Die offizielle Anschlagsgeschichte wird immer bizarrer

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Untersuchungsausschuss entdeckt auf Handy von Amri Fotos vom Breitscheidplatz nach der Tat - BKA meint, eine App habe sie automatisch installiert

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Der Untersuchungsausschuss (UA) des Bundestags hat entdeckt, dass sich auf dem HTC-Handy des angeblichen Attentäters Amri, das in einem Karosserieloch des LKW lag, zwei Fotos befinden, die nach dem Anschlag gemacht wurden. Sie zeigen die Unfallstelle und das zerstörte Fahrzeug. Wer die Fotos gemacht hat oder wie sie auf das Smartphone gelangt sind, kann auch das BKA bisher nicht schlüssig erklären. Der Sachverhalt zeigt, wie bizarr sich die Aufklärung des Terroranschlages entwickelt.

Wo die Abgeordneten graben, stoßen sie auf Details, die nicht mit der offiziellen Anschlagsgeschichte zusammenpassen, wie sie beispielsweise ein BKA-Ermittler im Bundestag erneut formuliert hat: Die Tat sei die eines Einzeltäters gewesen. Amri habe sich des LKW allein bemächtigt und damit den Anschlag begangen. Die Möglichkeit habe sich erst am 19. Dezember ergeben. Als Amri am Abend des 18.Dezember mit Ben Ammar zusammensaß, habe er noch nicht gewusst, dass er am nächsten Tag die Tat begehen werde. So der Erste Kriminalhauptkommissar (EKHK) A.M. jetzt als Zeuge im Ausschuss.

Als ihm die zwei Fotos aus dem HTC-Handy vorgelegt werden, muss er passen: Er habe sie noch nie gesehen, er habe keine Erklärung dafür.

Die Fotos müssen einige Zeit nach dem Anschlagszeitpunkt um 20:02 Uhr entstanden sein. Der Tatort ist bereits abgesperrt, Polizisten und Rettungskräfte sind zu sehen. Dass Amri, der den LKW gefahren haben soll, sie selber gemacht hat, ergibt für den BKA-Mann keinen Sinn. Dann wäre der Täter ja noch stundenlang vor Ort geblieben. Zumal er gegen 21:30 Uhr in seiner Unterkunft gewesen sein soll, um seine Sachen zu holen, ehe er flüchtete.

Dass die Bilder von einem Mittäter gemacht wurden, bezweifelt der BKA-Ermittler ebenfalls. Schließlich würde das die offizielle Einzeltäter-Theorie zum Einsturz bringen. Da es die Nachtat-Bilder aber faktisch gibt, kann man durchaus fragen, ob sie vielleicht zum Anschlagsplan gehörten und eine Botschaft damit verknüpft werden sollte. Zum Beispiel die einer Tätergruppe.

Die Frage der ungeklärten Bilder war schon in der vorherigen UA-Sitzung kurz Thema. Offensichtlich hatte sich das BKA zwischenzeitlich darauf vorbereitet. Als jetzt der BKA-Zeuge A.M. mit den Funden konfrontiert wurde, meldete sich der Sitzungsvertreter des Bundesinnenministeriums (BMI) zu Wort und sagte, das BKA habe ihm "gerade" eine mögliche Teilerklärung unterbreitet, die er vorlesen könnte.

Danach könnten die Bilder, so das BKA, über eine App, möglicherweise eine Google-App, automatisch auf das Handy gespielt worden sein. Beispielsweise gäbe es bei I-Phones die Technik, per App "Nachrichten des heutigen Tages, die Dich interessieren könnten" anzubieten und sie dann im Hintergrund auf dem Handy zur Verfügung zu stellen. Die Fotos auf Amris HTC-Handy fänden sich, so das BKA, auch auf Nachrichtenseiten von jenem Tag.

Amris HTC-Handy

Der Ausschuss will das klären lassen. Unabhängig davon knüpfen sich an das HTC-Handy, das für die Amri-Einzeltäter-These konstitutiv ist, bereits zahlreiche Fragen. Das Gerät soll einem Schweizer Touristen in Berlin Ende September 2016 geklaut worden sein. Der Eigentümer, Eric B., meldete das Telefon bei der Polizei zwar als gestohlen, gab dann aber eine falsche Adresse an, ein Bergdorf in Frankreich, wo er gar nicht wohnte.

