Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten
Auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig wurde Anfang September 2014 über Strategien und Wege anderen Wirtschaftens angesichts von Ressourcenknappheit und Klimakatastrophe diskutiert. Die Heinrich Böll Stiftung hatte zur Konferenz ein Themenheft "Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen" herausgebracht. Es "erzählt Geschichten eines anderen, bürgergetragenen Wirtschaftens, einer Wirtschaft der Solidarität und Selbstbestimmung", schreibt Barbara Unmüßig im Editorial.
Dabei wird deutlich, dass immer mehr Menschen wenigstens im Kleinen versuchen, Elemente einer Postwachstumsökonomie umzusetzen. Urbane Gärten, Offene Werkstätten, alternative Bildungseinrichtungen und viele andere selbstorganisierte Projekte entwickeln immer mehr soziale und technologische Innovationen.1 In diesen Zusammenhängen ist oft von "Sharing" (Teilen) und auch "Glück" die Rede. Annette Jensen und Ute Scheub bezeichnen dieses neue Wirtschaften im Titel ihres neuen Buchs als "Glücksökonomie. Wer teilt, hat mehr vom Leben".
Es geht um einen Wertewandel, weg vom Materiellen, hin zu Fragen von Gemeinschaftlichkeit und Lebensglück. Schon der Heilige Sankt Martin teilte seinen Mantel mit einem Bettler. Der neue Trend zum Teilen oder "Sharing" hat mit Wohltätigkeit nichts zu tun. Geteilt wird untereinander, unter Gleichen, Peer to Peer: Digitale Inhalte werden weitergeben, materielle Dinge getauscht und gemeinsam genutzt und Projekte werden gemeinsam finanziert (Crowdfunding). Die Zusammenarbeit in der Sharing-Welt wird häufig als "Kollaboration" bezeichnet.2
Digitale Inhalte teilen
Das Teilen steht in der Bedienungsanleitung vieler Websites ganz oben. Wer sich im Internet bewegt, teilt Meldungen, Bilder, Fotos (oft lustig retuschiert) und vieles andere in digitalem Format mit anderen. Auch Wissen und Erfahrungen werden gerne geteilt: Amazon-NutzerInnen verfassen Kundenrezensionen über Produkte jeder Art, Reisende berichten über ihre Urlaubsziele, beschreiben und bewerten Hotels und Touristikanbieter. Es gibt wohl keine Produkte oder Leistungen, die nicht in irgendwelchen Internetportalen beurteilt und miteinander verglichen werden. Jede und jeder kann sich einbringen, kann - mehr oder weniger anonym und ohne dafür bezahlt zu werden - das eigene Urteil abgeben. Bewertet werden nicht nur Autos, Haushaltsgeräte, Bücher, Reisen, ÄrztInnen und ProfessorInnen, sondern ebenso diese Bewertungen selbst.3 So fragt zum Beispiel Amazon: "War diese Rezension für sie hilfreich?" Wer in diesem Spiel aktiv ist und gute Bewertungen einheimst, kann sich nach und nach Reputation erwerben.
Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia hat gedruckte Lexika wie den Brockhaus überflüssig gemacht. Zum Wissen der Welt tragen unzählige AutorInnen bei, die engagiert und unentgeltlich dafür sorgen, dass dieses Wissen stetig wächst und aktuell bleibt. An Schulen und Universitäten gilt Wikipedia mittlerweile als zuverlässige und zitierfähige Quelle, JournalistInnen dient es zum schnellen Faktencheck. Bei allem Respekt vor den Leistungen derjenigen, die zu diesem gemeinschaftlichen Projekt beitragen, ist bei genauerem Hinsehen jedoch Skepsis angesagt. So dokumentiert der Bonner Journalist Marvin Oppong in einer Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS), wie bewusst in Wikipedia-Beiträge eingefügte Fehler anstandslos das interne Qualitätscontrolling passierten, und anschließend ungeprüft selbst von renommierten Medien wiedergegeben wurden.4
Aber nicht nur Falschmeldungen, sondern auch gezielte Eingriffe von Lobbyisten trüben das Bild der angeblich so neutralen Informationen in Wikipedia. Die genannte OBS-Studie belegt, wie kritische Berichte über Unternehmen wie IG Farben, RWE, BASF und andere geschönt, gleich ganze Passagen gelöscht oder PR-Inhalte eingefügt wurden. In Wikipedia-internen Diskussionen um Änderungen an Artikeln setzen sich oft diejenigen mit dem längeren Atem durch, die so viel Zeit in ihr Engagement stecken können, dass sich die Frage geradezu aufdrängt, auf wessen Gehaltsliste sie stehen. Für einige Editoren lässt sich anhand ihrer IP-Adresse nachvollziehen, für welche Stiftung oder welches Unternehmen sie agieren. Zweifellos ist Wikipedia zu einem Machtfaktor geworden. Der Kölner Publizist Werner Rügemer bezweifelt deren Objektivität, denn: "Die 'freie Enzyklopädie' liegt in den Händen des Privatkapitals."
Gegenstände teilen
Carsharing ist schon lange ein lukratives Geschäft. Daneben entstehen Peer-to-Peer-Modelle wie zum Beispiel Nachbarschaftsauto, in denen Menschen sich gegenseitig ihre Autos leihen. Dieses Prinzip, NutzerInnen eine internetbasierte Möglichkeit des Austauschs untereinander anzubieten, ist auch das Geschäftsmodell von AirBnB, das eine Plattform zur Zimmer- und Wohnungsvermittlung gegen Servicegebühren zur Verfügung stellt. Auch das ursprünglich nichtkommerzielle, weltweite Gastfreundschaftsnetzwerk Couchsurfing ist mittlerweile ein gewinnorientiertes Unternehmen geworden, das mit den Daten der NutzerInnen handelt.5
Das Teilen oder die gemeinschaftliche Nutzung von Dingen wird auch als "Kollaborativer Konsum" (Kurzform: KoKonsum) bezeichnet. Vermittelt über digitale Plattformen können Gegenstände des Alltags wie Haushaltsgeräte, Werkzeuge, Fotoapparate, Bücher, DVDs und vieles mehr verliehen, verschenkt, getauscht oder gegen Entgelt abgegeben werden. Das Portal frents - ein Wortspiel aus friends (Freunde) und rent (mieten) - wirbt mit dem Slogan "Leihen und Verleihen unter Freunden und Nachbarn". Es ist ein Referenzprojekt der Internetagentur Sherpatec, die laut eigener Website Standorte in München, Berlin, Zürich und demnächst auch in Hongkong hat. Ihr Geschäftsführer Carl Raphael Mahir ist ebenfalls Geschäftsführer der frents GmbH.
Sharing-Dienste machen Gewinne, auch wenn sie für NutzerInnen kostenlos sind, indem sie sogenannte "Leads" generieren, Datenspuren, die von den Usern selbst gelegt werden und für Marketingzwecke verwendet werden. Bei der Registrierung oder beim Eintrag in einen Newsletter geben Menschen oft mehr über sich preis, als sie denken. Wer hat sich nicht schon gewundert, dass beim Surfen im Internet oft Werbung angezeigt wird, die genau das anbietet, was man selbst gerade gesucht oder eingekauft hat? Jede Bewegung im Internet wird beobachtet, gespeichert, ausgewertet. Mit ihren Datenschutzvereinbarungen sichern sich Online-Anbieter meist umfangreiche Rechte.
