Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine
Wird die Ukraine zum nächsten Kandidaten für eine gescheiterte Revolution?
Was man jetzt schon klar sehen kann: Die Ukraine wird zum nächsten Kandidaten für eine gescheiterte Revolution, weil der Westen jeder neuen Regierung als Gegenleistung für Kredite Bedingungen auferlegt, die den Sinn der Revolution sofort zunichte machen. Tunesien und Ägypten lassen grüßen.
Wie die Nachdenkseiten es gestern ausgedrückt haben: Die Hilfsangebote des Westens müssen als echte Bedrohung für die Ziele der Menschen angesehen werden, die für eine bessere und freiere Gesellschaft auf die Straße gegangen sind.
Die Ukraine ist in einer vergleichbaren Lage wie die osteuropäischen Länder Bulgarien und Rumänien, die wir hier (der gesamte Artikel nur im Abonnement) vor Kurzem analysiert haben. Wachstum gibt es nach einer kurzen Erholung unmittelbar nach der Finanzkrise nicht mehr, weil der Konsum, auf den sich das Wachstum bis dahin gestützt hat, nicht mehr expandieren kann. Man versucht nämlich, Lohnsteigerungen zu verhindern, weil die internationale Wettbewerbsfähigkeit akut gefährdet ist.
Allerdings ist die Situation in der Ukraine noch dramatischer als in Bulgarien und Rumänien, denn das Land weist auch aktuell noch ein riesiges Leistungsbilanzdefizit auf (über sieben Prozent vom BIP, vgl. Abbildung 1). Das bedeutet, dass die Ukraine einen hohen Bedarf an Finanzierung über die Kapitalmärkte hat.
Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds lag die Zunahme des (realen) privaten Konsums noch 2011 und 2012 im zweistelligen Bereich (über 15 Prozent Zunahme im Jahr 2011). Erst 2013 kam es hier zu einem deutlichen Dämpfer. Die Exporte sind schon 2011 eingebrochen und das gesamte Wachstum kam ab 2012 zum Erliegen.
Das ist der typische Fall eines Landes, das versucht hat, seine Transformation in eine Marktwirtschaft auf der Basis von heimischen Nachfrage- und Lohnsteigerungen (die in einem sehr armen Land natürlich heiß ersehnt werden) zu vollziehen und immer wieder an Grenzen stößt, weil die Inflation erheblich zulegt (vgl. Abbildung 2). Solche Länder scheitern dann regelmäßig an der Leistungsbilanzschranke.
Die zweimalige massive Beschleunigung der Inflation Ende der neunziger Jahre und in den Jahren vor der Finanzkrise zeigt, dass das Land immer auf Messers Schneide geritten ist. Solch eine Entwicklung wäre nur verkraftbar, wenn die heimische Währung konsequent und unmittelbar die sich dadurch ergebenden Inflationsdifferenzen zu den Handelspartnern mit entsprechenden Abwertungen quittieren würde. Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil auf den Finanzmärkten mit den Währungen solcher Länder spekuliert wird (vgl. Abbildung 3).
Auch die Ukraine war ein Opfer der carry trader, durch deren Finanzgeschäfte dem Land kurzfristiges Geld zufließt dank der hohen Zinsen, die in einem solchen Land wegen der relativ hohen Inflation herrschen. Folglich wird die Währung solcher Länder sogar gegen jede Vernunft auf- und nicht abgewertet. Das führt schließlich zu einer Überbewertung und einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, der nicht mehr ausgeglichen werden kann außer durch eine starke Abwertung.
Hier kommt die Politik ins Spiel, die regelmäßig solche Abwertungen zu verhindern versucht und stattdessen auch unhaltbare Wechselkurse verteidigen möchte. Abwertungen sind natürlich unpopulär, weil entweder viele heimische Unternehmen und Privatpersonen in ausländischer Währung verschuldet sind und/oder weil - ganz banal - Importe teurer werden, an die sich die Konsumenten gerade gewöhnt haben oder die - wie Öl und Gas - sogar lebensnotwendig sind.