Amri soll das Handy ab dem 2. Oktober 2016 besessen haben. Mittels der Geodaten wollen die Ermittler Amris Bewegungen in Berlin rekonstruiert haben. Etwa 30 "Ereignisse" hätten identifiziert werden können.

Die gesamte Kommunikation auf dem Handy wurde am 19. Dezember 2016 etwa um 19:15 Uhr gelöscht. Das soll laut offizieller Darstellung noch vor der Bemächtigung des LKW etwa um 19:30 Uhr gewesen sein. Auf dem Gerät fand sich nur noch der Chatverlauf mit einem angeblichen IS-Kader in Libyen namens "Moumou 1" ab 19:16 Uhr, also vor und während der Fahrt des LKW zum Breitscheidplatz, zunächst als geschriebene Textnachrichten, dann als gesprochene Chats. Um 19:33 Uhr wurde ein Bild aus der Fahrerkabine versandt; um 19:40 Uhr die Sprachnachricht: "Allah ist groß"; um 19:41 Uhr die Sprachnachricht: "Ich bin jetzt in der Karre, bete für mich, Bruder."

Ob es sich bei dem Sprechenden im LKW tatsächlich um Amri gehandelt hat, ist unbestätigt. Die Frage, wie Amris Stimme identifiziert worden sei, konnte der BKA-Ermittler den Abgeordneten nicht beantworten. Er wusste nicht einmal, ob dieser Abgleich überhaupt vorgenommen worden war.

Sollten mit der Löschung der Kommunikation Spuren verwischt werden? Aber wozu, wenn das Handy dann, so die These von BKA und Bundesanwaltschaft, zusammen mit Geldbörse und Duldungsbescheinigung als Tatbekennung am Tatort zurückgelassen wurde? Rekonstruiert ist unter anderem, dass es bis zum 19. Dezember 2016 mit dem HTC-Handy 26 Kontakte mit Clement B. gegeben hat. B. hielt sich in der Vergangenheit unter anderem in Berlin und Brüssel auf und befindet sich als Terrorverdächtiger in Frankreich in Haft.

Die Tatort-Gruppe der Berliner Polizei fand das HTC-Handy bei ihren Untersuchungen des LKW dann nicht etwa im Cockpit, so wie Amris zweites Klapphandy und seine Geldbörse samt Duldungspapier, sondern im Loch eines herausgefallenen Scheinwerfers vorne in der Frontkarosserie des Lasters.

Dass es Amri gehörte, stand überraschend schnell am 21. Dezember, einen Tag nach dessen eigener Identifizierung, fest - und zwar durch die aktive Mithilfe des FBI. Amris Facebook-Account konnte mit seinem Google-Account verknüpft werden. Darüber erfuhr man die Standortdaten des Handys. Letzter Standort war das Bikinihaus am Breitscheidplatz, 20. Dezember 2016, 4:00 Uhr. Daraufhin suchten die Ermittler nach dem passenden Asservat und fanden es in besagtem HTC-Handy.

Wer hat es wann in das Scheinwerferloch auf der Frontseite des LKW gelegt? Ein Passant, eine Rettungskraft oder ein Anschlagsbeteiligter?

Personen aus Amris Umfeld sollen sich in Tatortnähe aufgehalten haben

Neben Amri gibt es Hinweise auf mehrere Personen aus seinem unmittelbaren Umfeld, die sich am Tatabend in der Nähe des Anschlagsortes aufgehalten haben. So soll sein Zimmermitbewohner Khaled A. um 20:34 h auf dem Bahnsteig der U-Bahnlinie U 2 am Bahnhof Zoologischer Garten von einer Videokamera erfasst worden sein. Das ist auch die U-Bahnstation, zu der der Breitscheidplatz gehört. Eine Station weiter am U-Bahnhof Wittenbergplatz wurden um 21:15 Uhr und um 21:41 Uhr Bilder von zwei Personen aufgenommen, die laut einem Auswertevermerk des BKA mutmaßlich Khaled A. und Bilel Ben Ammar zeigen. Zu beiden Spuren blieb der befragte Kriminalhauptkommissar des BKA, R.K., der für die Videoauswertung verantwortlich war, jegliche Antwort schuldig.

Wenn man dann noch dazu nimmt, dass sich an Amris Tatpistole eine DNA-Spur seines Vermieters Kamel A. fand, steht fast die gesamte WG des Tunesiers mit dem Anschlag in Verbindung.

