Die unsichtbare Superdiktatur
Warum es die von vielen Verschwörungstheoretikern vorgestellte, im geheimen agierende und fast allmächtige Diktatur nicht geben kann
Verschwörungstheorien können töten. In Deutschland sterben immer wieder Kinder, weil sie auf der Grundlage einer Verschwörungstheorie nicht gegen Masern geimpft werden. Und ohne beides gleichsetzen zu wollen: Der mörderische Hass der Nazis loderte auch darum so hell, weil diese von einer umfassende Verschwörung des weltweiten Judentums überzeugt waren.
Und doch lässt sich die Welt nicht ohne konspirative Vorgänge verstehen: Von der Verteidigungslüge der Deutschen im Blitzkrieg gegen Polen, bis zur Selbstverständlichkeit, dass sich reiche Eliten verbünden, um ihr Interesse (auch im Geheimen) durchzusetzen, wie es beispielsweise Björn Wendt in seinem Buch Die Bilderberg-Gruppe recht genau nachzeichnet.
Wie lassen sich also sinnvolle von gefährlichen und dummen Verschwörungstheorien unterscheiden?
Zu viele dieser Theorien laufen letztendlich darauf heraus, dass die Weltgeschichte von einer kleinen Gruppe Superreicher hinter den Kulissen gelenkt wird. Beispielsweise meinte der Hauptorganisator der "Montagsmahnwachen für den Frieden", wenn man nur genau hinschaue, würde man erkennen, dass alle Kriege der letzten hundert Jahre (also wohl auch der zweite Weltkrieg mitsamt seiner Mördereien) von den Bankern der amerikanischen "Federal Reserve" organisiert worden seien.
Diese Art Verschwörung lässt sich in einem Bild fassen. Es ist auf der Eindollarnote abgebildet. Dort sieht man ein Auge inmitten eines Dreiecks. Es schwebt an der Spitze einer Pyramide. Ob das Auge nun die Illuminati, die Rothschilds, die Federal Reserve oder allgemein gesagt irgendwelche Superbanker darstellt, ist unter den Verschwörungstheoretikern umstritten. Einig sind sie sich aber darüber, dass diese Banker/Illuminati/Kapitalisten unbemerkt so ziemlich alle Fäden in der Hand haben.
Diese Pyramide entspricht dem Bild einer perfekten Machtstruktur. Sie ist der Traum jedes Chefs: Die Spitze sieht alles und kontrolliert alles. Jeder Befehl geht von ihr aus und wird in einer sauberen Linie nach Unten hin durchgeleitet und genau wie befohlen ausgeführt. Die Kontrolle ist total. Wissenschaft, Justiz, Medien, Polizei, Wirtschaft, alles wird von dieser Spitze aus im Geheimen kontrolliert. So gesehen leben wir innerhalb einer umfassenden Verblendungsmaschinerie.
Es gibt tausenderlei Verschwörungstheorien, die dieser Vorstellung entsprechen. Ungeheurlichste Wahrheiten würden vertuscht, AIDS, Kriege, Armut, Hunger, Krebs: Eigentlich alles was schlecht und böse ist, vielleicht mit der Ausnahme von Liebeskummer, gehört zu einem unfassbar bösen Masterplan, ausgeheckt von dieser kleinen Gruppe Superreicher.
Populär war in der letzten Zeit die Verschwörungstheorie der "Impflüge". Bestimmte Impfgegner behaupten in Büchern, Vorträgen und Artikeln, dass "Ärzte, Medien und vor allem die Justiz massiv lügen, um den Weiterbestand des Impfens zu garantieren". In Wirklichkeit helfe das Impfen nämlich gar nichts, sondern es verursache nur Krebs, Autismus und viele andere Krankheiten. Hunderttausende Kinder würden sterben, "die Grundlagen des biologischen Lebens zerstört". Das ist prinzipiell vorstellbar; Kapitalisten neigen dazu, Profite über alles zu stellen. Sie könnten lügen und betrügen, hier täuschen und dort einschüchtern, nur um noch ein paar Milliarden Euro dazu zu verdienen.