In der taz-Beilage zur "Sharing City Berlin Week" im Juni 2014 antwortet der US-amerikanische Kulturwissenschaftler Charles Eisenstein auf die Frage, was es bedeutet, "wenn Großkonzerne Millionen in die Share Economy investieren", entlarvend: "Man kann Geld machen in der Share-Economy. Google hat dadurch viel Geld verdient, aber die traditionellen Medien haben noch mehr verloren. Sie ist Teil des Degrowth". Dazu passt die Einschätzung der Unternehmensberatung Accenture, dass "'Shareconomy' immer mehr die Strategie erfolgreicher Konzerne (prägt). … Wer 'Shareconomy' für eine kurzlebige Modeerscheinung hält, liegt völlig falsch."
Gemeinsam finanzieren
Beim Crowdfunding wird ein Vorhaben durch viele GeldgeberInnen finanziert. Auf Betterplace sammeln soziale Projekte Spenden in Form von Geld oder auch Zeit. Bei Startnext, VisionBakery und anderen werben vor allem künstlerische Projekte um Sponsoren. Diese bekommen ein kleines oder größeres Dankeschön, je nach Höhe ihres Geldgeschenks.
Auch Kredite können online in der Crowd gesammelt werden, von Privatpersonen zum Beispiel bei auxmoney, von mittelständischen Unternehmen bei finmar. Die KreditgeberInnen erhalten Zinsen und bekommen ihr Geld nach der vereinbarten Laufzeit zurück, wenn alles gut geht. Risikokapital können Startups zum Beispiel bei Seedmatch einwerben. Das gesammelte Geld wird bei den meisten Crowdfundingorganisationen nur dann ausgezahlt, wenn es eine vorher festgelegte Marge erreicht. Kommt nicht genug zusammen, erhalten die Sponsoren ihr Geld zurück. Es kommt also sehr darauf an, sich möglichst gut zu verkaufen und das eigene Vorhaben breit zu bewerben, um in der Konkurrenz zu gewinnen.
Zusammenarbeiten?
In vielen kleinen, selbstverwalteten Projekten arbeiten die Beteiligten meist auf gleicher Augenhöhe zusammen und treffen gemeinsame Entscheidungen. Daraus entstanden die ersten online-betriebenen Tauschbörsen. Ganz anders bei heutigen Shareconomy-Firmen, in denen eine machtvolle Zentrale das Geschäft steuert.
Aktuell drängt das US-amerikanische Unternehmen Uber auf den deutschen Markt und bietet Personenbeförderungsdienste an. Per Smartphone-App bringt Uber Menschen mit und ohne Auto zusammen. Die Mitfahrenden bezahlen, die Fahrenden haben keinerlei Rechte, nicht einmal einen vertraglichen Anspruch auf Bezahlung. Zudem riskieren sie ihre KFZ-Versicherung, wenn diese nur für die private Autonutzung abgeschlossen wurde. Finanziert von institutionellen Anlegern, Google, Goldman Sachs und anderen stellt Uber einen Angriff globaler Konzerne auf lokale Taxiunternehmen dar.
Wie digitale Plattformen zur Vermittlung billiger Arbeitskräfte eingesetzt werden können, ist bei CleanAgents, Helpling und Book A Tiger zu beobachten. Diese bieten professionelle Reinigungskräfte zu Dumpingpreisen zwischen 12 und 15 Euro an. Wer die Aufträge annimmt, muss selbstständig und auf eigenes Risiko arbeiten, ein Gewerbe anmelden und von dem Arbeitsentgelt auf eigene Kosten für die soziale Absicherung aufkommen. Mit Teilen unter Gleichen hat das nichts mehr zu tun, eher erinnert es an eine prekarisierte Form der Zeitarbeit.
Wer teilt mit wem?