Auf dem Aktenordner zu den Mordermittlungen am Breitscheidplatz stand bis Anfang Januar 2017 neben den Namen Anis Amri, Bilel Ben Ammar sowie des Pakistaners Navid B., der ursprünglich als Verdächtiger festgenommen worden war, aber mit der Tat nichts zu tun hatte, noch der von Riadh El K. Wie er in den Kreis der Verdächtigen geriet, ist bisher nicht ganz klar.

Riadh El K. stand jedenfalls in Kontakt mit Amri. Nach dem Anschlag wurde seine Wohnung durchsucht und sein Telefon überwacht. Er gilt aber nicht mehr als Verdächtiger. Kurios ist nun, dass dieser Riadh El K. auf dem Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz selber einen Stand betrieben haben soll, wie eine BKA-Hauptkommissarin im Untersuchungsausschuss berichtete.

Kurz bevor der Anschlag geschah, war Amri in der Fussilet-Moschee. Inzwischen kann man davon ausgehen, dass sich dort bis Stunden danach mehrere Personen aufhielten. Um wen es sich handelte, haben die Anschlagsermittler nicht ergründet. Eine Person, Rostam A., hat der Ausschuss durch seine Arbeit selber identifiziert. Eine andere Person verließ das Objekt, als Amri noch drin war. Sie ist bisher nicht einwandfrei identifiziert.

Jede Menge Personen also um den Anschlag herum. Das führt erneut zu der Frage, was für Personenspuren im Cockpit des Tat-LKW gesichert wurden.

"DNA-Mischspur mit einem geringen Anteil von DNA Amris"

Bisher fehlte der Beleg, dass es vom angeblichen Attentäter Amri auch im Fahrzeuginneren Fingerabdrücke oder DNA-Spuren gibt. Der BKA-Vertreter A.M. sprach nun davon, am Lenkrad habe sich eine "DNA-Mischspur mit einem geringen Anteil von DNA Amris" gefunden. Außerdem habe sich auf dem Zettel mit der handschriftlichen Notiz "Hardenbergstraße" ein "DNA-Mischprofil" von Amri und dem polnischen Speditionsfahrer Lukasz Urban gefunden. Mehr gebe es nicht.

Besagten Zettel hatte die eigentliche Tatort-Gruppe bei ihrer Spurensicherung nicht festgestellt. Er wurde vom BKA später "nachgemeldet". Der Bericht über die Auswertung der Spuren fehlt in den Unterlagen der Ausschüsse nach wie vor. Was man weiß, ist, dass viele Spuren offensichtlich nicht zugeordnet wurden.

Die Sekunden, wie der Laster durch die Budengasse des Weihnachtsmarktes rast, hat eine Hamburger Medien- und Filmproduktionsfirma festgehalten, die an jenem 19. Dezember 2016 für Werbeaufnahmen in Berlin war. Die Aufnahmen wurden aus einiger Entfernung vom Hochhaus Europacenter aus aufgenommen. Als der LKW zum Stehen kommt, sieht man die Fahrertüre aufgehen und eine Person aussteigen. Kurz danach bricht der Film ab und setzt erst wieder ein, als der Stadtbus der Berliner Verkehrsbetriebe hinter dem LKW angehalten hat. Das war etwa 40 Sekunden später, diese Zeit fehlt in dem Video. Die Hamburger Filmproduktionsfirma hat damals praktisch den ganzen Tag über gedreht - vor der Tat, während der Tat und nach der Tat.

Der Ausschuss wollte nun wissen: Wurde das Material bearbeitet, vergrößert, verlangsamt? Tatsächlich wurde es bearbeitet, erfuhr man, allerdings nicht durch Experten des BKA, sondern durch die Filmfirma selber. Sie wurde vom BKA damit beauftragt und habe, so der BKA-Vertreter, "rausgeholt, was möglich war". Das Filmmaterial sei nicht weiter zu verbessern. Nicht beantwortet wurde allerdings die Frage, warum und wodurch die zeitliche Lücke von etwa 40 Sekunden entstanden ist, ehe die Handlung wieder einsetzt. Aufgrund der Lücke kann man nicht erkennen, wohin sich der Fahrer bewegt hat und ob möglicherweise noch eine zweite Person ausgestiegen ist.

