbstverwirklichung lieber in der Therapie, im Spiritualismus, in der Ausbildung oder anderen narzißtischen Zielen. Ihr Wunsch, in die geschützte suburbane Zone des Hyperrealen zu fliehen, ist nur ein Aspekt dieser tiefen Obsession am Selbst . Eingebettet in postulierte Fortschritte der "Künstlichen Intelligenz" phantasierte man über die Aufgabe der menschlichen Wetware, um lebendige Maschinen zu werden. Wie Virek und die Tessier-Ashpools in Gibsons "Sprawl"-Erzählungen glaubt man, daß einem ein gesellschaftliches Privileg Unsterblichkeit verleihen wird. Anstatt die Emanzipation der Menschheit zu prophezeien, kann diese Form des technologischen Determinismus nur eine Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung bieten.

Trotz dieser Phantasien bleiben die weißen Menschen in Kalifornien abhängig von ihren dunkelhäutigeren Mitmenschen in ihren Industrien, bei der Ernte, der Versorgung ihrer Kinder und der Pflege ihrer Gärten. Nach den Unruhen in Los Angeles fürchten sie mehr und mehr, daß diese "Unterschicht" eines Tages ihre Freiheit fordern wird. Wenn man sich auf menschliche Sklaven letztlich nicht verlassen kann, müssen mechanische erfunden werden. Die Suche nach dem Heiligen Gral der "Künstlichen Intelligenz" offenbart diesen Wunsch nach einem Golem - nach einem starken und loyalen Sklaven, dessen Haut wie die Erde gefärbt ist und dessen Innereien aus Sand bestehen. Wie in Asimovs Robotergeschichten stellen sich die Träumer der technischen Utopien die Möglichkeit vor, Sklavenarbeit durch unbelebte Maschinen zu realisieren. Aber obwohl Technologie Arbeitsleistung ersetzen oder erweitern kann, vermag sie niemals die Notwendigkeit zu ersetzen, daß Menschen diese Maschinen erfinden, erbauen und reparieren. Sklavenarbeit kann man nicht ohne jemanden verwirklichen, der versklavt wird.

In der ganzen Welt wurde die kalifornische Ideologie als eine optimistische und emanzipatorische Form des technologischen Determinismus angenommen. Aber diese utopische Phantasie der Westküste beruht auf ihrer Blindheit gegenüber - und Abhängigkeit von - der sozialen und rassischen Polarisation der Gesellschaft, in der sie entstanden ist. Trotz ihrer radikalen Rhetorik ist die kalifornische Ideologie pessimistisch, was wirklichen sozialen Wandel angeht. Anders als die Hippies kämpfen ihre Anhänger nicht um den Aufbau von "Ökotopia" und helfen nicht einmal dabei, den New Deal wiederzubeleben. Der soziale Liberalismus der Neuen Linken und der wirtschaftliche Liberalismus der Neuen Rechten sind hingegen zu einem unklaren Traum einer High-Tech-Version der "Jeffersonschen Demokratie" verschmolzen. Dieser Retrofaschismus könnte, großzügig interpretiert, die Vision einer kybernetischen "Frontier" darstellen, wo die High-Tech-Handwerker ihre individuelle Selbstverwirklichung entweder auf der elektronischen Agora oder auf dem elektronischen Marktplatz finden. Wie der Zeitgeist der virtuellen Klasse ist die kalifornische Ideologie aber gleichzeitig ein ausschließendes Glaubenssystem. Wenn nur wenige Menschen Zugang zu den neuen Informationstechnologien besitzen, kann die Jeffersonsche Demokratie eine High-Tech-Version der Plantagenökonomie des alten Südens werden. Wenn man die Mehrdeutigkeit der kalifornischen Ideologie berücksichtigt, ist ihr technologischer Determinismus nicht einfach optimistisch und emanzipatorisch. Sie ist gleichzeitig eine zutiefst pessimistische und repressive Zukunftsvision.

Es gibt Alternativen

Trotz ihrer großen Widersprüche glauben Menschen auf der ganzen Welt, daß die kalifornische Ideologie den einzigen Weg zur Zukunft darstellt. Mit der wachsenden Globalisierung der Weltwirtschaft empfinden viele Mitglieder der virtuellen Klasse eine größere Nähe zu ihren kalifornischen Kollegen als zu anderen Werktätigen in ihren eigenen Ländern. Eine Diskussion ist aber in Wirklichkeit niemals besser möglich und auch notwendiger gewesen. Die kalifornische Ideologie wurde von einer Gruppe von Menschen entwickelt, die in einem bestimmten Land mit einer spezifischen Mischung von sozioökonomischen und technologischen Optionen lebten. Ihre eklektische und widersprüchliche Verbindung einer konservativen Ökonomie und dem Radikalismus der Hippies spiegelt die Geschichte der Westküste wider, aber nicht die unausweichliche Zukunft der übrigen Welt. Die anti-staatlichen Annahmen der kalifornischen Ideologen sind beispielsweise reichlich beschränkt. In Singapur organisiert die Regierung nicht nur den Bau eines Glasfasernetzes, sondern versucht auch, die ideologische Eignung der über es verteilten Information zu kontrollieren. Wenn man von dem wesentlich größeren Wachstum der asiatischen "Tiger" ausgeht, wird die digitale Zukunft nicht notwendigerweise in Kalifornien beginnen.

