Drei Gründe gegen die These des russischen Supergiftes
Im Westen gilt als gesichert, dass der russische Staat den Oppositionellen mit einem Nowitschok-Gift töten wollte. Doch so klar ist die Sache nicht
Mehr als Krisen in den vergangenen Jahren ist die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny geeignet, die Beziehungen zwischen Moskau und westlichen Staaten nachhaltig zu beschädigen. Wenige Tage, nachdem die Ärzte der Berliner Universitätsklinik Charité bei dem 44-jährigen Patienten ein Gift aus der sogenannten Nowitschok-Gruppe identifiziert hatten, ist es vergangene Woche zu einem heftigen diplomatischen Schlagabtausch zwischen Moskau und Berlin gekommen, gefolgt von der Absage eines Treffens zwischen den Außenministern Heiko Maas und Sergej Lawrow in Berlin.
Die Bundesregierung wirft der russischen Regierung indirekt vor, für den mutmaßlichen Anschlag verantwortlich zu sein und die Aufklärung zu verschleppen. Moskau beschuldigt Berlin, Informationen über den Fall zurückzuhalten und eine Kampagne gegen Russland zu fahren. Fast völlig aus dem Fokus geraten bei der Affäre drei zentrale Punkte: Erstens sind die Nervengifte der sogenannten Nowitschok-Gruppe bereits Mitte der 1990er Jahre nachweislich in die Hände krimineller Gruppen geraten (Hintergründe zu Nowitschok und Giftanschlägen auf russische Oppositionelle); zweitens sind mehrere Nato-Staaten im Besitz der Stoffe; drittens ist die Quellenlage für die These eines russischen Chemiewaffenprogramms zur Entwicklung eines "Supergiftes" dünn, der Hauptzeuge für die These einer russischen Chemiewaffenverschwörung ist fragwürdig.
Bekannt ist spätestens seit 2018, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) Mitte der 1990er Jahre an eine Verbindung der Toxingruppe kam und eine Probe nach Deutschland gebracht hat. Die Geschichte erschien im Mai 2018, zwei Monate nach der Vergiftung des russischen Doppelagenten Sergej Skripal in London, in der Süddeutschen Zeitung. Dabei wurde den Autoren offenbar Zugriff auf Informationen aus deutschen Geheimdienstkreisen gewährt (Wusste die Bundesregierung, dass es Nowitschok in Labors von Nato-Ländern gab?).
Weniger bekannt ist, dass nach Recherchen des BBC-Journalisten Mark Urban auch im britischen Chemie- und Biowaffenforschungszentrum Porton Down die letzte bekannte Form der Nowitschok-Gruppe, A-234, nachproduziert worden sein könnte. Allerdings sei nicht klar, "ob man das A-234 dort selbst hergestellt oder über geheime Kanäle von den Russen erhalten habe", so Urban in seinem 2018 auch in deutscher Übersetzung erschienen Sachbuch "Die Akte Skripal".
USA lassen Ergebnisse verschwinden, Russen wissen von nichts
Kaum eine Rolle spielt in der aktuellen Berichterstattung auch, dass Nowitschok-Gifte bereits in den 1990er Jahren in den USA lagerten und offenbar in Tierversuchen angewendet wurden. Die chemischen Analysen verschwanden später aus öffentlichen Datenbanken. Heute gibt man sich in Washington äußerst verschlossen, wird nach den damaligen Tests gefragt. Außer Zweifel aber steht, dass die Washington Times bereits im Januar 1997 in einem Artikel einen US-Geheimdienstler und Chemiewaffenexperten zitierte, der detailliert über die verschiedenen Nowitschok-Gifte Auskunft gab.
Der Chef des russischen Chemiewaffenabwehrprogramms zeigte 2018 im russischen Fernsehen eine Massenspektrometeranalyse, die der Quelle nach aus dem US-Militärlabor Edgewood Arsenal in Maryland stammt. Das Dokument stammt aus der öffentlichen Massenspektrometiedatenbank NIST98, die von 1998 bis 2001 genutzt wurde. Der Eintrag in NIST98 verwies auf eine weitere Analyse in der Giftdatenbank RTECS. Das lässt darauf schließen, dass Toxizitätsstudien erstellt wurden. Tatsächlich heißt es in einem öffentlichen Dokument des US-Gesundheitsministeriums von Anfang 2019, Tierversuche mit Nowitschok-Giften hätten gezeigt, dass es nach Exposition zu Bronchialverengungen und Krämpfen komme. Die Primärstudien aber sind inzwischen aus dem Netz verschwunden, Auskünfte verweigern die US-Behörden.
Ähnlich verschlossen geben sich die russischen Behörden. "In Russland wurden niemals Forschung, Entwicklung oder Herstellung von Projekten mit dem Codenamen Nowitschok durchgeführt, alle Chemiewaffenprogramme wurden 1991-92 eingestellt", erklärte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja. Ähnlich äußerte sich Außenamtssprecherin Maria Marija Sacharowa. Gegenüber der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) nahm Russland 1998 ausführlich Stellung: "Russland hat keine toxischen Wirkstoffe produziert und hatte auch keine Produktionsanlagen, außer denen, die 1997 von Russland dem Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) gemeldet wurden."
