Diskussion über die Pandemiemaßnahmen und ihre Kritiker

Seite 3: Angemessen oder verhältnismäßig?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es wird immer wieder betont, dass die Pandemiemaßnahmen "geeignet, erforderlich und angemessen" sein sollten. Die Beschwörung dieser Formel müsste als Erstes mit einigen Fragen beantwortet werden. Geeignet und erforderlich wozu?

Woran misst sich die Angemessenheit oder wann ist eine Maßnahme verhältnismäßig? Wenn es um die Eignung von Maßnahmen geht, so ist oben schon darauf verwiesen worden, dass die Erfolgskriterien für deren Einsatz unterschiedlich ausfallen können. Geeignet, um die Pandemie zu bekämpfen? Oder geeignet, den Schaden für die Bevölkerung wie für die Wirtschaft in Grenzen zu halten? Und warum sind sie erforderlich? Muss es möglichst wenige Infektionen geben, weil die Bevölkerung vor Schaden bewahrt werden soll, oder deswegen, weil die Bevölkerung für das Funktionieren von Staat und Wirtschaft als Arbeits- und Kaufkraft gebraucht wird? Den jeweiligen Fragestellungen entsprechend fallen die Urteile über die Maßnahmen unterschiedlich aus. Gleiches gilt für die Frage der Angemessenheit.

Wenn die Verhältnismäßigkeit zur Sprache gebracht wird und Zweifel daran angebracht werden sollen, wäre als Erstes die Frage zu stellen, was wie ins Verhältnis gesetzt wird. Wer anführt, dass das Schließen von Theatern unverhältnismäßig ist, während Friseusen oder Physiotherapeuten, die doch wesentlich näher am Kunden sind als Schauspieler vor ihren Zuschauern, weiter arbeiten dürfen, der geht von den Gründen der Maßnahmen weg, die sich im Einzelnen eben nicht einfach durch die Infektiosität der Tätigkeit begründen. Auch wenn diese Begründung durch die Politik immer wieder angeführt wird, spielen für die Schließung oder Öffnung einzelner Bereiche des öffentlichen Lebens andere Kriterien eine Rolle. Ausgangspunkt der politischen Entscheidung ist die Frage, wie sich die Schließung eines Bereichs auf das Funktionieren der gesamten Gesellschaft auswirkt.

Und da können Politiker auch mal daneben liegen, was sie dann, je nachdem, selber zu Protokoll geben. Waren anfangs die Schulen als ein Ort ausgemacht, den man ruhig schließen kann, so hat die Politik "dazugelernt" und will jetzt nicht eine ganze Generation "verloren" geben. Man hat eben festgestellt, dass durch die Schließung der Schulen in der Gesellschaft einiges durcheinander gerät. Schließlich müssen die Kinder tagsüber betreut werden, da die Eltern als Arbeitskräfte gebraucht werden, was eben mit einem funktionierenden Familienleben nur schwer zu vereinbaren ist. Und wenn Kommentatoren fragen, warum die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts nicht berücksichtigt werden, das empfiehlt, bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner die Klassen zu teilen, dann erhalten sie die kurze Mitteilung, dass es eben auch noch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen gelte.

Der Nutzen des Alarmismus

Alarmismus ist ein Titel, der in der Debatte immer wieder bemüht wird. Dabei wird auch dieser Begriff sehr unterschiedlich eingesetzt. Er dient etwa als Hinweis darauf, dass es doch noch ganz andere Menschheitsprobleme gäbe und dass durch das ständige Gerede über Corona globale Probleme wie Erderwärmung, Krieg, Migration und Armut in den Hintergrund gedrängt würden.

Wenn sich die Hinweisgeber die Mühe machen würden zu untersuchen, warum es diese "Menschheitsprobleme" gibt, würden sie allerdings schnell auf die gleichen Akteure stoßen, die jetzt die Pandemie - national wie global - managen und mit ihren Kalkulationen den Bürgern oder der Umwelt die einschlägigen Probleme bereiten.

Der Vorwurf des Alarmismus wird aber auch benutzt, um die Folgen der Pandemie auf die hiesige Gesellschaft herunterzuspielen. AfD-Hilse im Bundestag (BT-Protokoll, 188. Sitzung, S. 23701f): "Ein Virus und die von ihm ausgelöste Krankheit, von der selbst die WHO mittlerweile sagt, sie sei mit einer mittelschweren Grippe vergleichbar, wird zur Panikverbreitung benutzt, um in ihrem Schatten all die Dinge umzusetzen, die Sie sich schon lange auf die Fahne geschrieben haben, unter anderem das Auslöschen der Nationalstaaten in Europa." Beschwerden kommen aber auch aus der "Mitte der Gesellschaft". Dann heißt es, dass wegen der Alarmmeldungen größere Einschränkungen erfolgten als unbedingt notwendig, und die Sorge wird laut, ob so nicht die Glaubwürdigkeit beim Bürger untergraben wird, auf dessen Folgsamkeit es in der Pandemie doch gerade ankommt? Das können dann wieder alle seriösen Politiker teilen.

