Dorfdisco "Unter den Linden"
Auch Berlin leidet unter der Eventisierung der Stadt
Eine der grundlegenden Erfahrungen, die man als Berlin-Bewohner macht, ist die Unmöglichkeit, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Das geht Menschen in München und Castrop-Rauxel zwar ähnlich, doch haben sie weitaus seltener darunter zu leiden. Schließlich ist in diesen Städten nicht halb so viel los wie in Berlin. Manche Berliner entkommen dem Dilemma, indem sie zu Stubenhockern mutieren, sprich: einfach nicht mehr ausgehen.
Das können Berlin-Touristen natürlich nicht verstehen. Für sie ist Berlin ein Erlebnis, oder, um es im Jargon der Hauptstadt-Vermarkter zu sagen: für sie ist Berlin ein Event. Na gut, die Love Parade fällt heuer aus, aber das macht ja nichts. Erstens gibt es am 10. Juli eine politisierte Ersatzveranstaltung. Zweitens findet in den Berliner Clubs vom 3. bis 12. Juli ersatzweise die "Love Week" statt. Und drittens ist das MoMa auf Besuch in der Stadt. Auch so ein Event der Extraklasse, das Besucher aus ganz Europa nach Berlin locken soll.
Kleiner Exkurs für Ahnungslose: die Love Parade fällt heuer aus, weil niemand die Kosten für die Müllentsorgung übernehmen wollte. In den Anfangsjahren galt der lautstarke Umzug der Raver als politische Veranstaltung, also räumte die Stadt hinterher auf – so, wie es das Gesetz bei Polit-Demos vorsieht. Tanzten 1989 gerade mal 150 Raver zum Motto "Friede, Freude, Eierkuchen", lockte das Technospektakel im Jahre 1999 rund 1,5 Millionen Raver an. Jedes Jahr wuchsen die Müllberge etwas höher, und der Streit ums Geld nahm kein Ende. 2001 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Love Parade eine rein kommerzielle Veranstaltung ist. Seither müssen die Veranstalter die Kosten tragen.
Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Teilnehmer auf 500.000. Weil die Macher für dieses Jahr nicht genügend Sponsoren finden konnten, findet in Berlin erstmals seit 1989 keine Love Parade statt. In die Bresche sprang der Medienkaufmann Kay Neumann. Er will den 10. Juli nutzen, um auf die schwierige Lage von Musikern in Zeiten des modernen Urheberrechts hinzuweisen. Das Motto der Demo lautet "Mit Musik gegen den Ausverkauf der Musik", zentraler Slogan: "music is better with you". Der Clou an der Sache: weil diese Kundgebung als politische Demo anerkannt wurde, übernimmt die Stadt Berlin die Kosten für die Müllentsorgung.
Das Spektakel der Kulturpolitik
Doch zurück zum Zauberwort "Event", ohne das eine Stadt wie Berlin nicht mehr auskommt. Vor lauter Verzweiflung darüber, dass es mit der Love Parade heuer nichts wird, kürte die Berliner Lokalpresse den "Karneval der Kulturen" zum neuen Mega-Event. Zwar brachte die Multikulti-Parade rund eine Million Zuschauer auf die Beine, ob das jedoch Grund zur Freude gibt, ist eine andere Frage. Denn statt die Andersartigkeit der Kulturen zu akzeptieren, wird krampfhaft versucht, die pittoresken Anteile einzudeutschen und den komplizierten Rest auszublenden (Alle jubeln und sind unerbittlich fröhlich).
Passend zu diesem Phänomen fand am vergangenen Wochenende im Haus der Kulturen der Welt eine Tagung mit dem verschwurbelten Titel "Framing: Zur Umrahmung der Kulturen der Welt. Ethno Marketing und das Spektakel der Kulturpolitik" statt. Auf dem Programm stand unter anderem das Thema "Spektakel der Inszenierung: Die eventisierte Stadt". Klang vielversprechend, war aber nicht der Rede wert. Die Vorträge waren so unergiebig, dass selbst hartgesottene Kulturwissenschaftler auf die nachfolgende Podiumsdiskussion über "Stadtkulturpolitik im 'Neuen Berlin'" verzichteten; und zwar zugunsten eines weitaus verlockenderen Events, das nur wenige Busstationen entfernt am Potsdamer Platz live übertragen wurde: das EM-Spiel Italien gegen Schweden.
Am Folgetag sollte es um "Kulturelle Global Player: Zum Symbolischen Kapital der Kultur" gehen, doch statt Einsichten in die Verstrickung von Kapital und Kultur gab es nur Phrasen, in denen die Begriffe "Kultur", "Stadt", "Ökonomie" und "Paranoia" einigermaßen wahllos herumgeisterten. Beim Abendvortrag über "Ethno-Marketing vs. Vermittlung von 'Ethnics'" blieben die Veranstalter vollends unter sich, denn drüben am Potsdamer Platz wurde das Spiel Deutschland gegen Lettland gezeigt. Dort kam es aufgrund des Massenandrangs zu herzerweichenden Szenen: kleine Jungs, die von den Ordnern nicht mehr ins Sony-Center reingelassen wurden, standen ratlos an der Kinokasse vom CineStar – im ersten Stock des Kinocenters gibt es nämlich einen Außenbalkon mit 1A-Blick auf die Fußball-Leinwand. Doch leider durfte man nur mit Ticket nach oben – also zerbrachen sich die Jungs den Kopf darüber, ob sie einfach nur so zum Schein eine Eintrittskarte für Harry Potter 3 kaufen und verfallen lassen sollten, nur um das Deutschlandspiel zu sehen – oder ob sie die Karten kaufen und dann tatsächlich in den Film reingehen sollten. Sie litten sichtlich unter der Unmöglichkeit, an zwei Stellen zugleich sein zu können, und was hätten sie nicht für die Fähigkeit der Bilokation gegeben, die George und Fred Weasley schon so oft aus der Klemme geholfen hat.