Schwierig wird es aber bei der Umsetzung dieser unsichtbaren Diktatur. Seien wir konkret: Um die Impf-Lüge durchzusetzen, müssten junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Medizinstudium schon mittels Gehirnwäsche dazu gebracht werden, an die Impflüge zu glauben. Aber wie funktioniert das genau? Die Befehlskette müsste ja perfekt von oben nach unten durchgeleitet werden. Und das ohne das jemand etwas davon bemerkt.
Führen "Die Banker" geheime Telefonate mit allen Universitätsprofessoren, und diese unterrichten daraufhin einhellig die Impflüge, schreiben nur noch Bücher, die eine solche unfassbar boshafte Lüge enthalten? Was ist mit den nächsten Gliedern dieser Befehlskette? Die unteren Dozenten, studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte, die Studenten. Wissen diese alle nichts davon, oder sind sie Teil des Plans?
Sind sie also alle unfassbar korrupt? Oder sind sie nur unfassbar dumm, denn die Impflüge ist ja so leicht durchschaubar, dass selbst Laien sie zweifelsfrei erkennen können - zumindest wird das auf diversen Youtube-Videos und Blogs behauptet. Außerdem müsste auch der gesamte Justizbetrieb, die gesamte Presse, die gesamte Politik mitsamt des Organisationsapparates, der diese ermöglicht, davon wissen, und diese mörderische Befehlskette mittragen.
Nun zeigt die deutsche Geschichte, dass hochgradig organisierter Mord ja mach- und denkbar ist. Der Unterschied liegt aber darin, dass die Befehlsketten im dritten Reich nur mäßig unsichtbar waren. Man musste schon die Augen und Ohren fest verschließen, um nicht zu bemerken, dass etwas Entsetzliches vor sich geht. Außerdem hatten opportunistische Täter und Nichtwiderständler im "Dritten Reich" wenigstens die Ausrede einer angeblich "höheren Idee". Das funktioniert mit der Impf-Lüge nicht. Hier mitzumachen wäre einfach nur offen böse.
Das Konzept einer umfassenden und unsichtbaren Diktatur ließe sich vielleicht noch mit der Vorstellung retten, dass ab einer bestimmten Stelle dieser Befehlskette die Befehlsempfänger tatsächlich nicht wissen, was sie tun. Aber ab welchem konkreten Glied der Kette könnte dieses Unwissen beginnen? Bei den Universitätsprofessoren? Oder beim wissenschaftlichen Personal? Wer jemals stille Post gespielt, oder irgendetwas organisiert hat, weiß, wie schwierig es ist, Anweisungen weiterzugeben. Es ist schon schwierig genug, Befehle nur über ein Glied der Befehlskette sauber nach Unten zu vermitteln. Aber wie soll das so extrem fehlerarm funktionieren, bei einer zentral regierten Welt, also einer ungeheuer langen Befehlskette? Und das auch noch, ohne dass ein Teil der Befehlskette etwas weiß, von dem Befehl?
Dieses System aus Lügen wäre dann so groß und so umfassend, dass es eine Organisationsleistung benötigen würde, neben der der echte Pyramidenbau wie der Bau eines Vogelhauses wäre. Und das, während die Stadt Berlin es noch nicht einmal schafft, die S-Bahnen pünktlich fahren zu lassen?
Dieses Problem der organisationstechnischen Unmöglichkeit haben viele Verschwörungstheorien. Wenn wirklich alle Juden aus den Zwillingstürmen evakuiert wurden, wie einige behaupten, hätte das eine unfassbare Organisationsleistung benötigt, denn viele davon dürften ein Problem damit gehabt haben, dass alle Nichtjuden sterben sollen. Sicher könnte man diese ruhig halten, mit Gewalt und Drohungen, aber dazu bräuchte man einen extrem effektiven diktatorischen Apparat, und den zu haben und gleichzeitig etwas anderes vorzugaukeln ist ohne Zauberkräfte nicht möglich.