Das Teilen in der Shareconomy funktioniert über Apps, die jederzeit mit dem Smartphone abrufbar sind. Statt ressourcenintensives Wachstum zu verhindern, verursacht diese Praxis einen hohen Energieverbrauch. Die Überwachung durch Konzerne und Geheimdienste gibt den vielen Kontakten und Informationsmöglichkeiten einen bitteren Beigeschmack. Dinge gemeinsam zu nutzen, ändert nichts daran, dass es sich um Produkte handelt, die unter umweltschädigenden und ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurden. Das Teilen bleibt auf die Ebene der Konsumption, des Ge- oder Verbrauchs beschränkt. Ob und in welchem Maße eine Veränderung des Konsumverhaltens überhaupt Einfluss auf die Produktion nehmen kann, ist umstritten. Der sogenannte Rebound-Effekt kann Einsparungen schnell zunichtemachen, wenn Produkte durch Teilen stärker genutzt und die freiwerdenden finanziellen Mittel zum Erwerb anderer Konsumgüter verwendet werden.
Ähnlich wie die VertreterInnen eines gesundheits- und umweltbewussten Lifestyle (Lohas)6 sind auch die idealistisch motivierten PropagandistInnen des Sharing überwiegend in der Mittelschicht anzutreffen. Viele von ihnen verstehen sich ausdrücklich als unpolitisch, wollen einfach machen, aktiv sein, die Welt zum Besseren verändern, ohne Missstände und Ungerechtigkeiten zu kritisieren. So bleiben diese Innovativen und Kreativen unter sich, gefangen in digitalen Scheinwelten, deren schöne Begriffe längst zum Marketingsprech von Konzernen geworden sind.
Digitale Unternehmen der Shareconomy sind Businessmodelle der Zukunft, die sich immer mehr Lebensbereiche einverleiben. Selbst Nachbarschaften werden online organisiert, in den USA von Nextdoor, in Berlin Friedrichshain und Prenzlauer Berg durch Polly & Bob: "Wir wollen die Nachbarschaften dieser Welt vertrauender, teilender und verbundener machen." Es ist sicher nichts dagegen einzuwenden, dass sich NachbarInnen bei Spieleabenden oder Kulturveranstaltungen kennen lernen. Jedoch unterscheiden sich solche Sozialunternehmen grundlegend von Bürgerinitiativen, die gemeinsame politische Anliegen vertreten. Soziale Ungleichheit oder gar Fragen nach der politischen Macht kommen in der schönen Welt des Teilens nicht vor, auch wenn oft von einer Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft die Rede ist.
Was aussieht wie ein soziales Netzwerk und behauptet, der Erfüllung von Bedürfnissen zu dienen, entpuppt sich oft als Geschäftsmodell, bei dem diejenigen, denen die digitalen Infrastrukturen gehören und die Angebot und Nachfrage zusammenführen, bei jeder Transaktion profitieren. Die Risiken tragen allein die NutzerInnen dieser Dienste. Sie haben weder Arbeitnehmer- noch Verbraucherrechte, ihre Daten werden in unkontrollierbarem Umfang verwertet. Den Global Players ist schon jetzt mit nationalen Gesetzen und Regulierungen kaum beizukommen. Wenn das TTIP eingeführt wird, können sie noch schrankenloser agieren.
Microsoft-Gründer Bill Gates startete 2010 gemeinsam mit dem Investor Warren Buffet die Kampagne "The Giving Pledge", das Versprechen, zu geben: Milliardäre verpflichten sich - moralisch, nicht rechtlich bindend - mindestens die Hälfte ihres Vermögens für einen guten Zweck herzugeben. Wohin dieses Geld fließt und wann, das entscheidet jedes Giving Pledge-Mitglied für sich. Solche Philanthropie ändert nichts an den Ungerechtigkeiten der globalen Weltwirtschaft, sondern stabilisiert vielmehr die herrschenden Verhältnisse.
Statt dem Hype des Teilens zu erliegen, kommt es darauf an genau hinzuschauen und die Akteure und ihre Interessen kritisch zu hinterfragen. Zwischen Teilen und Umverteilen liegen Welten.
(Der Text ist zuerst am 10. September 2014 im Magazin Gegenblende erschienen.)