Die sprachgestörten Kinder Deutschlands

Versuche, die Krise des "Staates" und der "Nation" im Medium der Sprache zu überwinden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während die Globalisierung die Modelle „Staat“ und „Nation“ zunehmend in Frage stellt, werden in Deutschland die damit verbundenen Probleme in letzter Zeit immer kontroverser als eine Frage der Sprache verhandelt. „Unsere“ Muttersprache Deutsch wird dabei vehement zur Disposition gestellt: Ist „unser“ Deutsch noch rein genug oder schon viel zu sehr überfremdet, etwa durch Englisch? Ist es, kulturell gesehen, überhaupt noch auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit oder muss ihm eine Verlotterung konstatiert werden, der es mit allen Mitteln entgegen zu arbeiten gilt? Kurz: Sprechen die Bürger der BRD überhaupt noch die richtige Sprache oder sind sie längst verlorenen gegangen an ein Schattenregime, das „unsere“ Gesellschaft zu unterwandern droht?

Diese Fragen werden in dieser Form nicht gestellt. Vielmehr werden immer wieder neue Angstschreie laut. „Rettet dem Deutsch!“ titelte etwa Der Spiegel in seiner Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit. Forderungen nach „mehr Deutsch“ haben inzwischen zugenommen. Nach „Deutsch-Quote im Radio!“, heißt es neuerdings „Deutschpflicht in Fitnessstudios, Kneipen, Schulen!“ Die resultierende Debatte ist selbst in Sabine Christiansens Talkshow ausgetragen worden – im so genannten Ersatz-Parlament der Bundesrepublik. Freilich ist auch die „wahre“ Bühne der deutschen Politik von den Treibhausgasen nationaler Identitätsstiftung nicht unverschont geblieben. Im Gegenteil. Nachdem die Sache mit der Deutschpflicht an Schulen auch von Politikern debattiert worden ist, schlägt jetzt die Diskussion um den Deutschtest für Kinder immer höhere Wellen.

Doch wer die eingangs gestellten Fragen quasi als ideologische Zuspitzung der Diskussionen auf diese Weise stellt, deutet nicht ohne Hintergedanken an, dass es sich bei der Deutsch-Debatte um mehr als ein Sprachthema handelt. Zugespitzt verweisen diese Fragen auf die immer wiederkehrenden Sorgen von Nationen und Staaten, die mit „Phänomenen“ wie der Migration von Daten, Kapital und Menschen fertig werden müssen. Wer, dies im Hinterkopf, über den Atlantik blickt, kommt nicht umhin, auch dort „die Krise“ auf die Sprachebene verbannt zu sehen. Samuel Huntington etwa hat nicht nur eine der lautesten Stimmen in diesem Zusammenhang, sondern auch wie wohl kaum ein anderer die Gefährdung der Leitsprache Englisch zum Problem mit höchster Dringlichkeit erklärt. Sein Kampfruf ist mittlerweile fast bekannter als er selbst: „There is no Americano Dream. There is only the American dream created by an Anglo-Protestant society. Mexican-Americans will share that dream and in that society only if they dream in English.”

In Deutschland hat die Angst eine Farbe angenommen, zumindest wenn man im übertragenen Sinne sagen wollte, dass die kollektive Psyche – entsprechend dem Alarmsystem der Homeland Security – je nach Aggregatzustand ihre Farben wechselt. Derzeit, so scheint es, leuchtet es in „unserer“ Mitte prall rot. Denn, und das dürfte kaum jemandem entgangen sein, der allerneuste Krisenherd einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, sind „unsere“ Kinder. Und es geht meistens immer dann um „unsere“ Kinder, wenn etwas sagenhaft Wichtiges auf dem Spiel steht. Oder wenn man das suggerieren will. Und seiner Rede einen unmissverständlichen Anstrich geben möchte, um klipp und klar mitzuteilen, dass es nicht mehr witzig ist, sondern bitterernst. Dass „unsere“ Zukunft auf dem Spiel steht. Und dass „unsere“ Wurzeln marode zu werden drohen wie ein fauler Zahn: Ja, sowohl die Basis der Gesellschaft als auch ihre Entwicklung.

Noch bleibt Ersteres im aktuellen Gewirr der Stimmen unausgesprochen. Zumindest traut sich noch niemand, direkt die Probleme „unserer“ Kinder als Probleme des sozialen „Grundbestands“, der sozialen „Anlage“, etc. anzusprechen. Von Entwicklung beziehungsweise von Entwicklungsstörung ist jedoch offen die Rede.