"Querdenker" werfen der Politik nun vor, sie übertreibe zielstrebig die Auswirkungen der Pandemie, um den Bürgern Angst zu machen und sie so zu folgsamen Untertanen zu formen. Damit treffen sie durchaus einen Punkt, denn die Politik setzt ihre Informationen berechnend ein und greift, wenn sie es für notwendig erachtet, auch zu drastischen Darstellungen wie der drohenden Triage. Das ist im Pandemieplan 2013 (Bundestagsdrucksache 17/12051), der seinerzeit dem Parlament vorgelegt wurde, auch ausdrücklich als ein Mittel festgehalten. All das geschieht, um die Bevölkerung auf die Maßnahmen als alternativlose Entscheidungen zu verpflichten.

Und trotzdem haben die Corona-Skeptiker und Rebellen damit unrecht: Dies ist keine Besonderheit des gegenwärtigen Zustands. Die Politik stellt ihre Maßnahmen nämlich immer im Licht höherer Notwendigkeiten dar, um sich der Zustimmung der Bürger und ihres Mitmachens zu versichern. Insofern muss sie ihr Volk nicht erst zu folgsamen Untertanen formieren. Vielmehr ruft sie jetzt, wo sie es auf die in der Pandemie als notwendig erachteten Maßnahmen einstellt, das ab, was auch im Normalzustand gilt.

Fazit

Es ist nicht schwer, Ungereimtheiten bei den Pandemiemaßnahmen und ihren Begründungen zu entdecken, versucht die Politik doch immer ihre Maßnahmen im Interesse aller und wissenschaftlich gut begründet darzustellen. Sie setzt darauf, dass ihre Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung als Basis von Staat und Wirtschaft als Interesse aller akzeptiert werden, weil alle darauf angewiesen sind, vor dem Virus geschützt zu werden und weil sie in der Mehrheit vom Wachstum der Wirtschaft abhängig sind. Dabei erscheinen die momentanen Maßnahmen manchem als irrsinnig, schränkt der Staat doch ausgerechnet die Wirtschaft ein, auf die es in dieser Gesellschaft vor allem ankommt.

Weil in der Pandemiebekämpfung sowohl die Interessen der Wirtschaft als auch der Schutz der Bevölkerung zum Tragen kommen soll, diese Interessen aber nicht zusammengehen, erscheinen viele Maßnahmen als inkonsequent und damit auch die Berufung auf die Wissenschaft als wenig glaubwürdig.

Den Politikern Inkonsequenz vorzuwerfen, unterstellt, dass die Maßnahmen richtig gewählt, die Interessensidentität von Wohl der Wirtschaft und der Bevölkerung sichern könnte, hält somit an dem guten Glauben am Dienst der Politiker für Bevölkerung und Wirtschaft fest. Obgleich in der Pandemie immer wieder offenkundig wird, dass der Schutz der Bevölkerung zu Einschränkungen der Wirtschaft führt oder die Sicherung der Fortgangs der Wirtschaft Opfer kostet, ist dieser Glaube nur schwer zu erschüttern.

Das Nachrechnen bei der Berufung auf die Wissenschaft durch die Politik, verdankt sich dem Glauben, dass diese sich wirklich von der Wissenschaft und nicht von Interessen leiten würde. Dabei gibt es zahllose Äußerungen von Politikern, die darauf verweisen, dass sie nicht einfach nur diejenigen sind, die die wissenschaftlichen Ergebnisse umsetzen, sondern andere Notwendigkeiten kennen.

Der Nachweis der mangelnden Wissenschaftlichkeit ist zunächst lediglich ein Hinweis, dass dort jemand ein Fehler gemacht hat. Es gibt aber auch das Bemühen zu zeigen, dass es kein zufälliger Fehler ist, der dort gemacht wurde, sondern diese sich Interessen verdanken, die da zum Zuge kommen. Wenn diese Interessen nicht benannt werden, dann eröffnen solche Beweisführungen geradezu das Tor für Spekulationen um die Hintergründe, die einem solchen politischen Handeln zu Grunde liegen.