Macht ist nur in Modellen pyramidenförmig. In Wirklichkeit verläuft sie eher in Form eines Wurzelgeflechts, eines Rhizoms, wie die Philosophen Deleuze und Guattari es genannt haben. Ein Rhizom ist ein "vielwurzelig" verflochtenes System, das an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden kann. Es wuchert entlang seiner eigenen oder anderer Linien weiter. Es kann verschiedenste Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche, bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen.
Konkret heißt das, es gibt nicht "Die Banker", die alles sehen und alles beherrschen. Es gibt verschiedene Machtzentren, auf verschiedenen Ebenen, und diese bekämpfen sich oft gegenseitig. Die Macht wird von den "Befehlsempfängern" teils weitergetragen, teils interpretiert, teils aufgelöst, bekämpft oder verändert. Letzteres kennen wir vom besagten Spiel der "stillen Post". Informationen verändern sich.
Verschiedene Faktoren spielen mit hinein: Dummheit, Faulheit, Ruhmsucht, Geldgier, Ideologie, Angst, Edelmut, das Wetter oder der Zufall. Der zu Anfang angeführte Björn Wendt beschreibt beispielsweise, dass Journalisten oft nur unzureichend über die Bilderberg-Konferenz berichten, weil sie sie schlicht nicht kennen, oder weil sie bei einem kritischen Bericht eben in Zukunft nicht mehr eingeladen würden.
Meist ist es sinnvoll, den Blick zu erweitern, von irgendwelchen Einzelakteuren zu Dynamiken hin. Wir neigen dazu, unpersönlichen Verhältnissen ein Gesicht zu geben: So wie wir das "Schicksal" und die "Natur", der wir tatsächlich völlig egal sind, zu einem Gott mit weißen Bart und eisernem Willen gemacht haben. Die Wirklichkeit lässt sich aber meist eher systemlogisch erklären.
Ein wichtiges Beispiel dafür sind Marktmechanismen: Viele Zeitungen verbreiten oft gefährlichen Mist, weil sie ohne hohe Auflagen eingehen würden, und gefährlicher Mist ergibt hohe Auflagen. Politiker müssen nicht unbedingt bestochen werden, um eine Politik der Reichen zu verfolgen, denn ohne das Geld der Reichen wird jede Stadt und jeder Staat arm. Firmen, die niedrige Löhne bezahlen und dafür viel Druck machen, gewinnen in der Regel im Wettbewerb gegen freundliche Firmen, die hohe Löhne bezahlen. Nicht immer, aber meistens dann, wenn direkte Konkurrenz besteht.
Veschwörungstheoretiker behaupten von sich gerne, "systemkritisch" zu sein. Das könnte eine gute Sache sein, denn das Elend der Welt schreit zum Himmel. Aber um systemkritisch zu sein, muss man erst verstehen, dass Superdiktaturen, in der Form einer umfassenden, unsichtbaren und fehlerfrei funktionierenden Herrschaft nur in den Träumen der Herrschenden (und vieler Verschwörungstheoretiker) bestehen. Eine Analyse von Machtverhältnissen, die auf einer solchen Vorstellung aufbaut, kann darum nicht funktionieren.
"Verschwörungstheorien" müssen gut belegt sein, und dürfen nicht alles auf einmal erklären wollen. Dann können sie auch überzeugen. Außerdem müssen andere Faktoren in die jeweilige Theorie mit "hineingerechnet" werden, allem voran die Dynamiken der Märkte und des Geldes (die sowohl positiv als auch negativ ausfallen können). Nur die Mächtigen zu kranken, aber allmächtigen Teufeln zu erklären, die das "gute" Volk ausbeuten führt jedenfalls in die Irre und nach Rechts.
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