Die längst überfällige Renaissance des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan

"Jeder erlebt viel mehr, als er versteht. Doch gerade das Erleben beeinflusst weit mehr als das Verstehen unser Verhalten."

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Als vor fast sieben Jahren, also im Frühjahr 1993 die erste Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift WIRED erschien, stammte das mehrseitige, in großen Lettern gedruckte Intro von einem Mann, den sich die Redaktion zum "Schutzheiligen" erwählt hatte und der bereits 13 Jahre tot war: Marshall McLuhan. "Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien", konnten wir dort lesen, "ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht ... Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen." Die Sätze stammten aus Marshall McLuhans Buch "Understanding Media/Die magischen Kanäle" und waren 30 Jahren alt. Was WIRED damals damit einläutete war nichts geringes als das "Zeitalter der digitalen Revolution" - und ganz nebenbei führte es zu einer Renaissance von McLuhan und seinem Werk.

Marshall McLuhan, Kanadier, Jahrgang 1911, eigentlich Professor für englische Literatur, war alles andere als ein "ernsthafter Akademiker", auch wenn seine Laufbahn und damit sein Leben immer "akademisch" blieben. So bleibt auch das lobenswerte Unterfangen des kanadischen Journalisten Philip Marchand, McLuhans Leben in eine Biografie zu fassen, so langatmig und trostlos, wie ein akademisches Leben es nun mal per se ist. McLuhan selbst, erzkatholisch, aus einfachen Verhältnissen stammend, immer gleichzeitig mit 1000 Projekten, Büchern und Ideen beschäftigt, ein gruseliger und besorgter Familienvater (6 Kinder), von seinen "akademischen" Kollegen als Scharlatan verrufen, von der Werbeindustrie missverstanden und zugleich geschätzt, und in seinen Äußerungen immer radikal, hätte es mit seiner eigenen Biografie wohl so gehandhabt, wie er selbst zu lesen pflegte: Immer nur die rechte Seite lesen, weil sich der Autor ohnehin ständig wiederholt.

Trotzdem ist Marchands Buch natürlich wichtig. Nicht nur, weil es McLuhans Weg wirklich liebevoll und sorgfältig nachzeichnet und viele Details enthält, die bisher nicht bekannt waren. Sondern ganz einfach, weil es dem grandiosen Medientheoretiker McLuhan, seinem Denken und seinen Ideen einen weiteren Weg ins unsere Zeit öffnet. Und nichts haben wir in einem Moment, in dem offenbar das Web als Allheilmittel und als neuen Wirtschaftsfaktor dargestellt werden soll, bei dem es nur noch darum geht, wie man wem möglichst viel Geld abnimmt, nötiger, als ein grundlegendes Verständnis des eigentlichen Mediums. Für McLuhan ist bekanntlich "das Medium die Botschaft"!

Darin war sich der unglaublich belesene McLuhan nicht nur ganz sicher, sondern er meinte auch zu wissen, warum dies so war. In seinem Grundlagenwerk "Understanding Media" zeichnete er 1964 die Geschichte und Entwicklung der Medien nach und untersuchte ihre grundsätzliche Beschaffenheit, ihre Strukturen und ihre Auswirkungen. McLuhans Schluss: Für ihn stellten Medien eine Erweiterung der menschlichen Organe und Sinne dar, die dazu dient, "Macht und Geschwindigkeit zu vergrößern." Seine Thesen sind heute genauso radikal wie vor 35 Jahren, nur betrachten wir sie heute in einem anderen Licht: "Der eigentliche, totale Krieg ist zu einem Informationskrieg geworden." Wir erinnern uns nicht nur an CNN und den Irak-Krieg oder an die verschiedenen "Infowar"-Szenarien, die momentan überall auf der Welt von den Militärs erprobt werden. Natürlich überriss McLuhan, was er da eigentlich formulierte, und so ging es ihm auch eher um die Auswirkungen seiner Erkenntnisse, denn um das Beharren auf einem Leitmotiv: "Denn neue Geschwindigkeit und Macht sind nie vereinbar mit bestehenden räumlichen und gesellschaftlichen Ordnungen."

Doch "Understanding Media", das eigentlich auf einer Forschungsarbeit beruht, bietet weit mehr. Nämlich ein tiefgreifendes Verstehen der Medien, die aus unserem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken sind und eigene Wirklichkeiten schaffen. Einen Satz wie diesen, und das Buch strotz nur so von "Gedankensteinen", dürfen wir uns auf der Zunge zergehen lassen: "... ist ganz einfach die Tatsache, dass auf dem Sektor der Informationsbewegung die 'zu leistende Arbeit' in Wirklichkeit nichts anderes als die Informationsbewegung ist. Nichts anderes, als Menschen durch ausgesuchte Informationen miteinander in Beziehung zu bringen, bildet die Hauptquelle des Reichtums im Zeitalter der Elektrizität."

