EU: Coronakrise verstärkt das Auseinanderdriften von Nord und Süd

Die bereits beschlossenen Stützungsmaßnahmen scheinen nicht auszureichen, um die Eurozone angesichts der zweiten Pandemiewelle zusammenzuhalten

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Erinnern Sie sich noch? Im vergangenen Sommer sollte die EU in tagelangen, nervenaufreibenden Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs endlich ein stabiles Fundament erhalten. Der historische Brüsseler EU-Gipfel vom Juli 2020 - auf dem faktisch europäische Anleihen und Steuern, sowie Finanzhilfen für den Süden beschlossen worden sind - hatte seine Ursache nicht zuletzt in dem Streit um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank EZB.

Jahrelang nötigte der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble die Krisenstaaten der Eurozone zu einer ökonomisch verheerenden Austeritätspolitik, während Berlin sich weigerte, europäische Konjunkturmaßnahmen zuzulassen. Jahrelang pumpte die EZB unter Mario Draghi Unmengen von Liquidität in die Märkte, um diesem Sparkurs durch "billiges Geld" und den Aufkauf von Schulden entgegenzuwirken. Im vergangenen Mai kulminierten die diesbezüglichen geldpolitischen Spannungen zwischen Berlin und der EZB schließlich in einem umstrittenen Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichts, das Berlin ein Vetorecht bei geldpolitischen Entscheidungen der EZB zusprach - und den Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht offen infrage stellte.

Die Einigung der EU-Staaten im vergangenen Juli auf direkte Konjunkturhilfen für den Süden, europäische Schuldenaufnahme und eine Vertiefung der Integration stellte gerade eine Reaktion auf diesen Karlsruher Richterspruch dar. Die EZB müsste demnach keine geldpolitischen Exzesse mehr veranstalten, um den Süden der Eurozone über Wasser zu halten, wenn dieser durch entsprechende Konjunkturprogramme und Transfers im Rahmen institutioneller Reformen gestützt würde.

Rückfall in die Rezession?

Wenige Monate nach den sommerlichen Brüsseler Beschlüssen über Anleihen und EU-Steuern, über einen EU-Haushalt von 1,8 Billionen Euro und direkte Konjunkturhilfen im Umfang von 390 Milliarden Euro, zu denen ich Kreditlinien von 360 Milliarden gesellten, scheint Europa aber vor demselben Problem zu stehen: Die EZB erwägt aufgrund zunehmender konjunktureller Warnsignale, die auf eine abermalige Rezession in der EU während der zweiten Pandemiewelle deuten, ihre ohnehin historisch beispiellosen Konjunkturmaßnahmen noch auszuweiten.

Am 17. November sprach sich der Chefökonom der EZB, Philip Lane, für eine Ausweitung der Konjunkturmaßnahmen in Europa aus. Lane zufolge werde die öffentliche Verschuldung der Eurozone in diesem Jahr mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen und noch in 2021 und 2022 weiter leicht ansteigen. Doch sei eine Rückkehr zu den "Zuständen, wie vor zehn Jahren" aufgrund des günstigen Finanzierungsrahmens, den die EZB durch ihre expansive Geldpolitik gewährleistet, nicht zu erwarten.

Ähnlich argumentierte der Chef der spanischen Zentralbank, Pablo Hernandez de Cos. Die EZB solle das "Niveau monetären Entgegenkommens" erhöhen, da sich die wirtschaftlichen Aussichten in dem europäischen Währungsraum rasch eintrübten. Die konjunkturelle Erholung in der Eurozone, befeuert durch kreditfinanzierte nationale Konjunkturmaßnehmen, gerät zunehmend ins Stocken. Aufgrund der zweiten Pandemiewelle ist eine abermalige Rezession im dritten Quartal dieses Jahres in der Eurozone wahrscheinlich.

Damit scheint - in Reaktion auf die sich eintrübenden konjunkturellen Aussichten - der Druck zuzunehmen, bei der kommenden Sitzung des EZB-Rats am 10. Dezember eine abermalige Ausweitung der Aufkaufprogramme zu beschließen, mit denen die Notenbank den Währungsraum stabilisiert. Zur Erinnerung: Die EZB kann bereits im Rahmen ihres Krisenprogramms PEPP (Pandemic Emergency Purchase Program) Schuldtitel im Umfang von 1,35 Billionen Euro (das sind 1350 Milliarden) aufkaufen, um mit dieser faktischen Gelddruckerei, die zu einem raschen Aufblähen der Bilanz der EZB führt, den Zusammenbruch der Eurozone zu verhindern. Die nationalen Konjunkturpakete, insbesondere im ohnehin überschuldeten Süden der Eurozone, wären ohne diese Gelddruckerei nicht möglich.

