Die tausend Augen der Dr. Merkel
Unter der komitativen Sphäre beginnt die Fotografie als Medium zu verblassen - Teil 5
Wie hat sich unser Verhältnis zu Bildern im Zuge der bisherigen digitalen Revolution und der Implementierung der komitativen Sphäre verändert? Will man der Frage nachgehen, hilft ein Blick auf die Transformation des Schriftlichen.
Als sich ab den 1990er Jahren die Bildschirme mit den neuen Gefäßen des Internet, die Websites, füllten, mussten diese Gefäße aufgefüllt werden und der "Content" war geboren. Und dabei handelt es sich nicht nur um eine sprachliche Neuschöpfung, sondern das Wort stand ab nun für ein grundlegend verändertes Verhältnis zu Texten. Nachdem die Marketingmanager und Bilanzbuchhalter die Herrschaft über das übernommen hatten, was den Platz zwischen zwei Anzeigen füllte, gab es keine Artikel, Glossen, Essays, Berichte oder Reportagen mehr. Sondern nur noch Content. Es war wohl die tiefste Demütigung aller Schreiberlinge seit Erfindung der Schrift.
Und während so der Text zu Füllmaterial herabsank, stieg gleichzeitig das Bild auf und setzte zu einem irrwitzigen Höhenflug an. Oder anders ausgedrückt: Die Innenseite der komitativen Sphäre wurde nach und nach mit unzähligen Fototapeten zugekleistert. Das digitale Universum formte aus seinen Einsen und Nullen die Unendlichkeit eines Weltbildes, dessen Einzelbilder längst nicht mehr zu zählen sind. Was da aus den Speichermedien der Digitalkameras aufstieg und sich zu einer gigantischen Bildwolke verdichtete, war in dieser Intensität noch nie gesehen worden. Gegen die Totalität dieser Bilderwelt waren die Tausend Augen des Dr. Mabuse und die Wohnzimmerbeobachtungsapparate in Orwells "1984" nur Kinderkram.
So hat allein das kursierende pornografische Bildmaterial im Netz eine "Vielfalt" und ein Ausmaß erreicht, dessen Dimensionen nicht mehr zu fassen sind. Quasi jede menschliche Pore ist in Nahaufnahme zu besichtigen und die Surfer erfahren von menschlichen Körperteilen, von denen sie nie geahnt haben, dass es sie wirklich gibt.
Noch im 19. Jahrhundert war die bildliche Darstellung für die Landbevölkerung ein seltenes Ereignis, sieht man von den Altarbildern in den Kirchen ab. Seitdem hat die Präsenz von Bildern in unserer Umwelt permanent zugenommen, mit jeweils großen Sprüngen bei der Etablierung neuer Medien wie dem Buchdruck, dem Holzschnitt, der Fotografie, dem Film, dem Fernsehen und schließlich dann dem Internet.
Beziehung zwischen Bild und Schrift
Dabei hat die Beziehung zwischen Bild und Schrift verschiedene Stadien durchlaufen. Beispiel Soziologie und Fotografie. Beide Verfahren (nimmt man August Comte als Anhaltspunkt für die Soziologie und die Daguerreotypie für die Fotografie) sind etwa zur gleichen Zeit (um 1840) entstand. Seit der Jahrhundertwende 1900 gingen beide Verfahren eine nähere Verbindung ein, die sozialdokumentarische Fotografie von Lewis W. Hine etwa entstand aus sozialreformerischen Gedankengut und einer großangelegten soziologischen Untersuchung über eine Stahlarbeiterstadt heraus.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts nahm sich die Fotografie immer wieder der sozialen Welt an, teilweise in großen Abbildungsprojekten. So wurden die Fotografen des New Deal in den USA der 1930er Jahre auch als "Soziologen mit der Kamera" bezeichnet. Als fotografisches Pendant zur soziologischen Gemeindeforschung in der Tradition von "Middletown" könnte man z.B. das große Werk von W. Eugene Smith (1918 - 1978) über die Stahlstadt Pittsburgh bezeichnen. Diese sozialdokumentarische Fotografie wird im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weniger von organisierten Gruppen, aber zunehmend als individuelles Projekt einzelner Fotografen unternommen.
Während die Soziologie "verwissenschaftlicht" und sich politisch zurücknimmt, wird die Fotografie persönlicher, künstlerischer und bleibt politisch engagiert. Das Ergebnis ist die zunehmende Trennung beider Verfahren. Die Soziologie will den Naturwissenschaften nacheifern und verwirft das Bild, weil es mehrdeutig interpretierbar ist. Erst seit den 1970er Jahren haben sich Soziologie und Fotografie in einer Visuellen Soziologie wieder angenähert.
Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Gebrauch der Fotografie gab es auch im Pressewesen. Es ist noch nicht lange her, seit die ehrwürdige Neue Zürcher Zeitung zum ersten Male ein Foto auf ihrer Titelseite druckte. Auch das Internet der frühen Jahre war eher eine bildlose Angelegenheit, ganz einfach, weil Bilddateien für die damaligen Rechnerkapazitäten zu groß waren. Auch beim Internet stand am Anfang das Wort, wozu sich dann die Kaffeemaschine hinzugesellte (1993 wurde sie mit einer Webcam erstmals aus einem Labor der Universität Cambridge übertragen).
Aus der Bilder-Einöde dieser frühen Netz-Jahre ist inzwischen ein wahrer Bilder-Tsunami geworden. Noch nie haben so viele Katzenfreunde auf Facebook ihre Katzenfotos anderen Katzenliebhabern gezeigt.
Und noch nie waren so viele Merkel-Fotos zu sehen wie auf den Nachrichtenportalen. Eintausend und mehr Merkels sehen uns an, entweder lächelnd, die Mundwinkel hochziehend, skeptisch blickend, bei Regen, bei Sonne, am Sonntag, am Montag, vor dem Bundestag, im Bundestag, auf dem Bundestag. Je nach Tönung des Berichts wird ein entsprechendes Foto der Bundeskanzlerin aus dem unendlichen Fundus dazugestellt. Aus einem konkreten Zusammenhang wird so eine Art symbolischer Bebilderung und Merkel zu einem Wesen mit ständiger Präsenz erhöht. Damit wird freilich die Beziehung zwischen Bild und Situation gekappt, Merkel quasi zum Symbolbild ihrer selbst. Diese Herauslösung aus dem Kontext macht das Bild ähnlich wie beim Text dann zum "Content".
Regis Debray hat in seiner Geschichte der Bildbetrachtung drei Zeitalter unterschieden: Die Logosphäre des gesprochenen Wortes, die Graphosphäre des Buchdrucks und die Videosphäre des Fernsehens. Das Bild in der gegenwärtigen komitativen Sphäre ist vor allem durch eines gekennzeichnet: durch seine Allgegenwärtigkeit, die sich zunehmend mit Belanglosigkeit vermischt. Dabei bleicht die Fotografie als Medium langsam aus, bis sie völlig verschwunden sein wird.