1963 gelang es McLuhan in Toronto das Institute for Culture and Technology zu gründen, das heute noch besteht. Bereits 1962 legte er sein Buch "The Gutenberg-Galaxy" vor, in dem er die Festschreibung der gesprochenen Sprache in ein statisches Alphabet, die Gutenbergschen Drucklettern, untersuchte und dabei keineswegs das Ende des Buchzeitalters proklamierte: "Gutenberg machte aus jedem einen Leser. Xerox machte aus jedem einen Verleger". In der Folge machen heute Computer und ein Internetzugang aus jedem dazu befähigten Nutzer einen Autor, einen Publizist und, wenn gewünscht, wieder einen Verleger.

Von 1967-1968 lehrte McLuhan an der Fordham University in New York und erlebte in der Folge seiner regen Publikationstätigkeit den Höhepunkt seines öffentlichen Ruhmes. Er zierte das Titelbild des "Rolling Stone", wurde im "Playboy" interviewt, trat in Fernsehshows auf, wurde zum Star der New Yorker High Society und legte sein spektakulärstes Buch vor: "The Medium is the Massage". McLuhans Kernaussage, die Gesellschaft werde immer stärker durch das Wesen eines Mediums geprägt, denn durch den Inhalt, war praktisch eine Wiederholung aus "Understanding Media". Doch nun wollte es jeder hören: "Das Rad ist eine Erweiterung des Fußes, das Buch ist eine Erweiterung des Auges. Die Kleidung, eine Erweiterung der Haut, die elektrische Schaltungstechnik, eine Erweiterung des Zentralnervensystems".

Danach geriet der wohl streitbarste und visionärste Kommunikationswissenschaftler Kanadas in Vergessenheit, mal abgesehen von einem Kurzauftritt in Woody Allens "Stadtneurotiker" (1978). Sein letztes Jahr musste für den immer zu einem Streitgespräch aufgelegten McLuhan schrecklich gewesen sein. Als Folge eines Schlaganfalls, dem er am 31. Dezember 1980 erlag, hatte er die Fähigkeit zu Sprechen verloren! Erst 1989 in Amerika und noch später in Deutschland, 1995, erschien McLuhans letztes Buch, an dem er bis zum seinem Tod gearbeitet hatte: "The Global Village - Der Weg der Mediengesellschaft in das 12. Jahrhundert". "Das Niederlassungsunternehmen der Zukunft wird sphärischen Charakter annehmen ... Die private Identität, die an eine spezifische Zeit und einen spezifischen Ort geknüpft war, ist für immer verloren." Das globale Dorf hat dank der "elektronischen Interdependenz" wieder Einzug auf unserem Planeten gehalten.

Marshall McLuhan ist sicherlich ein streitbarer Mann. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Drucker beschreibt ihn so: "Vor gut vierzig Jahren verliess ich die Tagung, auf der ich McLuhan zum ersten Mal begegnet war, mit zwei viel älteren und sehr würdigen Kollegen. "Wer ist das, der eben gesprochen hat?" fragte ich. "Sie meinen wohl McLuhan", sagte einer der beiden Professoren, "das ist ein wilder Mann". "Das ist er allerdings", sagte der andere Kollege, "und noch dazu höchst unbequem. Aber er ist doch der einzige, der in diesen drei Tagen hier etwas Bedeutendes und Hörenswertes gesagt hat".

Marshall McLuhans Bücher:

Understanding Media/Die magischen Kanäle, (1964), Verlag der Kunst, 540 S., DM 28,-, als Econ Taschenbuch fürs Frühjahr angekündigt, DM 16,90.
The Gutenberg-Galaxy/Die Gutenberg-Galaxis, (1962), Addison-Wesley Verlag, 420 S., DM 48,-.
Die mechanische Braut: Volkskultur des industriellen Menschen, (1951), Verlag der Kunst, 254 S., DM 48,-.
Zusammen mit Quentin Fiore: The Medium is the Massage/Das Medium ist Massage, (1967), Ullstein Verlag, 170 S., DM 9,80, vergriffen. Neuausgabe unter dem Titel "Das Medium ist die Botschaft" fürs Frühjahr angekündigt im Verlag der Kunst, ca. 250 S., DM 28,-.
Zusammen mit Bruce R.Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, (1989), Jungfermann Verlag, 288 S., DM 44,-.
Der McLuhan-Reader, (1997), gute Auswahl und Zusammenstellung, Bollmann Verlag, 240 S., DM 24,80, nur noch von den Barsortimenten oder in den Web-Book-Shops zu beziehen.
Die Biografie: Philip Marchand - Marshall McLuhan, (1998/1999), DVA, 432 S., DM 58,-.
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