Die neue Geopolitik
- Die neue Geopolitik
- Für die Region bedeutet das einen Epochenbruch und eine weitgehende Öffnung der bisher starren Bündniskonstellation, und mittelfristig vermutlich eine Entspannung der regionalen Kriege und Konflikte, wenn auch ein tatsächlicher "Frieden" noch eine Weile auf sich warten lassen dürfte.
- Der Iran wird offiziell wieder Teil der "internationalen Gemeinschaft" mit sich normalisierenden Wirtschaftsbeziehungen in alle Welt, wobei angesichts der Geschichte nicht unbedingt davon auszugehen ist, dass vorrangig US-amerikanische Unternehmen davon profitieren werden. Das politisch und kulturell ohnehin starke Land erhält dadurch einen enormen Schub und wird seinen regionalen Einfluss ausbauen sowie seine bisherige Bündnis-Orientierung nach Osten ein Stück weit relativieren. Spannend wird dabei zu sehen, ob dennoch eine Vollmitgliedschaft in der SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) angestrebt wird, oder ob das Land als klassische Mittelmacht um gute, gleichwertige Beziehungen in alle Richtungen bemüht sein wird, um die eigenen Optionen und damit auch die eigene Macht zu maximieren.
- Saudi-Arabien bemüht sich derweil ebenfalls um eine Diversifizierung seiner Bündnisse, insbesondere durch Waffen-, Atom und Investitionsgeschäfte mit Russland. Aus den genannten Gründen und mangels kultureller und politischer Anziehungskraft ist es aber sehr zweifelhaft, ob es seine Stellung in der Region wird behaupten können. Vielmehr muss Riad vermutlich froh sein, wenn es sich halbwegs ehrenhaft aus den Kriegen der Region zurückziehen und auf die Stabilisierung und Modernisierung des eigenen Landes konzentrieren kann. Ein weitgehender Zusammenbruch ist jedoch ebenfalls nicht ganz auszuschließen, was in einer derart waffenstarrenden Region eine ziemlich düstere Aussicht sein sollte. Dies zu vermeiden könnte somit die nächste große Aufgabe der internationalen Mittelost-Diplomatie werden.
- Interessant wird sein, wie sich die Türkei nun positioniert: Einerseits wäre der Iran ein guter Verbündeter Ankaras nicht zuletzt aufgrund seines Gasreichtums, und dass beide gute Beziehungen zu Russland unterhalten könnte eine Kooperation erleichtern. Andererseits vertreten sie im Syrien-Krieg gegensätzliche Positionen und kooperieren mit konkurrierenden kurdischen Gruppierungen, und auch an einer dann drohenden iranischen Vormacht in der Region hat Ankara sicherlich kein Interesse. Wenn Saudi-Arabien als regionale Macht bestehen bleibt, wäre das wahrscheinlichste Ergebnis wohl ein regionales "Triopol" der drei Staaten, die auch drei unterschiedliche Spielarten des politischen Islam repräsentieren. Die Türkei könnte sich dabei ihren Kooperationspartner je nach Situation auswählen und damit die Balance zu ihren Gunsten beeinflussen.
- Die USA würden wohl tendenziell weiterhin auf Seiten Saudi-Arabiens stehen, wobei die neugewonnene Pluralität der regionalen Bündnisoptionen ihren Einfluss schmälern dürfte. Zumindest müssten sie jedoch (vereinbarungsgemäß) einen Zerfall des Landes verhindern, wenn sie dieses weiterhin als Garant für den Wert des Petrodollars ansehen - was nicht sicher ist, da das Monopol des Dollars im Öl- und Gasgeschäft ohnehin nur noch bedingt existiert. Es könnte somit sogar sein, dass Washington tatsächlich ein neutraleres Interesse an Stabilität im Mittleren Osten entwickeln muss, um dessen Rolle als globale "Tankstelle" nicht zu gefährden und selbst als globale Ordnungsmacht Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
- Und Israel? Israel hat bei dieser Entwicklung nur eines zu verlieren: Ein liebgewonnenes Feindbild. Für die israelische Rechte bedeutet dies, dass sie sich dem entweder thematisch anpassen und mit realen Problemen des Landes beschäftigen kann, oder sie wird absehbar ihre Mehrheiten verlieren. In beiden Fällen bedeutet es eine Rückbesinnung der Politik weg von imaginierten Bedrohungen und hin zu den tatsächlichen Herausforderungen, namentlich Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der gesellschaftlichen Integration und der Besatzung Palästinas. Nicht nur wäre das eine absolut positive Entwicklung für Israel selbst, auch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten könnten davon profitieren. Verlierer wären hingegen jene Politiker und Parteien, die ihre gesamte Karriere auf der Angst vor der "iranischen Gefahr" aufgebaut haben .