Bundeskanzlerin Merkel etwa gibt zu verstehen, dass sich bereits in der Kindheit die Fähigkeit zum Lernen, zur Leistung und zur Einhaltung geregelter Tagesabläufe entscheide.

Wenn in zweiter Generation – nicht nur in ausländischen Familien – Kinder keine solide Ausbildung mehr machen, bleiben sie doch von jeder Entwicklung ausgeschlossen.

Mit Merkels Aussagen ist das Thema nun vollends im Mainstream angekommen. Tagesschau, Tickermeldungen in der U-Bahn, Boulevard – es ist allgegenwärtig und fordert absolute Aufmerksamkeit. Dabei ist diese Diskussion nicht neu. Die Prüfung „Zertifikat Deutsch Plus“ – darauf bezieht sich auch Merkel – wurde bereits vor sechs Jahren entwickelt. Anfangs lag der Fokus auf Migrantenkindern. Doch schon nach den ersten Sprachtests hieß es: „Auch deutsche Kinder scheitern. 45% fallen durch.“ Das war so um 2002. Diese Ergebnisse riefen Kritiker auf den Plan.

Das Vorgehen fußt auf Ausgrenzung und Selektion künftiger Schulanfänger und steht damit im Widerspruch zum Schulgesetz. Hier ist explizit der Verzicht auf einen Test vorgesehen, der „Grundschulfähigkeit“ prüft. Dahinter steht die Einsicht, dass die Schule sich auf alle Kinder in ihren sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen einzustellen hat. Das Recht auf Bildung im Verständnis von Chancengleichheit bedeutet Verzicht auf jede Form der Selektion.

Schulpsychologin Rosemarie Straub

Einige Jahre scheint man weiter zu sein. Der Maßnahmenkatalog hat eine neue Sprache gefunden, Zyniker würden sagen, eine sozialverträglichere Sprache. Dies zumindest deutet sich in den Reden des Bundesarbeitsministers Müntefering an, der ganz aktuell behauptet: Wer sprachlich noch nicht so weit sei, solle zu einem Förderkurs verpflichtet werden. Sogar Teile der Kindergartenzeit sollten von den Gebühren befreit werden, um Sozialschwächeren im Vorschulbereich bessere Bildungsmöglichkeiten zu geben. Für meine Begriffe bleibt Straubs Einwand dennoch virulent. Zumindest in seinem Kern. Es scheint, als führe der Staat eher unbewusst seine Unfähigkeit spazieren, sich auf eine zunehmend komplexere Gesellschaft einzustellen. Als demonstrierte er mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Macht, dass der Traum einer „integrierten Gesellschaft“ noch immer nicht ausgeträumt ist.

Wenn Kinder in staatstragenden Debatten instrumentalisiert werden, um die Lage zu dramatisieren und um die Mobilmachung zuzuspitzen, dann sicherlich auch hier. Hier zeigt sich vermutlich noch deutlicher als sonst, dass die Projektion (Kinder gleich BRD) eine selbsterfüllende Prophezeiung zu werden droht. Beschreibt nicht etwa die Rede von der gehemmten Entwicklung, die „unseren“ Kindern auf sprachlicher Ebene attestiert wird, das Deutschland von morgen? Oder vielleicht sogar schon von heute? Nimmt sie nicht die Konsequenzen vorweg, die quasi unabwendbar sind, wenn man anfängt, mit den falschen Mitteln an der falschen Stelle „Ordnung“ zu schaffen? Um nochmals mit Straub zu sprechen:

Kinder blocken und sperren sich angesichts der Rechthaberei, nicht selten funktionalisieren sie dann Sprache als Mittel der bewussten Selbstausgrenzung.

Es scheint, als zeichnete sich diese Konsequenz, wollte man die rhetorische Gleichung umkehren (BRD gleich Kinder), in „unserem“ Land bereits heute ab. Deutschland macht – bedrängten Kindern gleich – einfach dicht, statt sich offen den Anforderungen der Globalisierung zu stellen.

Krystian Woznicki ist derzeit mit dem internationalen Dialogprojekt McDeutsch beschäftigt, das die Globalisierung der deutschen Sprache untersucht.