Digitale Bildung - eine Lüge?
Ingo Leipner über frühkindlichen Medienkonsum, digitalfreie Oasen, e-learning und MOOCs
Die überfällige Digitalisierung aller Unterrichtsräume - von den Hörsälen hinab über die Klassenzimmer bis zu den KiTa-Räumen - ist zur Zeit in aller Munde. Deutschland, so ist zu lesen, sei im internationalen Vergleich abgehängt, was die Früherziehung im Umgang mit digitalen Medien angehe. Programme, die jedem Schüler ein Tablet und jedem Klassenraum ein Smartboard verschaffen wollen, sind die Lieblingskinder der Politik. Und sogar die Geo, sonst durchaus für kritische Berichterstattung zu haben, veröffentlichte vor wenigen Monaten einen Jubelartikel über die Segnungen des individualisierten, professionalisierten Unterrichts im digitalen Klassenraum.
Gerald Lembke, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Medienmanagement und Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, und der Wirtschaftsjournalist Ingo Leipner halten dagegen. In ihrem Buch "Die Lüge der Digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen" erörtern sie die Gefahren, die frühkindlicher Medienkonsum, e-learning und MOOCs mit sich bringen: fehlender Wirklichkeitsbezug, crossmediales Marketing, extrinsische statt intrinsischer Motivation, technologie- statt pädagogik-getriebene Digitalisierung, um nur einige Schlagworte zu nennen. Ihre Kernthese: "Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter." Ist die Digitalisierung der Klassenräume tatsächlich eine große Kulturkatastrophe? Für Telepolis führte Konrad Lehmann ein Interview mit Ingo Leipner.
Der Mannheimer Morgen hat im Internet einen Schwerpunkt zum Digitalen Lernen und stellt darin Schulprojekte vor, die durchaus sinnvoll klingen: Grundschulkinder, die am Tablet ihr Wissen über Wikinger zusammenstellen und dabei durch einfaches Photographieren durchaus auch analoge Beiträge einbinden können, Gymnasiasten im Sportleistungskurs, die ihre FlikFlaks filmen und in Zeitlupe analysieren können. Soll das alles verboten werden?
Ingo Leipner: Wie wollen Sie etwas verbieten, was in unserer digitalisierten Welt allgegenwärtig ist? Mit Verboten kommen Sie überhaupt nicht weiter. Wir fordern aber digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen, weil an diesen Lernorten in einem gesellschaftlichen Diskurs die Bildungsinhalte festgelegt werden sollten.
Weiterführende Schulen wie Gymnasien haben sogar die Pflicht auf das digitale Zeitalter vorzubereiten. Da geht es aber um Kulturtechniken wie Konzentrationsfähigkeit; kritisches, selbstreflexives Denken und produktive Fähigkeiten wie gutes Schreiben, Fotografieren und Filmen. Das sollten Schüler lernen, weil sie dann auch gut mit Wikis oder Videos umgehen können. Auf Inhalte kommt es an, egal ob sie analog in einem Buch auftauchen - oder digital in einem YouTube-Video.
Dazu lautet die gängige These: Je früher die Kinder mit dieser Technik umgehen, desto besser werden sie damit später arbeiten können. Also lasst uns auch die Kindergärten digitalisieren, was "Microsoft" aus reiner Nächstenliebe bereits macht: Der Konzern "verschenkte" an rund 8.000 Kindergärten seine Lernprogramm "Schlaumäuse".
Was ist daran verkehrt?
Ingo Leipner: Wir behaupten in unserem Buch das glatte Gegenteil: "Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter." Die Entwicklungspsychologie sagt, dass Kinder ungefähr ab dem 12. bis 14. Lebensjahr beginnen, abstrakt zu denken und erste Möglichkeiten der Selbstreflexion entwickeln. In diesem Alter wird es langsam sinnvoll, Medienkompetenz aufzubauen, die über eine reine "Wischkompetenz" hinausgeht.
Am selben Ort widerspricht Ihnen der Giessener Erziehungswissenschaftler Norbert Neuß: Kinder seien durchaus "in der Lage, Bilder und Filmbotschaften zu entschlüsseln". Auch ein gut gemachter Fernsehbeitrag erweitere ihr Weltverständnis. Sehen Sie das anders?
