Die "neue englische Krankheit"
Seite 2: Liebe macht blind
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Aber sie jammern, weil inzwischen niemand mehr Großbritannien so toll findet, wie es sich selber.
Dies gekrönte Eiland, dies Land der Majestät, der Sitz des Mars, dies zweite Eden, halbe Paradies, dies Bollwerk, das Natur für sich erbaut, der Ansteckung und Hand des Krieges zu trotzen, dies Volk des Segens, diese kleine Welt, dies Kleinod, in die Silbersee gefasst, die ihr den Dienst von einer Mauer leistet, von einem Graben, der das Haus verteidigt vor weniger beglückter Länder Neid, der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England.
William Shakespeare; "Richard II." (II.2), 1595
Über diese Sätze sind wir noch immer nicht hinaus. Die Deutschen hatten zu den Briten schon immer eine besondere Liebe. Ob zum Historiker Christopher Clark, der ihnen in seinem letzten Buch die Schuld am Ersten Weltkrieg abnimmt, ob zur Marine des Empire mit ihren putzigen Matrosenanzügen, die der Uniformnarr Kaiser Wilhelm II. kultivierte. Oder Carl Schmitt, der berüchtigte konservative Revolutionär und Staatsphilosoph, der in seinem Buch "Land und Meer" England zum Erzfeind der Deutschen stilisierte, nur eben zum geliebten Erzfeind.
Großbritannien ist auch Alexander Gaulands Lieblingsland. Als er noch nicht rechtsextremer Parteivorsitzender war, schrieb Gauland in seinen englischen Gentry-Tweedjackets in der FAZ (beiseite bemerkt überhaupt einer AfD-Kaderschmiede) über "Gemeine und Lords", über die "Klugheit der politischen Klasse" Englands, die "den relativen Erfolg der englischen Nationalgeschichte" erkläre.
Gauland erinnerte an eine britische Aristokratie, die über mehrere Jahrhunderte bis zum Ersten Weltkrieg "das Land regiert, ein Weltreich gebaut, Positionen verteidigt und - schwerer noch - rechtzeitig geräumt" habe.
Aber Liebe macht blind.
"Rule, Britannia!"
Die Selbstbesoffenheit und das aus ihr folgende Allmachtsgefühl sind einer der Gründe, warum einem jetzt das Mitleid mit den Briten fehlt, warum man zum dem Schluss kommt: Es reicht, Freunde, geht doch endlich, ihr nervigen Briten und beendet Euer absurdes Brexit-Theater.
Das Bündnis, das den Brexit realisierte, bestand aus den Alten und den Dummen, den Reaktionären und den Profiteuren, den alten Eliten, die eigentlich noch vom Empire träumen, und der neuen Unterschicht, den reaktionären Kleinbürgern, die nicht begreifen, was die Öffnung ihres Landes ihnen bringen könnte - außer Ausländer.
Was für ein Spektakel! Wie grotesk anzuschauen und wie erniedrigend für uns alle, dass wir uns noch immer von diesem Land nicht lösen können, uns von ihm auf der Nase herumtanzen lassen. Seit Napoleon Bonaparte hätte man über die Mentalität des "perfiden Albion" aufgeklärt sein können, und doch ...
Was steckt hinter alldem? Destruktive Charaktere. Eine perverse, zum Teil pathologische Lust am Untergang, wie sie inzwischen in geringeren Dosen den ganzen Westen erfasst hat.
Destruktivität und Lust am Untergang
Diese "Lust am Untergang" hat Karl Heinz Bohrer, einer der wenigen echten deutschen Intellektuellen und in den 1970er und frühen 1980er Jahren FAZ-Kulturkorrespondent in London, seinerzeit bereits in seinem gleichnamigen England-Buch ("Ein bißchen Lust am Untergang. Englische Ansichten", Suhrkamp; leider vergriffen) beschrieben.
Damals meinte Bohrers Formulierung allerdings eher das Gegenteil, nämlich einen "wilden Liberalismus", die Freude an verwegenem Selbstbewusstsein und Revolte gegen Konventionen, die die britische Oberschicht mit der Arbeiterschaft verband - gegen die immer schon auf Sicherheit bedachte "middleclass".
Heute ist diese Exzentrik längst selbst provinziell und middleclass geworden, ein nicht mehr beiläufig, sondern kleinbürgerlich auftrumpfend zur Schau getragener Spleen, der sich mit politisch reaktionärer, geistig konventioneller Gesinnung paart - kurz: die Mentalität des unsicher gewordenen Spießbürgers.
Eine einzige Filterblase der Verweigerung
Das ist die neue "englische Krankheit"! Es ist die Verweigerung gegenüber der Verantwortung, die mit Macht und Reichtum einhergeht, die Verweigerung gegenüber der Aufgabe der Herrschenden: Vorbild zu sein, zu führen. Diese Verweigerung der britischen Eliten teilen sie mit denen des Kontinents - sie hat dort aber bereits das komplette Land erfasst. Großbritannien ist eine einzige Filterblase. Splendid Isolation.
Inzwischen hat diese neue "englische Krankheit" längst den ganzen Westen erfasst. Entweder zerstört man andere oder sich selbst - der Verrat an den eigenen Werten ist der gleiche.
Wenn man sich ohnmächtig fühlt, dann ist Destruktivität zumindest "eine kleine Erleichterung" (im Sinne von Nietzsche: "Der Fall Wagner"). Es vermittelt ein Gefühl der Allmacht, dass man etwas total zerstören kann und sich zumindest damit noch zum Herren über die Welt aufschwingt.
"Je tiefer die Verderbnis der Vernunft, um so notwendiger die Heilslehre", schrieb Schopenhauer. Und auch die Sehnsucht nach dem Nichts kann zur Heilslehre werden.