Harry Potter höchstselbst hätte sich einfach auf seinen "Firebolt" geschwungen und wäre ins "Luftschloss" – ein Veranstaltungszelt auf dem Berliner Schlossplatz – gezischt, denn dort konnte man das Match in Leder-Fauteuils genießen, ganz ohne vorher ein Ticket zu lösen. Außerdem macht der Schlossplatz tausend Mal mehr her als der Potsdamer Platz. Fand jedenfalls das Multimedia-Unternehmen Bertelsmann, das sich gleich neben der Schlossbrücke eine prächtige Hütte gegönnt hat. Die stolze Adresse lautet: Unter den Linden 1.
Dorfdisco vom Feinsten
Von außen tut die wiederauferstandene Kommandantur, als wäre sie schon immer dagewesen. Doch die historisierende Fassade ist nichts als schöner Schein. Das wird unbedarften Besuchern spätestens dann klar, wenn sie in der Lobby eine Weile vor den Flachbildschirmen rumhängen, auf denen in regelmäßigen Abständen die Geschichte des Hauses vorüberflimmert: von der Baugrube über die Grundsteinlegung bis zur Montage der Adler oben auf dem Dach wird alles dokumentiert.
Rings um die Mattscheiben blinken rötlich kleine Kästchen, die mit zweierlei Anschlüssen ausgestattet sind – einklinken in die BMG-Matrix kann man sich hier jedoch nicht. Muss man auch nicht, denn bizarre Erlebnisse gibt es in der Hauptstadtrepräsentanz von Bertelsmann frei Haus. Am Samstag abend zum Beispiel versammelte sich das Netzwerk Berlin der SPD-nahen Friedrich Ebert Stiftung (FES) im Hause Bertelsmann. Tagsüber hatte man im Stammsitz der Stiftung an der Hiroshimastraße getagt, abends wurde am Boulevard Unter den Linden gefeiert.
Ebenfalls anwesend: Sigmar Gabriel, ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen. Nach seinem Amtsverlust Anfang 2003 wurde er "Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs der SPD". Auch diesen Posten ist er inzwischen los, macht aber nichts. Im Gegenteil: Um so unbefangener kann Herr Gabriel darüber berichten, wie das so ist mit der Verstrickung von Kultur und Kommerz. Doch leider, leider, leider hegt die einstige Hoffnung der SPD noch immer eine heftige Abneigung gegen das Amt des Popbeauftragten. Auf seinen ehemaligen Posten angesprochen, sagt er bloß: "Nö!" Und das war das. Erst mal jedenfalls. Später lässt er sich zu folgendem Statement hinreißen: "Okay, das war ich mal. Da wusste ich zwar nichts von, war aber trotzdem nett."
Mehr will er dazu nicht sagen. Lieber beschwert er sich über die lahme Musikauswahl – ein Potpourri aus It's Raining Men von den Weather Girls und (Ich will zurück nach) Westerland von den Ärzten. Das Problem an der Sache: die Auswahl stammt vom Vorsitzenden des Berliner Netzwerks persönlich. Der legt eine CD nach der anderen auf und kann gar nicht verstehen, warum nur eine Hand voll Leute tanzt. Wo die Netzwerker doch extra eine scheppernde Musikanlage angekarrt und eine Lichtanlage aufgebaut haben, die in der Ecke vor sich hinblinkt.
Der ehemalige Popbeauftragte im Sternenhimmel
Den Aufwand hätten sich die Herrschaften sparen können, denn selbstverständlich verfügt der Prachtbau über eine High-Tech-Ausstattung vom Feinsten. Andere Gäste des Hauses – wie etwa die FDP – haben diese schon erfolgreich benutzt. Die CDU dagegen hatte bislang keinen Bedarf an Musik, jedenfalls nicht, soweit sich die Dame des Hauses erinnern kann. Was wohl der ehemalige Popbeauftragte der SPD dazu zu sagen hätte? Keine Chance, ihn zu fragen, denn inzwischen hat er sich neben dem DJ aufgebaut um wie in alten Zeiten seine Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen. Prompt ertönt der Sternenhimmel von Hubert Kah. Und kurz danach das Bruttosozialprodukt von Geier Sturzflug. Die Tanzfläche füllt sich, denn welcher Genosse könnte sich dem Zauber dieser Worte entziehen: "Ja dann wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt, ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt"? Bloß raus hier.
Draußen warten schon ein paar kurzgeschorene Blondköpfe in ihrem Golf. Einer steckt den Kopf aus dem Auto und sagt: "Tschuldigung, is hier wat los?" Ein kurzer Blick aufs Nummernschild verrät, dass die Jungs von außerhalb kommen. Sie sind auf der Suche nach dem ultimativen Samstag-Abend-Erlebnis, pardon: Event. Doch leider lautet die Antwort: "Auch nicht mehr als bei euch aufm Dorf."