Ingo Leipner: Ja, das sehen wir völlig anders. Zunächst müssen wir differenzieren, welchen Abschnitt der Kindheit und Jugend wir betrachten. Natürlich ist ein 12-jähriger eher als ein 6-jähriger in der Lage, Filmbotschaften zu entschlüsseln. Doch darum geht's nicht. Unsere Forderung nach digitalfreien Oasen bezieht sich auf Kindergärten und Grundschulen, wobei noch jüngere Kinder am besten ohne digitale Medien aufwachsen.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Ingo Leipner: Wir orientieren uns im Buch am Vier-Stufen-Modell der kognitiven Entwicklung, das der berühmte Entwicklungsbiologe Jean Piaget entwickelt hat. Bemerkenswert ist, dass in der vierten "formal-operatorischen Phase" (ab etwa 12 Jahren) Kinder zum ersten Mal in der Lage sind, wirkliche Denkoperationen durchzuführen - und ihre Urteile eher auf Logik als auf Wahrnehmung aufbauen.
Das scheint für uns die Voraussetzung zu sein, um wirklich gut mit Computern zu arbeiten. Dieser These stimmt auch die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt zu. Sie fordert aber, dass bis zu diesem Entwicklungsschritt Kinder ihren "kognitiven Rucksack" gut füllen - mit reichen Erfahrungen aus der realen Umwelt.
Die Forderung der Neurobiologin bedeutet: Zwischen ihrer Geburt und etwa dem 12. Lebensjahr sollten Kinder viel in der realen Welt unterwegs sein: Sport und Musik machen, toben, klettern, balancieren - und nicht in Bildschirme starren. Kinder brauchen diese starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen.
Bildschirme verdrängen Welterfahrung
Warum ist diese Verwurzelung so wichtig, wenn heute digitale Medien auch ein Teil der Realität sind?
Ingo Leipner: Durch ihre senso-motorischen Erfahrungen bauen Kinder absolut notwendige Denkstrukturen auf. Diese Strukturen im Gehirn brauchen sie als Jugendliche später, um als kritische und selbstbewusste Bürger im Internet unterwegs zu sein. Das klappt aber nur, wenn Bildschirme nicht zu früh die Lebenszeit fressen, in der Kinder die Welt begreifen lernen. Das Wort "begreifen" hängt nicht zufällig mit dem Verb "greifen" zusammen. Eine Frage der Entwicklungspsychologie: Jugendliche entfalten ihr volles kognitives Potenzial, wenn die Reifung des Gehirns in den ersten Lebensjahren nicht gravierend gestört wird, etwa durch Tablets im Kindergarten.
Da helfen auch keine "gutgemachten Fernsehbeiträge", weil sie besonders Kleinkindern nur einen verengten, eindimensionalen Pseudo-Zugang zur Welt bieten - ohne jede Lebenswirklichkeit. Die "Teletubbies" werden als kindgerechte Sendungen gefeiert, halten aber kleine Zuschauer davon ab, die Welt selbst zu entdecken. Oder haben Sie schon einmal in der Hasenlandschaft der "Teletubbies" Urlaub gemacht?
Schließt sich das aus? Reale Welterfahrung und virtuelle Reisen am Computer?
Ingo Leipner: Ja, das schließt sich inzwischen aus! Bei den heutigen Nutzungszeiten digitaler Medien ist es eine Illusion zu glauben, Bildschirme würde keine Welterfahrung verdrängen. Das Gegenteil ist der Fall: Laut KIM-Studie 2014 kommen Acht-bis Neunjährige bereits auf eine tägliche Bildschirmzeit von rund 2,5 Stunden; bei Zehn-bis Elfjährigen sind es schon rund 3,5 Stunden. Dabei liegt das Fernsehen an der Spitze - und wir sprechen noch gar nicht von den Intensiv-Nutzern, die in höheren Altersgruppen bis zu zehn Stunden am Tag vor dem Bildschirm verharren.
So geht für alle Kinder und Jugendliche wertvolle Zeit verloren. Bei Jugendlichen ab etwa 12 Jahren werden die Folgen nicht so dramatisch sein. Aber jüngere Kindern gehen wichtige Freiräume verloren, in denen sie eigentlich ihrer Denkfähigkeit entwickeln müssten, und zwar durch handfeste Erfahrungen in der realen Welt. Natürlich kommen sie später in Kontakt mit digitalen Medien. Es liegt dabei in der Verantwortung der Eltern, wie sie das dosieren. Paula Bleckmann zeigt in ihrem lesenswerten Buch "Medienmündig", wie Familien viel Freiheit und Lebensfreude gewinnen - ohne Bildschirm-Medien.
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