Die revolutionäre Substanz der Liebe
Liebe ist das Kultivieren der Distanz
Vielleicht ist heute tatsächlich nichts revolutionärer als Liebe. In unserer Zeit der Misere und des zynischen Egoismus ist die Liebe, ihrem Wesen nach, die radikalste Infragestellung des Fundaments der gegenwärtig um sich greifenden universellen Verstellung: Liebe ist purer, hingebender Altruismus, sie ist uneingeschränkte Öffnung gegenüber dem Anderen, damit der Andere sein kann. Dort, wo persönliches Interesse, Eigennutz und individueller Profit im Vordergrund stehen, existiert keine Liebe.
Das genau könnte möglicherweise erklären, warum unsere Epoche, die augenscheinlich alles zu wissen und alles zu realisieren vermag, nichtsdestotrotz keine Liebe kennt: Es sei denn nur unter Form von Surrogaten ("flüssige Liebe", wie Bauman sie zu nennen pflegte), die in Wirklichkeit nur sehr wenig oder überhaupt nichts mit wahrer Liebe zu tun haben, da es sich tatsächlich um Formen der Selbstsucht handelt, in denen die Anderen schlichte Komparsen sind, derer man sich zur Erlangung des eignen Vergnügens und des eigennützigen Genusses nur instrumental bedient.
Eine der großartigsten Definitionen der Liebe, die die abendländische Tradition uns überliefert hat, ist die des Augustinus von Hippo: "volo ut sis" ("Confessiones" - dt. "Bekenntnisse", VI, 7, 12). "Ich will, dass du seiest": Ich will, dass du das seiest, was du bist. Es handelt sich hierbei um das Schlüsselkonzept des Liebesgefühls: kein verringerndes Zurückführen des Anderen auf die eigene Person, kein Besitz des Anderen, keine Auslöschung der Unterschiede, kein Selbstverlust. Ganz im Gegenteil: reine Selbsthingabe, absolute Selbstlosigkeit, uneingeschränkte Öffnung gegenüber dem Anderen, damit sich dieser vollumfänglich entfalten kann.
Liebe ist in diesem Sinne ein duale Öffnung gegenüber der Welt. Sie löscht Distanzen nicht etwa aus, sondern bewahrt sie schützend auf. Sie vernichtet nicht die Alterität, sondern unterstützt das Weiterbestehen der Andersheit der geliebten Person, indem sie deren Andersheit behütet und im vollen Umfang wertschätzt. Demzufolge ist Liebe nicht die schlichte Reduzierung der Zweiheit auf eine Einheit - der zigsten Form des individualistischen und possessiven Egoismus folgend -, sondern Hochachtung der Unterschiede und des Andersseins: Liebe ist das Kultivieren der Distanz.
Man könnte Liebe als Tempel verbildlichen, dessen Geschlossenheit durch das Abstützen auf gesonderten Säulen sichergestellt wird, auf einer unüberwindbaren Dualität, die erlaubt, die Welt in einem neuen Licht zu sehen. Hieraus resultiert ein "Wir", in dem sich die Liebenden nicht auflösen, sondern die jeweilige Autonomie gemeinschaftlich bündeln. Man nimmt sich der Person des Anderen an, vermeidet jedoch, in einen - wie Erich Fromm ihn nannte - "Egoismus zu zweit" zu verfallen. Heute wahre Revolutionäre zu sein, bedeutet also vor allem, lieben zu können.
Übersetzung: Patrizia Herget