Downing Street sucht "Spinner und Außenseiter"
Entwicklungen und Brüche in der britischen Regierungspolitik
Sajid Javid, Andrew Sabisky und Dominic Cummings. Diese drei Männer im Umfeld des britischen Premierministers Boris Johnson haben in den letzten Tagen auf unterschiedliche Weise aufgezeigt, wohin sich die britische Regierungspolitik entwickelt und welche Bruchlinien es in ihr gibt. Auch eine Frau spielt mit: Innenministerin Priti Patel.
Sajid Javid war bis vor kurzem der britische Finanzminister. Das Finanzministerium spielt auf der Insel traditionell eine machtvolle Rolle. Es betreibt nicht nur die Haushaltspolitik, sondern setzt auch wichtige wirtschaftliche Weichenstellungen. Oft nimmt es die Rolle eines Gegenpols zum Büro des Premierministers in der Nr. 10 Downing Street ein. Bezeichnenderweise sind Premierminister und Finanzminister Nachbarn. Letzterer residiert in der Nr. 11. In der Vergangenheit gab es immer wieder denkwürdige Rivalitäten zwischen beiden Häusern, so zum Beispiel zwischen Premierminister Tony Blair und Finanzminister Gordon Brown.
Eine ähnliche Rivalität drohte zwischen Johnson und Javid zu entstehen. Johnson führte seinen Wahlkampf auch mit dem Versprechen, nach dem Brexit staatliche Investitionsgelder für die de-industrialisierten Regionen in Nordengland und Wales locker zu machen. Dies würde aber eine Abkehr von der haushaltspolitischen "schwarzen Null" und der damit verbundenen Austeritätspolitik bedeuten. Denn wer investieren will, muss auch Schulden machen, dafür war Sajid Javid nicht zu haben.
Hier kommt Dominic Cummings ins Spiel. Er ist der Chefberater des Premierministers und damit beauftragt, einen Apparat aufzubauen, der dessen Politikvorhaben umsetzen kann. Chefberater dieser Art sind in Großbritannien ein Trend, welcher unter Margaret Thatcher begann und mit Tony Blair zum Durchbruch gelangte. Blair setzte im Laufe seiner Amtszeit zunehmend auf eine Parallelstruktur zum Beamtenapparat im Londoner Regierungsviertel, um Maßnahmen durchsetzen zu können, welche von diesem abgelehnt wurden. Johnson probiert via Dominic Cummings ähnliches.
So forderte Cummings von Javid die Entlassung seiner Mitarbeiter und die Ersetzung derselben durch von Cummings handverlesenes Personal. Javid lehnte ab und reichte mit der Begründung, kein Minister mit Selbstrespekt könne dem zustimmen, seinen Rücktritt ein. Ersetzt wurde Javid durch Rishi Sunak. Er gilt als Gefolgsmann Johnsons, es ist wahrscheinlich, dass er die faktische Übernahme der Kontrolle über das Finanzministerium durch das Büro des Premierministers mittragen wird. Schon Anfang März soll er im Unterhaus den Budgetentwurf der Regierung vortragen. Dort wird sich zeigen, ob bereits eine Handschrift erkennbar ist.
Während der Konflikt zwischen Finanzministerium und Premierminister vorerst entschieden scheint, könnte in den kommenden Wochen ein neuer zwischen Cummings und Johnson aufbrechen. Denn Cummings hat in wichtigen Detailfragen andere Vorstellungen als sein Chef. So hat Johnson ein Faible für Großprojekte wie den Bau von "HS2", einer neuen Schnellbahn von London nach Nordengland. Auch eine "Boris-Brücke" zwischen Schottland und Nordirland will er errichten lassen. Beides wird von Cummings als "elitär" und nicht zielführend abgelehnt.
Cummings favorisiert zielgerichtete Infrastrukturmaßnahmen um die konservative Machtbasis in den 50 bei den letzten Parlamentswahlen von Labour gewonnenen Wahlkreisen zu zementieren. Wie dringend nötig solche lokalen Infrastrukturmaßnahmen sind, zeigt sich in den massiven Überflutungen welche große Teile Englands derzeit heimsuchen.
Auch von anderer Seite gibt es für die Regierung Ungemach. Im Januar lancierte Cummings über sein Blog eine Art Stellenanzeige in welcher er "Spinner und Außenseiter" (Weirdos and misfits with odd skills) aufrief, sich für Jobs in Nr. 10 Downing Street zu bewerben. 30.000 Bewerbungen sollen inzwischen eingegangen sein. Schnell hatte sich Uri Geller beworben: "Sie wollen jemanden, der sich an den 'Grenzen der Wissenschaft der Vorhersage' bewegt? Dann suchen Sie nicht weiter."
Repressalien gegen in Großbritannien lebende Minderheiten
Einer, nämlich Andrew Sabisky, hat seinen Job schon wieder verloren. Sabisky wurde eigentlich von Cummings angestellt, um Prognosen zu geopolitischen Fragestellungen zu entwerfen. Der britischen Öffentlichkeit wurde er aber aufgrund seiner rassistischen, frauenfeindlichen und pro-eugenischen Haltungen bekannt. In einem Gastbeitrag für den Blog von Dominic Cummings forderte Sabisky "Zwangsverhütung, um das Problem ungeplanter Schwangerschaften zu umgehen, welche eine permanente Unterschicht hervorrufen".
2016 sagte er in einem Interview für die Zeitschrift Schools Week: "Bei der Eugenik geht es darum, gute Dinge auszuwählen. Intelligenz ist großteils vererbt, korreliert mit besseren Ergebnissen: körperliche Gesundheit, Einkommen, weniger psychische Erkrankungen." Zusätzlich wird in britischen Zeitungen ein Onlinekommentar überliefert in welchem er behauptet, Menschen schwarzer Hautfarbe hätten einen Intelligenzquotienten von 75 oder niedriger und seien somit "nahe der typischen Grenze zur mentalen Zurückgebliebenheit".
Sabisky hat seinen Job inzwischen gekündigt. Seine Ansichten "korrelieren" jedoch mit wesentlichen Teilen des Regierungsprogramms. Die Johnson-Regierung plant weit reichende Repressalien gegen in Großbritannien lebende Minderheiten, so zum Beispiel ein Gesetz gegen Traveller, das "fahrende Volk". Der Begriff Traveller bezeichnet ein breites Spektrum von Sinti und Roma, über Personen aus dem irischen fahrenden Volk bis hin zu "neuen" Travellern, also Menschen, die von sich aus beschlossen haben, lieber im Wohnwagen als in festen Häusern zu leben.
Gegen sie alle bereitet Innenministerin Priti Patel einen Gesetzentwurf vor, dessen Zweck die Kriminalisierung des Lebensstils von "Travallers" ist. Geplant sind neue Befugnisse für die Polizei wie die Beschlagnahmung von "unautorisiert" parkenden Wohnwagen und die Verhaftung von deren Insassen.
Patel ist außerdem für den Entwurf des neuen Einwanderungsrechts für Großbritannien ab 2021 zuständig. Darin orientiert sie sich an dem Punktesystem Australiens. Nur wer die Beherrschung der britischen Sprache, Berufsqualifikation sowie ein Mindesteinkommen vorweisen kann, soll zukünftig die Chance auf ein Leben in Großbritannien haben (Britische Regierung will mit Punktesystem für Einwanderung nur noch die "Schlauesten und Besten"). Bei dieser Regierungspolitik sind "Ausrutscher" wie jene von Andrew Sabisky sicher kein Zufall. Sie bedingen einander.