"Dream Scenarios": Ein Traummann und verstümmelte Persönlichkeiten
Seite 2: Persönlichkeiten als Kulisse: Tragikomischer Sex, Desaster
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Eine der tragikomischsten Szenen des Films ist der Versuch, ein "Dream-Szenario" – eine sexuelle Fantasie – einer Produktionsassistentin einer Marketingfirma mit Professor Matthews zu realisieren.
Obwohl Matthews diesem "Szenario" angesichts der Attraktivität der Assistentin nicht abgeneigt ist, allerdings mit Zurückhaltung und Zweifeln, endet seine Realisierung in einem peinlichen Desaster.
Die Assistentin zeigt keinerlei Interesse an der Persönlichkeit des Professors; ihr Ziel ist lediglich die detailgetreue Umsetzung ihrer eigenen Fantasie. Die vorzeitige Ejakulation des Professors gepaart mit ungewollten Flatulenzen lässt kaum Raum für den Beginn eines "Szenarios".
Matthews, zutiefst beschämt, ergreift die Flucht und hinterlässt die Produktionsassistentin in großer Verlegenheit.
Was die Familie des Professors angeht, könnte man noch von einer Korruption seiner Persönlichkeit durch das Image sprechen, wie es durch die sozialen Medien in einem "Dream-Szenario" generiert wird.
Doch in dem erwähnten Sexszenario, das als eines der peinlichsten in die Filmgeschichte eingehen könnte, spielt die Persönlichkeit des Professors keine Rolle mehr. Hier wird er von der Produktionsassistentin lediglich benutzt, um ihre eigenen persönlichen (sexuellen) Interessen zu verfolgen.
Die Person des Professors ist nur als Kulisse im Rahmen ihrer eigenen Fantasie von Belang.
Die Persönlichkeit des Anderen spielt keine Rolle mehr
An dieser Szene lässt sich eine der Hauptthesen des Films ablesen: Die (exzessive) Nutzung sozialer Medien führt tendenziell dazu, den Fokus auf die Verwirklichung eigener, persönlicher Interessen zu lenken, während das Interesse an anderen Personen zumindest so weit abgeschwächt wird, als es nur ein mittelbares, den eigenen Interessen untergeordnetes ist.
Dies wird etwa an der Funktionalität von Dating-Apps deutlich. Hier stehen im ersten Schritt – dem Anlegen des Nutzerprofils – die eigenen Vorlieben und Interessen, die eigene Persönlichkeit, im Vordergrund. Erst unter dieser Prämisse kommt es dann zur Auswahl einer anderen Person.
Auf diese Weise werden zahlreiche "Dream-Szenarien" generiert, die tendenziell zu Enttäuschungen führen, insbesondere dann, wenn die tatsächliche andere Persönlichkeit bei einem Treffen face-to-face in den Vordergrund tritt.
Eigene Interessen bedienen
Die Bevorzugung des eigenen Egos ist jedoch generell kennzeichnend für die Nutzung sozialer Medien. Das Interesse an anderen Personen wird der primären Ausrichtung an eigenen informativen Interessen, Bedürfnissen und Vorlieben untergeordnet, wie sie Nutzern durch algorithmisch aufbereitete Nachrichtenströme sozialer Medien wie etwa Facebook, Instagram oder TikTok zur Verfügung gestellt werden ("Filterblase").
Ausgehend von eigenen, persönlichen Interessen werden hier, tautologisch wie in einem Traum, lediglich eigene Interessen bedient. Persönlichkeitsbildung erfolgt selbstbestimmt-persönlich und nur noch abgeschwächt – noch ist die Sphäre der Digitalität keine allumfassende – durch andere Personen; schon gar nicht durch physisch anwesende.
Es ist notwendig zu verstehen, wie stark sich die Sozialisation von Personen seit dem Aufkommen der digitalen kommunikativen Sphäre der sozialen Medien verändert hat.