Will Mirsajanow, ein fragwürdiger Kronzeuge
Wer hat also Recht, Russland oder der Westen? Hilfreich zur Beurteilung ist ein genauerer Blick auf den Kronzeugen gegen Moskau, den russischen Chemiker und Whistleblower Will Mirsajanow. Der heute 85-Jährige gibt an, die Weiterentwicklungen von Nowitschok-Giften am Staatlichen Forschungsinstitut für Organische Chemie und Technologie (GosNIIOKhT) in Moskau bezeugen zu können. Damit habe Russland unter Michail Gorbatschow bilaterale Rüstungskontrollvereinbarungen mit den USA gebrochen. Erstmals hatte Mirsajanow die Story am 10. Oktober 1991 in der russischen Zeitung Kuranty veröffentlicht, knapp ein Jahr später, im September 1992, auf Englisch in der Zeitung Moscow News und parallel in der Baltimore Sun in den USA. Danach erst wurde er festgenommen und wegen Geheimnisverrats angeklagt.
1995 emigrierte der ethnische Tatar und spätere antirussische Aktivist Mirsajanow in die USA und veröffentlichte parallel zu Aktivitäten zur Unterstützung tatarischer Separatisten weitere Details über das mutmaßliche Nowitschok-Programm Russlands.
Vergleicht man die Schilderungen seit 1992, stößt man jedoch auf zahlreiche Widersprüche, die in westlichen Medien geflissentlich übergangen werden. So gab Mirsajanow in einem Beitrag 1995, nach der Übersiedlung in die USA, an, am GosNIIOKhT seien die unitären Kampfstoffe A-230 und A-232 entwickelt und in jeweils "dutzenden" und "einigen" Tonnen produziert worden. Die binären Stoffe "Nowitschok-5" und "Nowitschok-7" seien in den 1980er Jahren entstanden, mit "Nowitschok-7" habe es 1993 erste Tests gegeben.
In seiner Biografie 2008 heißen dann schon die Organophosphate der 1970er Jahre "Nowitschoks", nicht mehr nur die angeblichen binären Weiterentwicklungen der 1980er Jahre. Auf einmal heißt A-230 "Nowitschok-5", nicht mehr die mutmaßliche binäre Form von A-232. Und von Entwicklungen nach 1992 hätte Mirsajanow ohnehin nicht mehr aus Primärquellen erfahren oder vor Ort bezeugen können. Tatsächlich stammen einige der brisantesten Informationen des Kronzeugen Mirsajanow aus russischen Geheimdienstdokumenten, die ihm für seine Verteidigung plötzlich zur Verfügung gestellt wurden; die Formeln von Nowitschok-Varianten in seinem 2008er Buch stammen offenbar aus US-Laboren, in denen die Stoffgruppe zwischenzeitlich untersucht worden waren.
Falsche Spur von KGB?
Diese Geheimdokumente sind bis heute Misajanows Hauptquelle. Nachdem die russische Staatsanwaltschaft den Fall am 11. März 1994 fallen ließ, schrieb er durchaus erstaunt: "Es wurde deutlich, dass es denen, die mich anklagten, weniger um den Schutz von Staatsgeheimnissen ging als darum, ein Exempel an mir zu statuieren. Während ich meine Verteidigung vorbereitete, war es mir nämlich gesetzlich erlaubt, zahlreiche streng geheime Dokumente - von denen ich viele noch nie zuvor gesehen hatte - zu kopieren und sie meinem Anwalt, der Presse und Anderen im Ausland zuzuleiten, die meine Verfolgung anprangerten."
Die russischen Dokumente, von denen sich heute noch Kopien in der Sussex Harvard Information Bank finden, bestätigen tatsächlich, dass im GosNIIOKhT ein hochwirksames Toxin mit einer vielfachen Wirkkraft von VX entwickelt worden sei, die Bezeichnung Nowitschok geläufig sei und eine Heilung nach Intoxikation durch die Weiterentwicklung erschwert worden sei.
Dass der russische Geheimdienst trotz turbulenter Zeiten in der unmittelbaren Post-Sowjet-Ära in einem Strafverfahren freimütig Geheimakten herausgab, die ein geheimes Chemiewaffenprogramm bestätigen und über bekannte Informationen hinaus enthüllen, trifft bei Beobachtern auf erhebliche Zweifel. Im März 2018 behauptete der russische Autor Andrej Lasarschuk unter Berufung auf eine anonyme Quelle, die Sowjetarmee habe 1983-1984 einsatzbereute Chemiekampfstoffe deaktiviert und eingelagert. Im Übrigen sei Mirsajanow nie theoretisch oder praktisch mit der C-Waffen-Entwicklung betraut gewesen. Mirsajanow sei im Zuge einer Gegenspionageoperation des KGB als Informant enttarnt und später benutzt worden, um Desinformation zu streuen.
Das alles ist zwar auch wenig belastbar, für Fachleute wie den Mediziner Paul McKeigue von der Universität Edinburgh aber durchaus schlüssig. Es gäbe zwei mögliche Erklärungen für die Nowitschok-Geschichte: Entweder der russische Geheimdienst habe im Zuge des Mirsajanow-Prozesses aus freien Stücken ein geheimes C-Waffen-Programm enthüllt: "Oder das Motiv für die Weitergabe falscher Informationen an die USA könnte darin bestanden haben, die USA mit der Geschichte einer neuen Superwaffe zu einer Zeit von militärischen Abenteuern abzuschrecken, in der Russland militärisch geschwächt war."
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