Die orbitale Wunschmaschine
Der Debütroman "Singularität" von Charles Stross ist auf Deutsch erschienen
Der Roman "Singularität" (Originaltitel: "Singularity sky") des britischen Autors Charles Stross, der zuvor als Computer-Journalist gearbeitet hat, baut in seinen Anfangskapiteln eine reizvolle Situation auf: die Konfrontation einer High-Tech-Zivilisation mit einer zurückgebliebenen Kultur. Auf dem Planeten Rochards Welt kommt es zu einem überraschenden Ereignis: Eine unbekannte Macht taucht im Orbit auf und lässt Telefone regnen - die sind wie ein Draht zu den "Göttern", die alle Wünsche erfüllen, die ihnen mitgeteilt werden, wenn man Informationen anzubieten hat. Der Planet befindet sich plötzlich in einer ökonomischen Singularität: "Ein historischer Scheitelpunkt, bei dem die Rate von Veränderungen exponentiell ansteigt und in kürzester Zeit auf das Unendliche zusteuert.". Über Nacht steht alles an materiellen Gütern zur Verfügung, was die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrechen lässt.
Solche Zusammenstöße spielen - in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen - in der Science Fiction-Literatur sowohl in einem so berühmten Roman wie "Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein" der Brüder Strugatzki als auch in dem brillanten Roman "Aristoi" von Walter Jon Williams eine Rolle. Stross akzentuiert diese Ausgangssituation aber völlig anders. Während es in diesen Romanen um das Verbergen der technologischen Überlegenheit geht oder um den behutsamen Eingriff im Hintergrund, setzt Stross Rochards Welt ganz direkt einer "Singularität dritten Grades" aus.
Wenn man so will, hat in der menschlichen Geschichte ca. vierhundert Jahre zuvor eine große Singularität stattgefunden, die auf einen Schlag das Leben von Milliarden Menschen auf der Erde verändert hat. Mitte des 21. Jahrhundert tritt das "Eschaton" auf, eine überlegene Intelligenz, die von der menschlichen Kultur, ihren Netzwerken, abstammt und aus der Zukunft kommt, um die Menschen an Experimenten zu hindern, die das Prinzip der historischen Kausalität verletzen könnten - und damit ihre Existenz.
Neun Milliarden Menschen werden mithilfe einer Wurmloch-Technologie über einen galaktischen Raum von 3.000 Lichtjahren verteilt. Hundert Jahre später wird im Zuge erster kosmischer Expeditionen der sich wieder aufrappelnden irdischen Menschheit klar, wo die anderen Erdbewohner geblieben sind: Durch die Wurmlöcher entführt, sind sie auf tausend verschiedenen Welten gelandet und werden bei der unfreiwilligen Kolonisierung von Roboterfabriken minimal unterstützt. Offenbar hat das Eschaton dabei eine gewisse Selektion vorgenommen. Die mehrere Planeten umfassende Neue Republik, zu der auch Rochards Welt gehört, ist die neue Heimat von lauter Royalisten und Technikgegnern geworden. Weshalb dort stark ausgeprägte feudalistische Strukturen anzutreffen sind - bis zu diesem "Einbruch" einer fremden Macht.
Ein galaktisches "Festival"
Die Handlung entspinnt sich an den Verwicklungen, die dieses Ereignis auslöst. Die Neue Republik fasst diese Entwicklung als Kriegserklärung auf und rüstet zum Gegenschlag. Der Ingenieur Martin Springfield von der Erde ist als Gast der Neuen Republik gerade in der Hauptstadt und soll die Antriebssysteme des Schlachtkreuzers "Lord Vasek" modifizieren - darüber hinaus handelt er im Geheimauftrag. Während der Eisenbahnfahrt zur Endstation am Fuße der Orbitalstation lernt Springfield eine Frau kennen, Rachel Mansour, die sich als Agentin der Vereinten Nationen auf der Erde entpuppt und aufgrund der Kriegsgerüchte seine Mitarbeit will - ein gefährliches Anliegen, ist Springfield doch schon im Visier des "Kurators", der Staatssicherheit.