Sozialisation in Zeiten digitaler Kommunikation: Was sich verändert
Früher wuchsen Kinder ausschließlich in einem Umfeld auf, das mehr oder weniger durch physische Anwesenheit definiert war: Familie, Schule, Freunde, Vereine, Nachbarschaft. Die Möglichkeiten, sich zu entziehen oder auszuweichen, waren begrenzt, was es notwendig machte, sich Herausforderungen zu stellen oder sich anzupassen.
Soziale bzw. digitale Medien wie (Online-) Spiele erlauben nun das Eintauchen in Umwelten, die weitgehend durch persönliche Interessen und Vorlieben bestimmt sind. Angesichts der durchschnittlichen täglichen Bildschirmzeit bei Jugendlichen kann man mittlerweile von für die Sozialisation dominanten Umwelten sprechen. Bei 18- bis 19-Jährigen liegt diese beispielsweise bei 4.5 Stunden.
Dabei unterscheiden sich die Umwelten sozialer Medien fundamental in ihren sozialisierenden Effekten. Die Zurechnung von Kommunikation im fortwährenden Strom eingehender Posts bzw. Nachrichten auf individuelle Personen ist abgeschwächt (von physischer Anwesenheit ganz zu schweigen). Dies geschieht schlicht aufgrund der Vielzahl von Followern oder "Freunden", die in die Hunderte oder Tausende gehen können.
Tautologisch korrumpierte Persönlichkeiten
Algorithmen steuern die Kanalisierung von Nachrichten und Informationen nach den Interessen und Vorlieben der Nutzer, die sich aus der Nutzung des Mediums selbst ergeben. Die Sozialisation findet somit mit zunehmender Dominanz nicht mehr durch andere Personen statt, sondern im Rückgriff auf die Form der medialen Persönlichkeit, mit ihren Erwartungen und Interessen, wie sie sich aus der Nutzung des Mediums selbst ergibt.
Persönlichkeitsbildung findet also zunehmend, mit Blick auf die steigenden Bildschirmzeiten in allen Altersgruppen, auf eine Weise statt, die die Widerstände, Mühseligkeiten und Komplexitäten, wie sie sich aus der synchronen physischen Anwesenheit von Personen ergeben, möglichst vermeidet.
Auch wenn digitale Umwelten (noch) nicht allumfassend Teil der Sozialisation sind, sind die konkreten Auswirkungen offensichtlich. Die Komplexität von Telefongesprächen synchron anwesender Personen, in ihrer allfälligen Widerständigkeit und Unsicherheit, überfordert vor allem viele Jugendliche.
Vermeidung von Konfrontationen und Herausforderungen
Der Ruf, "safe spaces" etwa an Universitäten zu etablieren, wird lauter. Die Vermeidung von Konfrontationen und Herausforderungen, selbst wenn diese lediglich andere Meinungen betreffen, hat sogar eine eigene Kultur hervorgebracht ("Cancel Culture").
Im Film werden diese Auswirkungen humorvoll mittels einer Gruppe traumatisierter Studenten dargestellt, die sich einem Gespräch mit Professor Matthews stellen soll, bei seinem ersten Wort an die Gruppe ("Also …") allerdings die Flucht ergreift.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser neuen digitalen Kommunikationskultur sind schwer vorherzusagen. Führt sie zu einer verstärkten Ausbildung narzisstischer Persönlichkeiten? Werden stabile Beziehungen zunehmend zum Problem?
Schließlich erfordern diese sowohl gefestigte und vorhersehbare Persönlichkeitsstrukturen als auch ein echtes, unmittelbares Interesse an der Persönlichkeit anderer.
Die Tatsache, dass in verschiedenen Ländern Ministerien für Einsamkeit ins Leben gerufen werden, deutet jedenfalls auf ein Problem hin, das nicht zuletzt durch eine sich wandelnde digitale Kommunikationskultur in der Gesellschaft verursacht wird.
Vgl. detaillierter zu den gesellschaftlichen Folgen digitaler Kommunikation: Räwel, J. (2022). Die nächste Gesellschaft: Soziale Evolution durch Digitalisierung. Velbrück Wissenschaft.