Die soziale Utopie des Neoliberalismus

Balkanisierung im und durch den Cyberspace?

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Computernetze sollen Demokratie und neue Gemeinschaften erzeugen, in denen die Unterschiede im wirklichen Leben keine Rolle mehr spielen. Verbunden ist jedoch die Cyberkultur oft, vor allem in den USA, mit einem radikalen Individualismus und mit der Ideologie des freien Marktes. Diese Kombination zeugt nicht nur von einem anti-staatlichen und sogar anti-demokratischen Affekt, sondern kann auch zu einer Verstärkung der Balkanisierung der Gesellschaft führen. Das Projekt "Ozeanien", propagiert im Internet, spricht diese Tendenz in der reinsten Tendenz aus.

"Stellen Sie sich vor:

eine Oase inmitten des Meeres: Bürogebäude, Hotels, Theater und Einkaufszentren, die knapp über dem Meeresspiegel in schönen Reihen liegen, umgeben von Grünanlagen und Blumen. Dazwischen Kanäle mit klarem blauem Wasser und mit Wassertaxis und Gondeln als Transportmittel der Einwohner. Das ist ein neues Land ...

Ein neues Land, das es niemals zuvor gegeben hat und das in einem gemäßigten tropischen Meer gebaut wird, ein vollkommenes Klima, ein Paradies: Utopia!"

Ein neues Venedig soll als ultimative Utopie der globalen Informationsgesellschaft und als Enklave der neuen virtuellen Klasse entstehen. Schon immer waren die utopischen Gesellschaften fernab angesiedelt, einstmals auf dem Meer, neuerdings eher im Weltraum. Stets waren es Inseln, abgeschlossene Räume, die den Kontakt mit der bestehenden Wirklichkeit vermeiden, um nicht verdorben zu werden, um störende Elemente von sich fernzuhalten und eine harmonische Gemeinschaft aus mehr oder weniger Gleichartigen zu bilden.

Der Cyberspace, die schnellen Verkehrs- und Transportbedingungen, die Globalisierung der Wirtschaft schließen nicht nur Waren- und Geldmärkte zusammen, sondern auch die nationalen Arbeitsmärkte. Sie machen nicht nur Unternehmen mobiler, sondern auch die Menschen, die sich schnell mit ihren Arbeitsplätzen und Wohnorten aus ihren regionalen und nationalen Räumen herauslösen können und dies auch mehr und mehr müssen. Die Notwendigkeit, einer räumlich definierten "Schicksalsgemeinschaft" anzugehören, schwindet zumindest für die virtuelle Klasse immer mehr. Diese gesellschaftliche Entsolidarisierung und Individualisierung zeigt sich etwa darin, daß nicht nur Unternehmen, sondern auch einzelne nicht mehr bereit sind, einen gesellschaftlichen Ausgleich durch Steuern zu entrichten und sich auch sonst möglichst "störenden" Auflagen durch Verlagerung des Wohn- und Arbeitssitzes zu entziehen. Gefragt ist stets das kostengünstigste Angebot, das am besten den Profit vermehren läßt.

Länder und Regionen sind durch die Globalisierung in einen Wettbewerb auf dem freien Markt der Standorte eingetreten, dessen Regulierung nicht mehr in den Händen von nationalen Regierungen liegt und damit auch demokratischer Kontrolle nicht unterworfen ist. Politik ist nicht mehr nur national, sondern international zu einem Tauschwert geworden, der sich den Bedingungen des Marktes unterwerfen muß. Der Markt mag zwar "frei" im Sinne des Fehlens von staatlichen Regulierungen sein, aber er ist keineswegs irgendwie demokratisch geartet. Telearbeitsplätze, wachsende Anzahl von Selbständigen, Teledörfer in schöner Umgebung, überhaupt die Auflösung der Verbindung zwischen Wohnort und außerhalb der Wohnung, aber in deren Nähe liegendem Arbeitsplatz bereiten eben jene Bahn, die in Richtung auf die nur im ersten Anblick kitschig, spinnig und irreal anmutende Utopie eines neuen steuerfreien Venedigs in der Karibik für die Wohlhabenden weist.