Auf Rochards Welt bemüht sich gleichzeitig Burija Rubinstein, ein linksradikaler Journalist und Revolutionär, die rasche Veränderung zu verstehen und für die revolutionäre Sache zu nutzen; die alte Ordnung löst sich zunehmend auf. Im Orbit konsolidiert sich parallel dazu die Organisation des "Festivals" - so heißt diese fremde Existenzform, die in den Herrschaftsbereich der Neuen Republik eingedrungen ist. Es handelt sich dabei um Lebewesen, die eigentlich in einem virtuellen Universum leben und nur gelegentlich nach "außen" drängen. Tun sie dies, sind sie auf die Hilfe mitreisender Parasiten angewiesen. In biotechnologischen Prozessen bilden sich die Körper der "Kritiker" heraus, die zu diesen Helfern gehören. Diese hören auf so prosaische Namen wie Siebente Schwester, Erste Beobachterin oder Fünfter Wachmann. Siebente Schwester macht sich auf den Weg, den Planeten zu erkunden und dabei die Frage zu klären, ob die Menschen wirklich mit Bewusstsein oder sogar Intelligenz begabte Wesen sind, schließlich würden sie von dem Festival nur materielle Dinge fordern, aber keine Informationen über andere, ihnen unbekannte Philosophien oder Künste. Zweck des Festivals ist schließlich der Austausch kultureller Information.
Der überwiegende Teil der Handlung spielt an Bord der "Lord Vasek" oder zeigt Rubinsteins Bemühung in den Wirren des Umbruchs, was der Autor und Kritiker John Clute etwas säuerlich in einer Rezension so kommentiert, dass man den Großteil des Romans in der Gesellschaft von idiotischen Funktionären verbringe. Die offenbar unvermeidliche Militärlogik, die man auch in Zukunft noch nicht überwunden hat, ist nicht aufzuhalten, und seitenlang liest man von den Vorbereitungen zur Raumschlacht und bekommt einige nicht beabsichtigte Zwischenscharmützel mit, was im Eifer des Gefechts ja schon mal passieren kann.
Rubinstein schlägt sich derweil mit dem revolutionären "Rat der Extropianer und Cyborgs" herum und bekommt Besuch von Siebente Schwester. Kurzum, die Raumschlacht ist ein Fiasko, da der überlegene Gegner, das Festival, sich auf einen offenen Schlagabtausch - wen wundert's - gar nicht einlässt. Springfield und Mansour sind da schon von der "Lord Vasek" geflohen und landen wenig später auf Rochards Welt. Mansour will Rubinstein treffen, was mithilfe der Kritiker auch noch gelingt - ihr Spezialauftrag war eigentlich, Rubinstein ein "Füllhorn" zu überbringen, leistungsfähige Nanotechnologie von der Erde, um den Fortschritt auf dieser Welt zu unterstützen. Aber sie kommt zu spät; das Festival hat schon ganze Arbeit geleistet.
Am Ende zieht diese Existenzform weiter und hinterlässt eine verwandelte und entvölkerte Landschaft, in der sich aber trotzdem schnell wieder alte Denk- und Verhaltensweisen einschleichen - schließlich war es zweihundertfünfzig Jahre lang eine Feudalgesellschaft -, und Springfield und Mansour, schon lange ein Paar, machen sich schleunigst aus dem Staub.
Ein Beispiel für die neuen Space Operas
Der Debütroman dieses jungen britischen Autors knüpft an zwei Entwicklungen in der neueren SF an. Einmal an die Tendenz, Space Opera und linke Politik miteinander zu verbinden - eine SF, wie sie in Großbritannien von Iain Banks oder Ken MacLeod geschrieben wird (mit ironischen Untertönen). Zum anderen an die Entwicklung, ein dezidiertes Wissen aus den Naturwissenschaften mit der Ästhetik der Space Opera zu kombinieren, wie es zum Beispiel bei Alastair Reynolds geschieht.
