Diskrepanz zwischen Wähler- und Funktionärswillen

Grafik: TP

Die SPD hat ein Personalproblem, das nicht nur die Spitze der Partei betrifft - ein Kommentar

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

1983 erklärte mir ein SPD-Kommunalpolitiker, der diplomierter Ingenieur am Fernmeldeamt war, warum für die anstehende Fernsehverkabelung Kupfer- und keine Glasfaserkabel verwendet werden - und warum das mit der Personalie des damaligen Postministers zusammenhängen könnte. Damals lag die SPD bei fast 50 Prozent - heute kommt sie in der aktuellen INSA-Umfrage nach nur mehr auf einen Bruchteil davon, auf 17,5 Prozent.

Die Zeit-Autorin Mariam Lau vermutet, dass das auch mit den Schwerpunkten zu tun hat, die die Sozialdemokraten in den aktuellen Koalitionsverhandlungen setzen: "Irre, dass die SPD ihre Zukunft an den Familiennachzug für Flüchtlinge knüpft - mal im sozialdemokratischen Herzland nachgefragt: in Duisburg, Essen oder Dortmund?" Dort (und anderswo in Deutschland) nachgefragt haben die Meinungsforscher - und mit den Erkenntnissen daraus kam nicht nur die Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher zur Einschätzung, dass "die Politik die Stimmungslage hier teilweise nach wie vor falsch einschätzt".

Transferunionsfortschritte

Was das für den SPD-Verhandlungs"erfolg" vom Dienstag bedeutet, fasste Ansgar Graw in der Welt wie folgt zusammen: "Mehr Nachzug - bei gleichzeitigem Abzug von Wählern". Seiner Einschätzung nach hatten die Sozialdemokraten bei den Verhandlungen auch gar nicht ihre "(seit 1998 von 40,9 Prozent auf 20,5 Prozent halbierte) Wählerschaft im Blick […], sondern ihre (auf stabilem Niveau) politisierenden Funktionäre", die das auf dem Bonner Parteitag forderten.

Eine andere zentrale SPD-Forderung in den Sondierungs- und Koalitionsgesprächen scheint vor allem eine Herzensangelegenheit des lange Zeit in Brüssel tätigen SPD-Vorsitzenden Martin Schulz zu sein, der in diesem Zusammenhang immer wieder auf Telefonanrufe des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron verweist. Ob auch die SPD-Wähler "vor allem" den Wunsch haben, dass mehr Geld nach Brüssel überwiesen wird", wie Norbert Bolz es formuliert, ist anhand der Meinungsumfragen ähnlich zweifelhaft wie deren Wunsch nach mehr Familiennachzug.

Anders könnte es in Frankreich aussehen, das (ebenso wie Griechenland, Italien, Zypern, Portugal, Lettland und Slowenien) zu den EU-Ländern mit abnehmender Kreditfähigkeit zählt. Die von der SPD durchgesetzten Transferunionsfortschritte dürften deshalb vor allem Politikern, Investoren und vielleicht auch Einwohnern dieser Länder nutzen, während sie deutschen Arbeitnehmern vor allem weitere Risiken aufbürden.

Auch die von den Sozialdemokraten als Trost für die nicht durchgesetzte Bürgerversicherung angepriesene verlustlose Angleichung der Ärztehonorare für Kassen- und Privatpatienten wird die deutschen Arbeitnehmer sowohl den Schätzungen der gesetzlichen als auch der privaten Krankenversicherungen nach Geld kosten: Der GKV-Spitzenverbandsvize Johann-Magnus von Stackelberg rechnet mit mindestens sechs Milliarden Euro mehr und einer Steigerung der Beiträge auf etwa 16 Prozent des Bruttolohns. Dabei sind einer aktuellen Forsa-Umfrage nach 85 Prozent der Deutschen mit ihrer medizinischen Versorgung zufrieden oder sogar sehr zufrieden.

Soziologen, Politologen, Pädagogen und Bürokraten

SPD-Politiker wie den oben geschilderten Fernmeldeingenieur muss man heute mit der Lupe suchen. Die beruflich geerdeten technischen Aufsteiger aus der Arbeiterschicht, die Boris Reitschuster die "Buchbinder-SPD" nennt, sind einem Personal gewichen, in dem sich häufig nicht die Fähigsten durchsetzten, sondern die Leute, die am meisten Zeit hatten. Und während Frauenquoten die Diversität fördern sollten, wurde die SPD tatsächlich immer homogener, immer mehr zu einer Partei der Soziologen, Politologen, Pädagogen und Bürokraten.

Auch wenn sie es selbst nicht von sich glauben, bestimmt auch bei ihnen das Sein das Bewusstsein. Und dieses Sein ist zunehmend geprägt von einer materiell sorglosen Kindheit und Jugend, die nicht nur postmaterielle, sondern auch postrationale Vorstellungen hervorbringt. Die politischen Moden dieses Milieus sind oft und unbewusst auch Distinktionsinstrumente, die den Gegensatz zwischen der Wählerschaft und der Funktionärselite noch verstärken.

Ein Ausspruch wie der Ferdinand Lassalles, dass "alle große politische Aktion in dem Aussprechen dessen, was ist, besteht und beginnt" und dass "alle politische Kleingeisterei in dem Verschweigen und Bemänteln dessen besteht, was ist", muss heutigen SPD-Politikern wie Heiko Maas auch wegen dieses Gegensatzelefantens im Raum sehr fremd vorkommen. So fremd, wie ihnen der Wähler ist, dessen Äußerungen sie so fürchten, dass sie sie zensiert sehen wollen.