Trotz der Empfehlungen des Bangemann-Berichtes sind die meisten europäischen Behörden gewillt, mit der Entwicklung der neuen Informationstechnologien eng verbunden zu sein. Minitel, das erste erfolgeiche Online-Netzwerk der Welt, war ein durchdachtes Produkt des französischen Staates. Als Reaktion auf einen offiziellen Bericht über die möglichen Auswirkungen der Hypermedien beschloß die Regierung, Mittel für die Entwicklung von interessanten Technologien aufzuwenden. Ab 1981 vertrieb die französische Telekom das Minitel-System, das eine Mischung aus textbasierter Information und Kommunikationsdiensten anbot. Als Monopol konnte die staatliche Telekom eine kritische Masse an Nutzern für sein bahnbrechendes Onlinesystem gewinnen, indem sie jedem kostenlos einen Terminal gab, der auf ein Telefonbuch verzichtete. Nachdem derMarkt geschaffen war, konnten kommerzielle und kommunale Anbieter genügend Kunden oder Teilnehmer finden, um im System Erfolg zu haben. Seitdem haben Millionen Franzosen zufrieden Tickets gebucht, miteinander kommuniziert und sich online politisch organisiert, ohne zu merken, daß sie dadurch die liberalistischen Regeln der kalifornischen Ideologie verletzt haben.

Weit davon entfernt, den Staat zu dämonisieren, glaubt die überwältigende Mehrheit der französischen Bevölkerung, daß für eine funktionierende und gesunde Gesellschaft ein größerer Einfluß der öffentlichen Hand notwendig sei. In den letzten Präsidentschaftswahlen mußte fast jeder Kandidat, zumindest rhetorisch, einen größeren staatlichen Einfluß vertreten, um den Ausschluß der Arbeitslosen und der Obdachlosen zu beenden. Anders als ihr amerikanisches Äquivalent zielte die Französische Revolution über den wirtschaftlichen Liberalismus hinaus auf eine Volksdemokratie. Nach dem Sieg der Jakobiner über ihre liberalen Gegner im Jahre 1792 wurde die demokratische Republik in Frankreich zur Verkörperung des "allgemeinen Willens". Deswegen war man der Überzeugung, daß der Staat die Interessen aller Bürger verteidigt und nicht nur die Rechte der einzelnen Grundbesitzer schützt. Der Diskurs der französischen Politik ermöglicht eine kollektive Handlung seitens des Staates, um Probleme zu lindern oder gar zu beseitigen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist. Während die kalifornischen Ideologen versuchen, das Geld der Steuerzahler zu verleugnen, mit die Entwicklung der Hypermedien subventioniert wurde, kann die französische Regierung offen in diesen Wirtschaftsbereich eingreifen.

Obwohl die Technologie mittlerweile veraltet ist, widerlegt die Geschichte von Minitel ganz offensichtlich die anti-staatlichen Vorurteile der kalifornischen Ideologen und der Bangemann-Komission. Die digitale Zukunft kann eine Mischung aus staatlicher Intervention, kapitalistischem Unternehmertum und alternativer Kultur sein. Wenn der Staat die Entwicklung der Hypermedien fördern kann, dann könnte man auch bewußt dafür sorgen, daß die Entstehung einer gesellschaftlichen Apartheid zwischen den "Information rich" und den "Information poor" verhindert wird. Indem sie nicht alles den Unwägbarkeiten des Marktes anheimgeben, könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten sicherstellen, daß jeder Bürger die Möglichkeit besitzt, mit einem breitbandigen Glasfasernetz zum geringsten möglichen Preis verbunden ist.

Zuallererst würde dies eine sehr notwendige Maßnahme zur Schaffung von Arbeitsplätzen in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit sein. Nach dem Beschäftigungsmaß von Keynes steht nichts im Wege, Menschen Löcher in die Erde graben zu lassen und sie wieder aufzufüllen. Wichtiger ist aber, daß die Verlegung eines Glasfasernetzes in die Häuser und Unternehmen jedem Zugang zu neuen Online-Diensten verschaffen und eine große pulsierende Öffentlichkeit gemeinsamer Fachkenntnis erzeugen könnte. Das würde es der Industrie ermöglichen, besser zu arbeiten und neue Produkte zu vermarkten. Es würde sicherstellen, daß Ausbildung und Information jedem zugänglich sind. Ohne Zweifel wird die "Datenautobahn" einen Massenmarkt für Unternehmen schaffen, um über das Netz bereits existierendes Informationsmaterial - Filme, Fernsehprogramme, Musik und Bücher - zu verkaufen. Wenn gleichzeitig einmal die Menschen hypermediale Produkte ebenso verteilen wie empfangen können, wird sich schnell ein Aufblühen von öffentlichen Medien und Interessengruppen einstellen. Damit das alles geschehen kann, wird eine staatliche Intervention notwendig sein, um sicherzustellen, daß alle Bürger an der digitalen Zukunft teilhaben.

