"Died suddenly": Legendenbildung von Corona-Impfgegnern und reale Übersterblichkeit

Einige haben längst eine Glaubensfrage daraus gemacht, was gefährlicher ist. Symbolbild: pearson0612 auf Pixabay (Public Domain)

"Plötzlich verstorben": Eine Pseudo-Dokumentation aus den USA kommt zur Unzeit: In Deutschland wird gerade über einen deutlichen Anstieg der Sterbefallzahlen gerätselt. Die Krebshilfe warnte im Frühjahr 2021 vor den Folgen von OP-Verschiebungen.

Wenn Regierende, Behörden, Wissenschaft und etablierte Medien keine Erklärung für eine beunruhigende Entwicklung liefern, entsteht logischerweise ein "Markt" für alles, was unter dem Sammelbegriff "Verschwörungstheorien" belächelt oder bekämpft wird – egal, ob es vollkommen abwegig ist oder ob es dafür reale Anhaltspunkte gibt, denen dringend nachgegangen werden sollte.

Beunruhigte Menschen, die nicht mit ihrem täglichen Existenzkampf oder durch "Brot und Spiele" ausgelastet sind, machen sich selbst auf die Suche nach Erklärungen, die nicht oder nur mit einer als quälend empfundenen zeitlichen Verzögerung aus anerkannt seriösen Quellen geliefert werden.

So wird natürlich auch über die Gründe der Übersterblichkeit in Deutschland im Oktober spekuliert – eine Todesursachenstatistik liegt noch nicht vor; und überzeugte Impfgegner nutzen die Gelegenheit für ein beherztes "Ich hab‘s euch ja gesagt".

Nun ist es völlig normal, dass noch keine Todesursachenstatistik für den Monat Oktober des laufenden Jahres vorliegt – es wäre auch kein Anlass für aufgeregte Spekulationen, die über die klassische Impfgegner-Szene hinausgehen, wenn nicht bekannt wäre, dass die Sterbefallzahlen um rund 19 Prozent über dem mittleren Wert der Vorjahre lagen, wie das Statistische Bundesamt Mitte November mitteilte.

In den ersten zwölf Monaten der Corona-Pandemie von März 2020 bis Februar 2021 hatten die Übersterblichkeit "nur" um 7,5 Prozent über dem Wert des Jahres davor gelegen. Dies war auch noch nahezu ausschließlich mit Todesfällen im Zusammenhang mit dem Virus erklärbar. "Momentan ist es viel schwieriger", sagte Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), vor wenigen Tagen der ARD-tagesschau.

So kommt auch die Pseudo-Dokumentation "Died suddenly" aus den USA, in der alle möglichen Todesfälle der Corona-Impfung zugeschrieben werden, zur Unzeit. Schon kurz nach dem Erscheinen hat der 70-minütige Film von Matthew Skow und Nicholas Stumphauzer im Netz mehr als zwölf Millionen Menschen erreicht.

Nicht alle "Impftoten" aus dem Film sind wirklich gestorben

Manche der hier präsentierten "Impftoten" sind allerdings gar nicht tot – sondern, wie der vor knapp zwei Jahren kollabierte Basketballer Keyontae Johnson – mittlerweile wieder fit; und als einzig logische Erklärung für Thrombosen von tatsächlich Verstorbenen wird die Impfung präsentiert, obwohl bekannt ist, dass sie auch ganz anders entstehen können.

Sowohl Sportverletzungen als auch Bewegungsmangel, Rauchen, hormonelle Verhütung oder das Zusammenspiel mehrerer Faktoren können sie auslösen – und nicht zuletzt eine Corona-Erkrankung. Berichtet wurde hier auch von besonders dichten und stabilen Gerinnseln, die in "Died suddenly" allerdings mit Impfstoff in Verbindung gebracht werden.

Im Zusammenhang mit der Impfung gelten "lebensbedrohliche thrombotische Ereignisse" laut Wissenschaftlern der Uniklinik Tübingen als "sehr seltene, aber schwerwiegende Nebenwirkung". Sie kommen demnach vor, aber nicht in einem Ausmaß, das die Impfung für Durchschnittsmenschen gefährlicher machen würde als eine Infektion.