Der Kern dieser Utopie ist der Versuch, sich jeder gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen, die in den Nationalstaaten auch durch das Erheben von Steuern geschieht. Steuergelder dienen der Finanzierung von Einrichtungen im öffentlichen, d.h. allgemeinen Interesse einer Bevölkerung und dem Versuch, einen gewissen Ausgleich zwischen den Reichen und Armen zu schaffen. Im Vordergrund steht das Mißtrauen gegenüber dem Staat und das Gefühl, von ihm ausgebeutet zu werden. Die Politiker stehen unter dem Druck der Mehrheit, und die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht reich. Weil alle Stimmen gleich zählen, geht alles den Bach herunter, denn für die neuen Utopisten einer kapitalistischen Meritokratie sind die Menschen nicht gleich, vor allem nicht hinsichtlich der "Fähigkeit, dem Antrieb und dem Ehrgeiz, Reichtum zu schaffen." Deswegen führt die Demokratie zu schrecklichen Ergebnissen: "Produktive, Risiken eingehende Bürger, die in der Verfolgung des American Dream nur nach Wohlstand suchen, sind zahlenmäßig weit in der Minderheit und hängen von der Gunst jener ab, die nicht die Neigung haben, dies zu tun. Wer Wohlstand erwirbt ist die Beute derjenigen, die das nicht können (oder wollen), und der Politiker, die sie wählen, um ihr Schicksal auf Kosten der Erfolgreicheren zu verbessern. Wenn wir in deren Lage wären, wären wir dumm, nicht dieselben Ziele zu verfolgen. Aber wir sind es nicht. Wir haben den Ehrgeiz, den Verstand, die Arbeitsmoral und die Fähigkeit, unser Schicksal oder unser Vermögen zu verbessern, und wir sollten nicht diejenigen unterstützen müssen, die das nicht haben." Überall werden die verfolgten Erfolgreichen nur stranguliert und versklavt.

Der freie Markt ist der Segen der Wohlhabenden. Wer Gewinner ist, darf sich in Ozeanien ansiedeln. In seiner Verfassung wurde ein neuer Passus eingearbeitet: das Recht aller Bürger auf Wohlstand. Wer seine Arbeit und die Möglichkeit verliert, für sich selbst zu sorgen, soll möglichst schnell wieder in die bösen demokratischen Staaten der Verlierer verschwinden. Mit der Staatsbürgerschaft Ozeaniens soll man überall leben können, ohne dort Steuern zahlen zu müssen, wenn sich das Vermögen in Ozeanien befindet. Dann wird man auch nicht ausgeliefert wegen irgendwelcher Steuervergehen, weil es solche hier ja nicht gibt. Das ist attraktiv, zumal als Sicherheit eine doppelte Staatsbürgerschaft gewährt werden soll. Überhaupt soll jeder nach seiner Facon glücklich werden und alles machen können, was er will, wenn er das auf seinem Grundstück macht und andere toleriert. Ozeanien mit seiner geplanten konstitutionellen Monarchie, die Stabilität garantieren soll, will das konkurrenzlose Steuerparadies sein. Wichtig ist nur, sowenig wie Staat wie möglich, der unbedingte Schutz des Eigentums und der darauf aufbauenden Freiheit, eine lückenlose Sicherheitsüberwachung mit einer gut ausgestatteten Polizei und Überwachungskameras und der besten medizinischen Versorgung, um das Leben soweit wie möglich zu verlängern. Das Glück eines sich stets vermehrenden Reichtums, einer prosperierenden Wirtschaft und eines bedingungslos freien Unternehmertums wird sich in Ozeanien, der Insel des Neo-Liberalismus und des unreglemtierten Kapitalismus, niederlassen, in dem endlich alles von neu an begonnen werden und in dem man die Last der anderen Menschen hinter sich lassen kann, die nur noch als Konsumenten, nicht mehr als Mitbürger zählen. Eine schöne, neue Welt also, die im Projekt Ozeanien nur selten ungeschminkt hervortritt.

Diese Tendenz der Homogenisierung der sozialen Schicht ist längst auch in den Cyberspace eingezogen. Noch kursieren in der Cyberkultur die Utopien einer großen, alle Unterschiede übergreifenden Gemeinschaft. Marshall McLuhan hatte diese Hoffnung durch seine bekannt gewordene Metapher eines "globalen Dorfes" geprägt, in dem die Menschen einander näher rücken. Heute spricht man von einem "kollektiven Wissen", das die Computernetze mit ihrem Prinzip der freien Zugänglichkeit von Informationen ermöglichen, von einem "globalen Gehirn", einem neuen "Superorganismus" oder dem "Kybionten". Individualität wird, so hofft man, durch die Ortlosigkeit und Globalität des Netzes, in eine neue Form von virtueller Gemeinschaft oder gar Solidarität übergehen. Was in der wirklichen Welt nicht möglich zu sein scheint, nämlich die Einlösung der revolutionären Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, wird in den Cyberspace verschoben, in dem alles ganz anders sein soll. Hier sei noch alles unbesetzt, es sei, so glauben manche, eine freie Welt, die jedem die größtmögliche Freiheit, die besten Chancen, die breiteste und freieste Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen überall auf der Erde gewährt. Und natürlich glaubt man auch, daß im Cyberspace eine bessere und direktere Demokratie aufgrund der einfacheren Möglichkeiten der Information und Kommunikation sich entwickeln könnte.

Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Als Kehrseite der Globalisierung werden neue Grenzen gezogen. Bestimmte soziale Schichten lösen sich aus der Klammer ihrer Länder heraus, bilden homogene Gruppen, die sich in bevorzugten Regionen mehr und mehr einschließen, oder gehen dank der Virtualisierung dorthin, wo sie die in ihrem egoistischen Interesse besten Bedingungen finden. Möglichkeiten des sozialen Ausgleichs und einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität sinken. Besonders kritisch wird diese Entwicklung, weil die Schere zwischen den wenigen Wohlhabenden und den vielen anderen immer weiter aufgeht und überdies langfristig eine gewaltige Reduktion der Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten durch Rationalisierung und Verschlankung der Unternehmen stattfindet, die nicht durch den Ausbau von Dienstleistungen und auch nicht durch den Informations- und Unterhaltungsmarkt wettgemacht werden. Immer geringer wird die Einflußmöglichkeit der demokratisch gewählten, aber territorial gebundenen Regierungen, was auch heißt, daß lokale demokratische Prozesse an Bedeutung verlieren, selbst wenn die Möglichkeit des Austausches von Informationen und somit der Willensbildung durch die Netze erheblich erweitert und erleichtert wird. Die Einführung der Netze wird überdies vielfach nur aus Gründen der Standortsicherung sowie aus der Notwendigkeit betrieben, angesichts der knappen öffentlichen Haushalte die Behörden zu verschlanken, was als "Reinventing Government" verkauft wird.

Zusammengeht geht die "Neuerfindung der Regierung" mit dem steigenden Verlangen der wohlhabenden Schichten und den zur Info-Elite gehörenden Teilen der Cyberkultur, die staatlichen Klammern weiter dem Individualismus zu öffnen und möglichst alles den freien Kräften des Marktes zu überlassen. Allmählich kondensieren sich die neuen Utopien der Informationsgesellschaft heraus, die auf weitgehend autonome Lebenswelten zielen. Biosphäre II ist das große technische Vorbild, in der Zukunft sind es Lebenswelten im Weltraum, derzeit denkt man eher an gut gesicherte Zitadellen oder an das Leben in Teledörfern in einer schönen Umgebung. Auf jeden Fall will man mehr und mehr unter sich sein. Derzeit keimen, nachdem die großen Projekte nicht verwirklichbar erscheinen, wieder alte Vorstellungen vom Leben auf einer Insel, wo auch die alten Utopisten ihre Träume einer anderen Gesellschaftsform angesiedelt haben. Da heute die Welt voll ist, es keine freie Inseln mehr gibt, soll die Utopie gleich auch die Konstruktion von künstlichen Inseln mit einschließen.

Auch von Wissenschaftlern am MIT wird die Tendenz zur Balkanisierung im Cyberspace befürchtet. Die Informationstechnologie kann, so Marshall van Alstyne und Erik Brynjolfsson in Electronic Communities, geographisch getrennte Menschen verbinden, Trennungen überbrücken und Gemeinschaften zusammenbringen, aber sie kann auch Interaktion fragmentieren und Gruppen trennen. Menschen können, weil im Cyberspace die freie Wahl besteht, unerwünschte Kontakte ausschließen und sich noch besser in Interessensgruppen zusammenfinden, die eine neue Cybergeographie erzeugen. Auch im wirklichen Leben hat man nur mit wenigen Menschen Beziehungen, doch man trifft notwendigerweise immer auf andere, mit denen man sich arrangieren muß. Im Cyberspace kann man mit unendlich vielen Menschen kommunizieren, und schon aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird die Tendenz gefördert, Menschen zu suchen, mit denen man gemeinsame Interessen hat, die derselben sozialen Schicht, derselben ethnischen Gruppe, demselben Bildungsstand oder derselben ökonomischen Klasse angehören.

Wenn man überdies immer mehr Zeit im Cyberspace verbringt, dann heißt dies auch, da die Zeit und die Aufmerksamkeit des einzelnen beschränkt ist, daß man sich entsprechend weniger in lokalen Gemeinschaften aufhält, mit seinen Nachbarn oder mit den übrigen Familienmitgliedern kommuniziert. Die Geographie zwingt eine unvermeidbare, aber immer weniger erwünschte Heterogenität auf. Schon eine geringe Bevorzugung der Kommunikation mit Menschen ähnlicher Herkunft oder Interessen gegenüber der Suche nach größerer Vielfalt kann, so die beiden Wissenschaftler vom MIT, die Balkanisierung steigern. Das Anwachsen der Optionen fördert den Individualismus und die gesellschaftliche Fragmentarisierung. Wird dem nicht bewußt entgegengesteuert, wird es bald viele Orte wie Ozeanien geben.