Das Thema "Singularität" hat denn auch einen weiteren Kontext. Der Antrieb der "Lord Vasek" wird erklärt als Eingriff in die Singularität eines elektronengroßen Schwarzen Lochs. Die Fortbewegungsweise einer Fähre des Schiffs, ein Ionenantrieb, wird beschrieben. Stross erwähnt kompetent Methoden zu Überlichtgeschwindigkeiten: den Expansions- und den Sprung-Antrieb, wobei lediglich das Wurmloch unerklärlich sei, da dieses "auf Prinzipien, die kein menschlicher Physiker je entdeckt hatte", beruhe. In der Physik unbewanderte Leser führen solche Passagen schnell an die Grenze des Verstehens. Auch der eigentliche "Sprung" des Raumschiffs verläuft ziemlich unspektakulär, wenn man daran denkt, wie aufwändig Abenteuer im Hyperraum bei anderen Autoren fantasiert werden:
Es passierte buchstäblich nichts - außer das innerhalb des Antriebsmoduls plötzlich jede Menge exotischer Teilchen in die Ergosphäre des Schwarzen Lochs befördert wurden.
Stross inszeniert die Konfrontation der rückständigen Kultur der Neuen Republik auf den ersten Seiten über die Gestaltung von Details, die dem Leser den ersehnten SF-Thrill geben. Martin Springfield, sich unwohl fühlend in der Neuen Republik und vom Kurator verfolgt, checkt sein Hotelzimmer mit Mini-Drohnen und benutzt sein zu einer Art Quantenkommunikation fähiges Notebook, um interstellare Entfernungen in Echtzeit über einen "Kausalkanal" zu überbrücken.
Aber Stross entkommt aufgrund seiner Exposition nicht gewissen Ungereimtheiten, auf die er einmal sogar ausdrücklich eingeht. So ist erstaunlich, dass eine derart zurückgebliebene Gesellschaft ein dermaßen modernes Kriegsschiff wie die "Lord Vasek" steuern und versorgen kann. Auch der Raumhafen, von dem aus das Geschehen seinen Lauf nimmt, bietet ein überraschendes Bild: "vier spitz zulaufende Kegel aus diamantartigen Polymeren erstreckten sich bis zur geosynchronen Umlaufbahn (...) - eine radikale Ausnahme zur ansonsten vorherrschenden technologischen Beschränkung der neuen Republik". Zuerst beschreibt Stross das Festival als früheren "Teil einer menschlichen Zivilisation", später wird es als nicht-menschliches "selbst-replikatives Informationsnetz" erklärt, als automatischer Mechanismus, der möglicherweise vor Urzeiten in Betrieb gesetzt wurde.
Dass das Eschaton in die eigene Vergangenheit reist, um seine Zukunft zu sichern, und dabei die Menschheit in die Galaxis zwangsaussiedelt, könnte man auch als die größte Kausalitätsverletzung überhaupt hinterfragen, schließlich zerstört es seine Ausgangsbedingungen; dabei wird nämlich jede Entwicklung einer Software nachträglich gestoppt, die sich selbst verändern oder weiterentwickeln kann. Wie soll sich da eine Künstliche Intelligenz herausgebildet haben?
Die Singularität als "Welt der Wunder"
In einem Interview für das Online-Magazin Science Fiction Weekly vom September 2003 sagt Stross, dass er nicht überzeugt sei von der exponentiellen Steigerung der "technologischen Singularität", wie sie Vernor Vinge behauptet hat. Er bezeichnet die Singularität als zweite große "Plot-Maschine" nach der Künstlichen Intelligenz, die aus der Informatik komme. Und diese Maschine lässt Stross auf Hochtouren laufen, wobei die benutzten Technologien wie das "Füllhorn" als sich selbst reproduzierende Nanofabrik allerlei Wundersames herstellen. Der alte Herrscher von Rochards Welt wird in einen Jungen verwandelt und ihm zur Seite gesellen sich diverse seltsame Weggefährten wie "Mr Rabbit" und "Frau Stachelschwein".