Im besagten "Dokumentarfilm" fehlen allerdings auch Belege dafür, dass die Impfung in den hier gezeigten Fällen die Ursache war. Suggeriert wird stattdessen, dass nur diese Ursache in Frage käme.

Auch vermeintlich aus Ontario in Kanada stammende Daten über eine Zunahme von Totgeburten, die eine Stimme aus dem Off präsentiert, sind offensichtlich falsch oder falsch zugeordnet, wie eine Reproduktionsimmunologin gegenüber der britischen Rundfunkanstalt BBC klarstellte. Die echten Daten über den fraglichen Zeitraum aus Ontario zeigen keinen auffälligen Anstieg.

Garniert werden all diese Fake-News in "Died suddenly" in schneller Bildfolge mit Anspielungen auf historische Ereignisse, um die sich abenteuerliche Theorien ranken – wie etwa die Mondlandung und die Anschläge von New York am 11. September 2001. Besonders spektakulär und geschmacklos: Ein Ausschnitt aus einem Enthauptungsvideo der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) kommt quasi "wie der Kasper aus der Kiste". Subtext: Seht her, das Böse ist in der Welt; und manchmal kommt es auch aus der Spritze.

Sämtliche Behauptungen des Films werden zudem als Ergebnis einer großen Verschwörung zur Bevölkerungsreduktion dargestellt, in der Bill Gates eine maßgebliche Rolle spielen soll, da er auf den Zusammenhang von Familienplanung und Impfkampagnen zur Senkung der Kindersterblichkeit hingewiesen hatte.

Auswirkungen von OP-Verschiebungen bisher unklar

Wahrscheinlicher als die große Impf-Verschwörung ist, dass die Übersterblichkeit zumindest teilweise mit anderen Corona-Maßnahmen und der damaligen Prioritätensetzung zu tun hat. Genauer: damit, dass andere lebensbedrohliche Erkrankungen zeitweise weniger ernst genommen wurden – sowohl von Politik und Behörden als auch von manchen Betroffenen, die sich aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus wegen anderer Beschwerden nicht zum Arzt trauten.

In wie vielen Fällen die Verschiebung von "planbaren Operationen" zur Freihaltung von Krankenhauskapazitäten für Corona-Infizierte zum Beispiel die Heilungschancen bei Krebspatienten verschlechterte – und in welchem Umfang dies möglicherweise zu vorzeitigen Todesfällen geführt hat – ist bisher unklar.

Organisationen wie die Deutsche Stiftung Patientenschutz und die Deutsche Krebshilfe wollen sich nicht an Spekulationen über die Gründe der Übersterblichkeit beteiligen – beziehungsweise "keine Angaben machen, da uns hierzu zum jetzigen Zeitpunkt keine Daten / Informationen vorliegen", wie die Deutsche Krebshilfe am Mittwoch gegenüber Telepolis mitteilte.

Hintergrund der Anfrage war, dass die Krebshilfe im Frühjahr 2021 vor der Verschiebung von Krebsbehandlungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise gewarnt hatte:

Wir werden zukünftig mit vielen Patienten konfrontiert werden, deren Krebserkrankung zu spät entdeckt wurde und deren Heilungschancen dadurch verringert sind. Das bedeutet: Die Krebssterblichkeit wird nach oben schnellen.


Aus einer Pressemitteilung der Stiftung Deutsche Krebshilfe im April 2021

Ist nun genau das eingetreten, wovor die Organisation damals warnte? Bereits im Juli dieses Jahres hatte das Statistische Bundesamt eine Übersterblichkeit von zwölf Prozent festgestellt, konnte sie aber zu wesentlichen Teilen mit den Hitzewellen erklären.

Dieser Erklärungsansatz war auf Oktober nicht mehr übertragbar – und weder das Coronavirus als solches noch die generelle Alterung der Bevölkerung konnten den weiteren Anstieg der Sterbefallzahlen in Gänze erklären.

An einer ehrlichen Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen sowie der Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem in den Jahren vor der Pandemie führt jedenfalls kein Weg vorbei, wenn keine Legendenbildung im Sinne der Impfgegner, ihrer Geschäftsmodelle und "Bewegungsunternehmer" gewünscht ist.