Europäische Bilanzblähungen

Die Folge: die Bilanzsumme der EZB - die sich, ähnlich der Fed, zu einer Sondermülldeponie des Finanzsystems wandelt - ist von rund 4,6 Billionen Ende 2019 auf inzwischen 6,7 Billionen Euro explodiert. Vor gut 15 Jahren, kurz vor dem Zusammenbruch der Immobilien- und Schuldenblasen in Europa, lag die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank übrigens noch knapp unterhalb der Billionen-Marke.

Schon vor einem Monat deutete EZB-Präsidentin Christine Lagarde eine etwaige Ausweitung dieses ohnehin historisch beispiellosen Aufkaufprogramms an, da die konjunkturelle Erholung Gefahr laufe, "an Schwung zu verlieren". Lagarde plädierte überdies für die Einführung dauerhafter Instrumente zur Stützung der Konjunktur, sowie für eine rasche Implementierung des im Juli in Brüssel beschlossenen Wiederaufbaufonds. Das Ziel der EU-Kommission müsse sein, "diese Mittel Anfang 2021 zu verteilen, und dieser Zeitplan muss eingehalten werden", so die EZB-Präsidentin.

Doch gerade dies scheint kaum noch realistisch. Zum einen haben die rechtspopulistischen Regierungen in Ungarn und Polen angekündigt, die Kopplung der Konjunkturhilfen an rechtsstaatliche Mindeststandards nicht hinzunehmen und das mühsam geschnürte Krisenpaket mit einem Veto zu blockieren. Zum anderen scheint aufgrund der langwierigen Detailverhandlungen nur ein kleiner Teil der im Wiederaufbaufonds vorgesehenen Mittel im kommenden Jahr tatsächlich zu fließen, sodass der Süden der Eurozone, der besonders hart von dem aktuellen Krisenschub getroffen wurde, kaum realistische Aussichten auf rasche europäische Konjunkturhilfen hat.

Fazit: Der großspurig als Ausdruck europäischer Solidarität bejubelte Wiederaufbaufonds wird aller Wahrscheinlichkeit nach zu spät implementiert, um die Folgen der aktuellen, durch die Pandemiebekämpfung getriggerten Krise tatsächlich zu bekämpfen. Deswegen scheint die EZB wieder eine Ausweitung der Gelddruckerei in Erwägung zu ziehen - gerade um die im kommenden Jahr weitgehend ausbleibenden, europäischen Konjunkturstützen durch den Aufkauf von Anleihen zu kompensieren.

Folglich deutet sich abermals die eingangs erwähnte geldpolitische Konfliktlinie zwischen der südlichen Peripherie und dem deutschen Zentrum an, da Länder wie "Italien, Spanien und Frankreich" von dem Aufkaufprogramm besonders stark profitierten, es sich aber um einen "Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung" handeln könnte, wie es in der AfD-nahen Springerpresse unter Verweis auf das besagte umstrittene Urteil des Bundesverfassungsgerichts hieß.

Zunehmende Spaltung der Eurozone

Die Herbstprognose der Europäischen Kommission macht zudem deutlich, wie der aktuelle Krisenschub dazu führt, die diesen geldpolitischen Auseinandersetzungen zugrundeliegende Spaltung der Eurozone weiter anzuheizen. Die Eurozone muss in diesem Jahr einen Rückgang des BIP um 7,8 Prozent verkraften, doch sind die Eurostaaten unterschiedlich stark von der Krise betroffen. Für die Bundesrepublik wird ein Einbruch von 5,6 Prozent prognostiziert, in den Niederlanden sind es 5,3 Prozent, während Irlands Wirtschaft sogar "nur" um 2,3 Prozentpunkte schrumpfen soll. Im Süden hingegen, der von der Pandemie besonders hart getroffen wurde, entfalten sich dramatische Wirtschaftseinbrüche: in Griechenland wird ein Einbruch von 9,0 Prozent erwartet, in Italien sind es 9,9 Prozent, Spaniens BIP soll gar um 12,4 Prozent, dasjenige Frankreichs um 9,4 Prozent schrumpfen.