Die Wiedergeburt der Moderne

Selbst wenn dies nicht allein in ihrer Hand liegt, müssen die Europäer jetzt ihre eigene Zukunftsvision geltend machen. Es gibt verschiedene Wege zur Informationsgesellschaft, und davon sind einige erstrebenswerter als andere. Um eine aus Kenntnis erfolgende Entscheidung zu treffen, müssen die europäischen High-Tech-Handwerker eine kohärentere Analyse der Auswirkungen der Hypermedien durchführen als jene, die man in den Mehrdeutigkeiten der kalifornischen Ideologie findet. Die Mitglieder der europäischen virtuellen Klasse müssen ihre eigene und unterschiedliche Selbstidentität schaffen.

Dieses alternative Zukunftsverständnis geht von der Zurückweisung jeder Form der gesellschaftlichen Apartheid innerhalb und außerhalb des Cyberspace aus. Jedes Entwicklungsprogramm für Hypermedien muß sicherstellen, daß die gesamte Bevölkerung Zugang zu den neuen Online-Diensten besitzt. Anstatt des Anarchismus der Neuen Linken oder der Neuen Rechten muß eine europäische Strategie zur Weiterentwicklung der Informationstechnologien offen die Unvermeidbarkeit irgendeiner Art der gemischten Ökonomie anerkennen - die kreative und widersprüchliche Vermischung staatlicher, unternehmerischer und subkultureller Initiativen. Die Unbestimmheit der digitalen Zukunft ist eine Folge der Allgegenwart dieser gemischten Ökonomie in der modernen Welt. Niemand weiß genau, worin die jeweils eigenen Stärken jeder Komponente sein werden, aber eine staatliche Aktivität kann sicherstellen, daß keine gesellschaftliche Gruppe vom Cyberspace willentlich ausgeschlossen wird.

Eine europäische Strategie für das Informationszeitalter muß auch die kreativen Kräfte der High-Tech-Handwerker feiern. Weil ihre Arbeit nicht herunterqualifiziert oder mechanisiert werden kann, haben die Mitglieder der virtuellen Klasse einen großen Einfluß auf ihre Arbeit. Anstatt uns dem Fatalismus der kalifornischen Ideologie zu unterwerfen, sollten wir die promethischen Möglichkeiten der Hypermedia nutzen. In den Grenzen der gemischten Ökonomie können die High-Tech-Handwerker etwas ganz Neues erfinden, das noch in keiner Science-Fiction-Erzählung vorhergesagt wurde. Diese innovativen Formen des Wissens und der Komunikation wird die Leistungen von anderen, darunter auch Aspekte der kalifornischen Ideologie vereinen. Jetzt ist es für jede Bewegung der gesellschaftlichen Emanzipation undenkbar, die Forderungen des Feminismus, der Drogenkultur, der Homosexuellen, der ethnischen Identität und ähnliche Themen auszuschließen, denen die Radikalen der Westküste erstmals Geltung verliehen haben. Ganz ähnlch wird jeder Versuch, Hypermedien in Europa weiter zu entwickeln, etwas von dem unternehmerischen Ehrgeiz und der Haltung der Machbarkeit benötigen, die von der kalifornischen Neuen Rechten gefeiert werden. Aber gleichzeitig bedeutet die Fortentwicklung der Hypermedien Innovation, Kreativität und Erfindungsgeist. Für alle Aspekte der digitalen Zukunft gibt es keine Vorläufer.

Als Wegbereiter des Neuen müssen sich die High-Tech-handwerker mit der Theorie und Praxis der bildenden Kunst wieder in Verbindung setzen. Sie sind nicht nur Angestellte von kybernetischen Unternehmen oder werden dies sein. Wenn sie die Erfahrungen der Saint-Simonisten und Konstruktivisten berücksichtigen, können die High-Tech-Handwerker eine neue Maschinenästhetik des Informationszeitalters schaffen. Beispielsweise haben Musiker Computer verwendet, um rein digitale Musikformen wie Jungle oder Techno zu entwickeln. Interaktive Künstler haben die Möglichkeiten der CD-ROM-Technik wie in Anti-Rom von Sass erforscht. Das Hypermedia Research Center hat einen experimentellen virtuellen und sozialen Raum entwickelt, der J's Joint heißt. In jeder Hinsicht versuchen die Künstleringenieure, die Beschränkungen der Technologie und ihrer eigenen Kreativität zu erweitern. Vor allem aber sind diese neue Ausdrucks- uns Kommunikationsformen mit der weiter gefaßten Kultur verbunden. Die Entwickler der Hypermedien müssen die Möglichkeit der rationalen und bewußten Kontrolle über die Gestalt der digitalen Zukunft wieder geltend machen. Im Gegensatz zur elitären Position der kalifornischen Ideologie sollten die europäischen Künstleringenieure einen Cyberspace verwirklichen, der alle einschließt und universal ist. Jetzt ist die Zeit für die Wiedergeburt der Moderne gekommen.