Ein wichtiger Zeuge könnte der Fahrer des BVG-Busses sein, der hinter dem Tat-LKW anhalten musste. Doch er wurde allem Anschein nach nicht als Zeuge vernommen. Im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses tags darauf hieß es, von dem Busfahrer liege kein Zeugenprotokoll vor.

Wurde nur ermittelt, was zur Einzeltäterthese passt?

Alles in allem Ermittlungsergebnisse und Zeugenauskünfte, die derart viele Lücken und Unklarheiten aufweisen, dass man nicht mehr an bloße Fehler oder Zufälle glauben will. Ein Ausschussmitglied hegte den Verdacht, dass nur das ermittelt wurde, was zur These vom Einzeltäter Amri passe.

Die Hauptplayer bei den Ermittlungen nach dem Anschlag waren das Landeskriminalamt (LKA) von Berlin, Abteilung Staatsschutz sowie das BKA, das ebenfalls sofort im Lagezentrum anwesend war, ehe es zwei Tage später auch offiziell im Auftrag der Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernahm. Das BKA stand zugleich im Austausch mit dem US-amerikanischen FBI in Deutschland .

Maßgeblicher Akteur auf Seiten des LKA Berlin war der damalige Leiter des Islamismus-Dezernats im LKA, Axel B., wie er jetzt im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses selber befand. Als er bereits wenige Minuten nach der Tat alarmiert wurde, ging er nicht von einem Unfall, nicht einmal von einem Amoklauf, sondern direkt von einem terroristischen Anschlag aus. Dementsprechend bildete das LKA zusammen mit dem BKA die Besondere Aufbau-Organisation (BAO) Anschlag, die bereits nach zwei Stunden arbeits- und führungsfähig gewesen sei.

Warum aber ging der Staatsschützer von einem islamistischen Anschlag aus und nicht zum Beispiel von einem rechtsterroristischen? Die Frage wurde ihm im Ausschuss nicht gestellt - und blieb entsprechend unbeantwortet.

Da die eigentliche Befehlsstelle und Einsatzleitung beim Berliner Polizeipräsidenten und den regulären Einsatzstrukturen lag, kam es in der Folge zu einer eigenartigen polizeiliche Doppelstruktur. Denn, während sich der reguläre polizeiliche Führungsstab erst aufbaute, bestimmte faktisch die Befehlsstelle von LKA-Staatsschutz und BKA in eigener Regie das Geschehen und die Ermittlungsschritte. Axel B. war es auch, der kurz nach 23 Uhr am 19. Dezember die sogenannte Maßnahme M 300 auslöste, durch die unter anderem Verbleibkontrollen bei polizeibekannten Islamisten und in Moscheen durchgeführt wurden.

Staatsschutz Berlin und BKA waren nicht nur jene Sicherheitsbehörden, die wesentlich die Anschlagsermittlungen führten und damit auch für unterlassene Ermittlungen und versickerte Spuren verantwortlich sind. Sie waren zugleich diejenigen, die mit am intensivsten mit dem mutmaßlichen Täterklientel zu tun gehabt hatten.

Der Macher und inoffizielle Einsatzleiter am 19. Dezember 2016, Axel B., der eloquent das damalige Anschlagsmanagement schilderte, musste allerdings oft dann passen, wenn es konkret wurde.

Was hat es mit der in Tatortnähe gefundenen Jacke auf sich, in der zwei blutbeschmierte Handys, ein libanesischer Pass und eine Duldungsbescheinigung steckten?
Antwort Axel B.: Ich kann dazu nichts sagen.
Warum holten zwei LKA-Beamte des Staatsschutzes bei der Tatortgruppe Amris Duldungsbescheinigung ab?
Antwort: Weiß ich nicht.
Was geschah mit dem Papier?
Antwort: Weiß nicht.
Warum wurde die Abteilung für die Führung der V-Personen (VP) nicht in die Struktur der BAO Anschlag einbezogen?
Antwort: Die Frage ist berechtigt.
Wer hat die VP-Führung überhaupt aktiviert?
Antwort: Schulterzucken.
Wurde der Busfahrer, der hinter dem Tat-LKW anhalten musste, nicht als Zeuge vernommen?
Antwort: Muss passen.
Wie kam Amri von Berlin nach Emmerich?
Antwort: Wüsste ich auch gerne.

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