Die Ukraine hat, wie die Abbildung 3 zum realen effektiven Wechselkurs (also der Veränderung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Rest der Welt) zeigt, im Jahr 2008 zum letzten Mal deutlich abgewertet, nachdem sie zwischen 2004 und 2008 erheblich aufgewertet hatte. Das war nach den Vermutungen einiger Beobachter (so Spiegel-Online) einer der Gründe für den Wahlverlust von Julija Timoschenko 2010. Weil man aber um das Problem der Wettbewerbsfähigkeit weiß, wird Druck auf die Löhne ausgeübt, was dann auch die heimische Nachfrage zum Stillstand bringt und die gesamte Wirtschaft in eine unlösbare Situation manövriert.
Die jetzige Krise wird vermutlich mit einer kräftigen Abwertung enden, weil es keine funktionsfähige Regierung und Zentralbank gibt, die dagegenhalten könnten. In der Tat hat die Hrywnia schon erheblich nachgegeben, fast auf den Tiefstand von 2008. Wie immer in solchen Fällen löst selbst eine starke Abwertung die Finanzierungsprobleme kurzfristig nicht, weswegen das Land beim IWF vorstellig werden muss, da es ohne IWF-Programm normalerweise von keinem anderen westlichen Land Kredite bekommt. Damit ist dann auch das "Revolutionsprogramm" in den Händen des IWF, denn der vergibt keine Kredite ohne harte neoliberale Auflagen (die berühmte conditionality).
Einen Vorgeschmack dazu liefert der jüngste Bericht des IWF zur Lage in den osteuropäischen Ländern. Da "findet der IWF heraus", dass zum starken Anstieg der Arbeitslosigkeit in den meisten Ländern im Zuge der Finanzkrise "schwaches Wachstum" besonders stark beigetragen habe. Aber wie fast immer in solchen Fällen kommt der IWF zu dem Ergebnis: "Labor market rigidities may also have played a role. In cutting the wage bill, there is a trade-off between a reduction in wages and in employment - the more wages adjust, the less employment has to. It is likely that poorly functioning labor markets will see relatively large adjustments of employment rather than wages" (Seite 19). Das ist falsch und wieder die alte neoklassische Sichtweise, nach der flexible Löhne jeden Einbruch der Beschäftigung abfedern können. Diese Sichtweise hat der IWF, wie wir in einem anderen Fall gezeigt haben (vollständig nur im Abonnement), zwar schon selbst infrage gestellt, doch ist das in Washington anscheinend noch nicht angekommen.
Würde man stattdessen den Ländern helfen kontrolliert abzuwerten, um ihren Export zu beleben und (unnötige) Importe zurückzudrängen, hätte die neue Regierung eine Chance, mittelfristig die Wirtschaft zu beleben und das Land zu stabilisieren. Bis die Abwertung greift, sollte man dem Land Überbrückungskredite geben, die nicht mit neoliberalen Auflagen verbunden sind. Die Währung muss auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert werden, auch hier braucht man Hilfe des Westens (der jederzeit durch Ankauf der ukrainischen Währung mit eigener Währung eine Aufwertung seiner Währungen gegenüber der Hrywnia verhindern kann), damit nicht erneut Spekulationswellen über das Land hereinbrechen. Darüber hinaus muss auch hier eine Lohnpolitik installiert werden, die bei der Stabilisierung der Preissteigerungsraten hilft und die den Menschen eine Perspektive zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gibt.
Wenn man aber unter Führung der westlichen Geldgeber das Land mit neoliberalen Reformen überzieht, werden sich auch die Verhältnisse zu Russland sehr schwierig gestalten, da Russland - zu Recht oder zu Unrecht ist eine andere Frage - darauf beharren wird, dass die Ukraine wegen der gemeinsamen Geschichte und der sich (besonders auf der Krim) überschneidenden Bevölkerungsanteile nicht vollkommen losgelöst von Russland betrachtet werden kann.
Aber all das und die Schuld des Westens (der Finanzmärkte) beim Entstehen der unhaltbaren Situation werden wieder praktisch nirgends diskutiert. Jeder westliche Politiker kommt sich jetzt wichtig vor und wedelt mit Milliardensummen, ohne zu sagen, dass er bereit wäre, für die systemischen Reformen der Weltwirtschaft (eine globale Währungsordnung) in die Bresche zu springen, die für die Ukraine noch mehr als für die anderen osteuropäischen Länder lebensnotwendig ist.
Der Text von Heiner Flassbeck wurde mit freundlicher Genehmigung der Website flassbeck-economics entnommen, auf der kritische Analysen und Kommentare zu Wirtschaft und Politik zu finden sind.