Unterschiedliche genetische Auffassungen wie die von Lysenko und Lamarck werden in Waldexperimenten "materialisiert". Manche der überbordenden Einfälle sind etwas zu bizarr und nicht immer geschmackssicher - etwa die mit dem Festival reisenden Schmarotzer der "Possenreißer" (Clown-Zombies) oder der "Fringe"-Leute, die Gehirne menschlicher Leichen für den Upload ins Festival-Universum entkernen. Stross ist bestens vertraut mit der theoretischen Literatur der Technokultur. Er bezieht sich hier auf die Idee des Uploading von Bewusstseinsinhalten auf Computer, wie sie der Robotik-Forscher Hans Moravec formuliert hat. Auf das Buch "Society of mind" des KI-Forschers Marvin Minsky wird angespielt. "Tipleriten" nach dem Physiker Frank Tipler werden beiläufig erwähnt und anderes mehr.
Stross sagt selbst, sein Buch sei ein Roman über einen Kulturschock im planetarischen Maßstab. Der galaktische Zirkus erzeugt die Szenerie eines abgedrehten "Schlaraffenlandes". Stross wird im Verlaufe des Buches ironisch-grotesker in seiner Darstellung. Seine Abneigung gegen das Militär, den Adel und die Bürokraten ist schon deutlich geworden. Aber auch die Revolutionäre kriegen ihr Fett ab. Rubinstein ist im Kleinkrieg mit den Parteien der "Transhumanistischen Front" oder der "Freiheit-im-All-Partei" - aus seinen Mitstreitern von einst sind überschwängliche Cyborgs geworden, die ihre Körper mit verschiedenen Ausstattungen erweitern. Rubinstein pocht auf die Tradition der Avantgarde-Partei in der Revolutionsgeschichte, was Siebente Schwester sarkastisch kommentiert, dass das Beharren auf Traditionen in einer Singularität wohl absurd sei. Und Rubinstein muss mit ansehen, wie es auf Seiten der Revolution zu Erscheinungen kommt, die gemünzt sind auf den Stalinismus:
All jene, die die Doktrin der revolutionären Optimierung ablehnten und sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wurden vor das Tribunal gezerrt (...). Danach wurden sie erschossen, ihre Hirne kartiert, mittels Upload dem Festival einverleibt und zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt.
Wo Stross seine fiktive Technologie im vielfältigen Einsatz schon als "Füllhorn" bezeichnet - die nanotechnologisch verwandelte Welt wird zunehmend irrealer. Alle möglichen Objekte werden einer fremdartigen Umformung unterzogen.
Der Autor führt keinen relevanten Diskurs über technologisch bedingte Umbrüche und entstehende soziale Konflikte; zwar lässt er Rubinstein denken, dass Menschen, die mit unermesslichem Reichtum und Wissen versehen werden, weder eine Regierung noch eine Revolution benötigen, aber es dürfte ja nicht sehr wahrscheinlich sein, dass eine derartige Wundertechnik jemals auf einen Schlag Wirklichkeit wird. Ein politisches Statement, bezogen auf die Gegenwart, findet sich dennoch in dem Roman. Die Motivation der Royalisten leitet er auch aus deren Überdruss ab, dass in der anonymen demokratischen Gesellschaft vor der Eschaton-Singularität Millionen Menschen auf dem Müllhaufen der Geschichte landeten.
Die Singularität wird weiterhin ein Thema in der SF bleiben - vielleicht weniger fantastisch überzeichnet. "Singularität" bringt die Space Opera mit neuen wissenschaftlichen Konzepten voran und ist zugleich eine Parodie auf eines ihrer beliebtesten Subgenres, die Military SF. Schwächen in der nicht allzu ereignisreichen Handlung und im Stil - in dem ganzen Buch befindet sich kaum eine Metapher - setzt Stross die Akribie mancher seiner wissenschaftlichen Informationen und die Gestaltung des Settings entgegen. Stross versucht eine neue literarische Synthese in der SF, und man wird sehen, ob es ihm in weiteren Romanen besser gelingt, derart unterschiedliche Elemente auszubalancieren. Für den Herbst 2005 hat der Heyne-Verlag die Fortsetzung "Supernova" angekündigt.
Charles Stross: Singularität. Aus dem Englischen von Usch Kiausch. Wilhelm Heyne Verlag, München 2005 496 Seiten EUR 8.95