Der große Wirtschaftseinbruch von 2020 wird somit den ökonomischen Abstand zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie der Eurozone noch weiter vergrößern - während die europäischen Konjunkturmaßnahmen, die im Rahmen des Wiederaufbaufonds fließen sollten, gerade in der entscheidenden Krisenzeit weitgehend ausbleiben werden. Eine Überwindung der zunehmenden sozio-ökonomischen Spaltung der EU in eine südliche Peripherie und ein deutsches Zentrum, immerhin als wichtiges Ziel der historischen Brüsseler Gipfelbeschlüsse vom vergangenen Juli postuliert, scheint in der gegenwärtigen Krise in weite Ferne zu rücken. Im Gegenteil: Die Differenzen nehmen zu, was auch das innereuropäische Konfliktpotenzial in der Wirtschafts- und Geldpolitik ansteigen lässt.

Eine nachhaltige Reduzierung der jahrelang zunehmenden Spaltung der Eurozone, die maßgeblich durch die Beggar-thy-Neighbor-Politik der Bundesrepublik befördert wurde, scheint inzwischen auch langfristig nicht realistisch. Zu dieser Ansicht gelangte zumindest eine jüngst publizierte Studie des unternehmensnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW).

Die Studie des IW wertete dabei die Wirtschaftsleistung der EU-Staaten in der Dekade von 2009 bis 2018 aus, wobei diese Volkswirtschaften in drei regionale Gruppen aufgeteilt wurden: in Nordeuropa, Mittelosteuropa und den Süden der EU samt Frankreich. Laut den Zahlen des IW betrug das Wirtschaftswachstum Nord- und Nordwesteuropas im besagten Zeitraum 37,2 Prozent, während im Süden der EU die Wirtschaftsleistung nur um 14,6 Prozent gesteigert werden konnte. Daraus ergab sich das beständig wachsende ökonomische Übergewicht des Nordens gegenüber der südlichen Peripherie der Eurozone. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass Frankreichs überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum den Konjunkturverlauf des Südens verzerrt. Ohne Berücksichtigung der französischen Konjunkturentwicklung haben die Länder Südeuropas nur ein Wachstum von 9,9 Prozent erzielt, im Schnitt weniger als ein Prozent pro Jahr.

Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die europäische Austeritätspolitik von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, die Berlin der Eurozone nach dem Platzen der europäischen Schuldenblasen verordnete - und mit der die ökonomische Dominanz der Bundesrepublik zementiert wurde. Als Ursachen für dieses Auseinanderdriften der Eurozone wurden auch vom IW die "Schuldenkrise" in der Eurozone und die "tiefen Rezessionen in den betroffenen Ländern" genannt, wie das Springerblatt die Welt unter Verweis auf die Studie berichtete.

Selbst Länder, die anfänglich von der Einführung des Euro und den "stark gesunkenen Finanzierungskosten" profitiert hätten, seien nach Ausbruch der Eurokrise "wirtschaftlich zurückgeworfen" worden. Die Schlusslichter in der Studie bildeten demnach "ausschließlich griechische Regionen", wo die Wirtschaftsleistung in der untersuchten Dekade um bis zu "ein Fünftel geschrumpft" sei. Und es war eben Hellas, in dem Schäuble besonders krass wütete.

Nordverschiebung des Zentrums

In Mittelosteuropa hingegen, dessen Rechtspopulisten nun den Wiederaufbaufonds blockieren, konnte laut der IW-Studie tatsächlich ein gewisser konjunktureller Aufholeffekt konstatiert werden. Zwischen 2009 und 2018 stieg das Bruttoinlandsprodukt dieses Wirtschaftsraums, der in zwei Schüben 2004 und 2007 der EU beitrat, um durchschnittlich 49,6 Prozent.

Die Studienautoren gehen überdies davon aus, dass dieses Auseinanderdriften von Nord und Süd anhalten werde - trotz Wiederaufbaufonds und vertiefter europäischer Integration. Zur Illustrierung dieser substanziellen Nordverschiebung des ökonomischen Zentrums der EU berechnete das IW einen "wirtschaftlichen Mittelpunkt Europas", so die Welt, an dem die "Wirtschaftsleistung in jede Himmelsrichtung ungefähr gleich groß" sei.

Dieser geographische Punkt, der das Gleichgewicht der Wirtschaftsleistung der EU markiert, habe sich seit 2009 - also dem Ausbruch der Eurokrise - im Gefolge der schäublerischen Austeritätspolitik kontinuierlich nach Norden verschoben. Er lag 2008 "südöstlich von Freiburg im Breisgau", doch bis 2018 wanderte er rund 50 Kilometer nordwärts, um "südöstlich von Offenburg in Baden-Württemberg" verortet zu werden. Die Studie prognostiziert schließlich, dass in den kommenden 25 Jahren dieser Trend anhalten werde, und der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU in einem Vierteljahrhundert "bei Mannheim liegen" werde - falls es dann noch eine Eurozone geben sollte.