- Auf einer Seite lesen
Die Folgen des #IranDeal: Neuordnung des Mittleren Ostens und Chance einer multipolaren Weltordnung
Es ist erstaunlich, dass angesichts der vor einer Woche erzielten Vereinbarung überall nur über das iranische Atomprogramm und die stets damit gerechtfertigten Wirtschaftssanktionen gegen das Land diskutiert wird. Dabei geht es in Wirklichkeit um viel mehr als das: Wir erleben gerade die Neuordnung des ganzen Mittleren Ostens, wenn nicht der gesamten Welt. Die geopolitischen Implikationen des Abkommens werden jedoch vermutlich erst im Laufe der nächsten Jahre nach und nach offen zu Tage treten. Gemeinsam mit dem Minsker Abkommen vom Februar und einer hoffentlich kommenden Einigung in Südostasien könnte der Vertrag so etwas wie das "Tordesillas des 21. Jahrhunderts" werden.
Dass es beim fast überall hochgelobten Abkommen nicht in erster Linie um Nuklearfragen gehen soll, klingt wohl erst einmal wenig überzeugend. Denn natürlich handelt der Vertragstext rein inhaltlich vom "umstrittenen" Atomprogramm und den Sanktionen, und es wurde bekanntlich lang und breit über die Modalitäten gestritten, wie beides abgebaut und dies überwacht werden soll. Aber war denn das iranische Atomprogramm je mehr als ein Symbol für den scheinbar unversöhnlichen Antagonismus zwischen Teheran und Washington (und Jerusalem)?
Zwei Staaten in der Region verfügen bereits über Atomwaffen. Selbst wenn der Iran auch solche entwickelte, würde das nur insofern einen praktischen Unterschied bedeuten, als das Land dann nicht mehr ohne weiteres von den USA (und Israel) angegriffen werden könnte. Diese Drohung lag, wie immer ernst gemeint, in den letzten Jahren stets in der Luft und diente rechten Politikern als Wahlkampfthema, wie überhaupt der Konflikt den Charakter eines populistischen Totschlagarguments angenommen hatte - in allen beteiligten Staaten.
Iran – Saudi-Arabien: Gleichgewicht des Schreckens
Daraus folgte eine klare Rollenverteilung in Mittelost: Saudi-Arabien, nach dem Niedergang des Irak die sunnitische Vormacht am Golf, und der Iran bildeten dort ein Gleichgewicht des Schreckens. Riad wurde von den USA bedingungslos unterstützt (und garantierte dafür die Rolle des Dollars als Leitwährung), ebenso wie Israel, Teheran hingegen mehr oder minder offen von Russland und China. Beide lieferten sich diplomatische und zunehmend auch militärische Stellvertreterkriege in der Region.
Wenig überraschend war dabei die westliche Einäugigkeit: Nicht nur wurden dem weitaus liberaleren Iran dessen Menschenrechtsverletzungen stets zum Vorwurf gemacht, dem weit despotischeren Regime Saudi-Arabiens hingegen nachgesehen. Auch die ziemlich offene Unterstützung dschihadistischer Sunni-Milizen durch die Saudis (und ihre Verbündeten) rief kaum Kritik hervor, während jeder auch nur diplomatische Beistand Teherans für regionale Milizen mit Wellen der Empörung beantwortet wurde.
Dieses Gleichgewicht hat in den letzten Jahren jedoch immer deutlichere Risse bekommen. Zum einen steckt Saudi-Arabien tief im Sumpf zweier Regionalkriege, ohne Aussicht auf Erfolg und ohne gesichtswahrende Exit-Optionen. Beide drohen auf das eigene Staatsgebiet überzugreifen, was die ohnehin enorme Unzufriedenheit der Menschen im Land zum Überkochen bringen dürfte. Trotz massiver Aufrüstung nach innen und außen sowie extrem teurer Sozialprogramme könnte die Uhr für das Haus Saud relativ bald ablaufen - die USA stünden dann plötzlich ohne starken Verbündeten in dieser Schlüsselregion da und liefen Gefahr, zwischen allen Stühlen zu sitzen.
Zum anderen wird die wirtschaftliche und politische Isolation Teherans global immer deutlicher in Frage gestellt. Die diplomatischen Beziehungen zu wichtigen Staaten sind gut, und zunehmend werden Handelsverträge auf Tausch- oder Nicht-Dollar-Basis abgeschlossen - und nicht zuletzt sind diverse Gaspipelines in Planung, nach Osten ebenso wie nach Westen. Auch ohne ein formales Ende der Sanktionen würden diese also mittelfristig in sich zusammenfallen. Sollte das jedoch ohne aktives Zutun der USA geschehen, bedeutete das für Washington einen enormen weltweiten Ansehensverlust.
Beides zusammen genommen standen die USA daher unter enormem Handlungs- und Zeitdruck: Für Kerry und Obama war es die letzte Chance, das Heft des Handels in Mittelost in der Hand zu behalten und ihre internationale Führungsrolle zu behaupten, bevor der US-Präsidentschaftswahlkampf jede derart delikate Diplomatie unmöglich machen würde. Sie scheinen sie genutzt zu haben.