Droht die totale Überwachung im digitalen Kapitalismus?

Seite 2: Albtraum totale Kontrolle: Gewerkschaftsbewegung könnte dagegen halten

Außerdem kann diese Art von Verhaltensanalyse auch zur Bestrafung benutzt werden, und das ganz unmittelbar. Wenn jemand Auto fährt und die Versicherungsgesellschaft sieht, dass er bei Rot weitergefahren ist, kann sie ihn sofort warnen, dass sie seine Beiträge erhöhen wird oder sogar so weit gehen, ihm den Motor abzuschalten. Andererseits kann sie für Wohlverhalten Preisnachlässe, Rabatte und Fleißsternchen vergeben.

Obwohl es in Zuboffs Artikel nicht diskutiert wird, kann man sich auch gut vorstellen, dass diese Mechanismen sogar noch intensiver genutzt werden, wenn es darum geht, die Menschen innerhalb jener privaten Diktaturen zu kontrollieren, in denen sie den größten Teil ihres Lebens verbringen, nämlich an dem Ort, den wir als »Arbeitsplatz« bezeichnen.

Die Überwachung in der Industrie begann mit Aufsehern, die herumsaßen und beobachteten, was die Arbeiter taten. Das wurde mit dem sogenannten »Taylorismus« verfeinert, bei dem jede einzelne Verrichtung kontrolliert wurde. Henry Ford führte das Fließband ein, das sehr effizient war, aber eine extreme Form von Kontrolle über den Arbeiter ausübte.

Noam Chomsky im Gespräch mit Michael Schiffmann über »Konsequenzen des Kapitalismus«

Das Problem dabei war, dass die Arbeit dadurch so drückend wurde, dass die Leute nicht mehr mitmachten, weil sie es nicht aushalten konnten. Ford musste an die tausend Arbeiter in der Hoffnung einstellen, dass vielleicht hundert blieben. Das scheint der Hauptgrund für die Einführung des Fünf-Dollar-Lohns bei Ford gewesen zu sein, was meist als altruistische Tat hingestellt wird, aber offenbar Fords Versuch war, seine Arbeiter zum Bleiben zu bewegen.

Daneben betrieb das Unternehmen eine umfassende Überwachung der Arbeiter nicht nur am Arbeitsplatz selbst, sondern auch in ihrem Privatleben. Vertreter der Firma suchten die Arbeiter zu Hause auf, um sicherzustellen, dass sie sich einer angemessenen Lebensführung befleißigten. Da Henry Ford fand, die Arbeiter müssten ein gesundes und moralisch gefestigtes Leben führen, wurden sie sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause genau beobachtet.

Der neue Überwachungskapitalismus geht darüber noch weit hinaus. Nun kann jeder Augenblick im Leben eines Menschen beobachtet werden und das kann man natürlich auch am Arbeitsplatz tun. So hat das Management in den Warenlagern von Amazon (wo die Arbeit ohnehin sehr hart ist) die kürzeste Distanz zwischen zwei gegebenen Positionen bestimmen lassen, und wenn ein Arbeiter, der dort hin und her rennt, zufälligerweise einmal von der kürzesten Strecke abweicht, bekommt er eine Verwarnung.

Wer zu viele Verwarnungen bekommen hat, wird entlassen. Wenn man ein bisschen zu viel Zeit auf der Toilette verbringt – Kündigung. Man unterhält sich ein bisschen zu lang und vielleicht noch mit den falschen Leuten, auch nicht gut. Wer mal schnell in seine E-Mail sieht oder mit jemand telefoniert, bekommt einen Strafpunkt. Das ist eine fabelhafte Technik zur Kontrolle.

Lieferfirmen wie UPS haben sich dieselben Praktiken zu eigen gemacht. Wenn also der Fahrer einmal zurückfahren muss oder die Geschwindigkeitsbeschränkung überschreitet oder irgendwo für einen Kaffee anhält, bekommt er sofort eine Warnung: Du tanzt hier besser nicht aus der Reihe, oder ...

Einige Studien deuten darauf hin, dass das tatsächlich die Produktivität erhöht. UPS konnte dadurch mit weniger Fahrern mehr Lieferungen bewerkstelligen. Das Ganze ist eine sanftere Version früherer Methoden der Sklaverei, bei denen eine Peitsche und eine Pistole die Produktivität ebenfalls beträchtlich erhöhen konnten. Derzeit wird diese Überwachung für die Wirtschaft, für die Werbung und zur Kontrolle der Arbeitskräfte genutzt. Aber wir können uns ziemlich sicher sein, dass dieselbe Art Information bald auch an den Staat gehen, und wenn nötig, auch benutzt werden wird.

Das Ideal hierbei ist vermutlich China, wo diese Methoden schon sehr weit vorangetrieben wurden. Dort wurde ein sogenanntes »Sozialkreditsystem« eingerichtet, bei dem jeder mit tausend Punkten beginnt und dann je nach Verhalten Punkte abgezogen oder dazu bekommt. Das begann als Experiment in einigen Städten und soll jetzt wohl auf das ganze Land ausgedehnt werden.

Überwachungskameras überall, Gesichtserkennung. Wenn man bei Rot über die Ampel geht, gibt es einen Strafpunkt. Wenn man einem alten Mütterchen über die Straße hilft, bekommt man vielleicht einen Fleißpunkt. Im Lauf der Zeit internalisiert man das alles dann. Sehr bald wird man das eigene Verhalten beobachten, weil so viel davon abhängt: internalisierte Disziplin.

Man sieht es schon jetzt in den Fabriken und wir werden es sehr bald auch mit dem Internet der Dinge sehen. Hast du zu lang geschlafen oder zu viel gegessen? Darauf folgt gleich eine Reaktion, entweder Belohnung oder Bestrafung. Das Ganze wird vermutlich zu einer internationalen Kontrolltechnik werden. Ich persönlich vermute, dass man künftig Techniken wie diese einsetzen wird, um für das erwünschte Verhalten zu sorgen.

Außerdem sondert diese Art der Kontrolle die Menschen voneinander ab, da sie hochgradig individualisiert ist, und Individualisierung ist eine weitere Kontrolltechnik, die in vielerlei Zusammenhängen eingesetzt wird.

Wenn wir uns vor einem Alptraum wie diesem schützen wollen, bedarf es dazu einer lebendigen und dynamischen organisierten Gewerkschaftsbewegung. Sie ist es, die im Verlauf der gesamten modernen Geschichte Fortschritte durchgesetzt hat. In den USA wurde der Arbeiterbewegung mit einem ungewöhnlichen Maß an Gewalt und Repression begegnet, mehr jedenfalls als in anderen, vergleichbaren Ländern. Aber sie ist immer aufs Neue wiederauferstanden.

Derzeit befindet sie sich in einer Phase des Rückzugs. Aber sie kann erneut zu einer starken Kraft werden und das wäre dann nicht die einzige, aber eine sehr wichtige Quelle der Hoffnung.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".