EU-Reform: Juncker vs. Kurz

Bild Sebastian Kurz: Dragan Tatic / Bild Jean-Claude Juncker: Factio popularis Europaea / CC-BY-2.0

Der österreichische Außenminister möchte ein Europa, das sich auf den Schutz seiner Außengrenze konzentriert, anstatt Gastwirten die Speisekarten vorzuschreiben

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Ein Dreivierteljahr nach der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, stellte EU-Kommissar Jean-Claude Juncker diese Woche ein Papier vor, das für als Grundlage für eine Diskussion über die Zukunft des Gebildes dienen soll. Die fünf darin geschilderten Szenarien reichen von der Konzentration auf einen Binnenmarkt über eine Beschränkung auf die Bereiche technologische Innovationen, Sicherheit, Einwanderung, Grenzschutz und Verteidigung, ein Festhalten am aktuellen Zustand und ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" bis hin zu "Vereinigten Staaten von Europa", die "viel mehr gemeinsam tun" und "auf allen Ebenen mehr Macht, Ressourcen und Entscheidungsfindungen teilen".

Obwohl Juncker bei der Vorstellung des Papiers im Europaparlament offiziell verlautbarte, er sei neutral, ließen seine Ausführungen und die Schilderung der angeblichen Nachteile einzelner Wege keinen Zweifel daran, dass er möchte, dass sich die Abgeordneten und die Regierungen der Mitgliedsländer für das fünfte Szenario entscheiden: Ein "Weitermachen wie bisher" könnte danach "bei ernsthaften Meinungsverschiedenheiten erneut auf die Probe gestellt werden", ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" würde die Entscheidungsfindung unverständlicher machen, eine Beschränkung auf bestimmte Bereiche würde den Bürgern "Vorteile" in anderen Bereichen vorenthalten und eine Beschränkung auf einen Binnenmarkt sei mit ihm überhaupt nicht zu machen.

"Wir machen weiter, wir müssen weitermachen"

Die 27 Staats- und Regierungschefs mahnte er, sie sollten sich bei ihren Entscheidungen "daran erinnern, dass Europa immer dann am besten und stärksten[gewesen sei], wenn es geeint, kühn und zuversichtlich" war. Außerdem meinte er in seiner Ansprache, die streckenweise an eine Durchhalterede erinnerte, der Brexit werde "die Europäische Union auf ihrem Marsch in die Zukunft nicht stoppen können", denn wir machen weiter, wir müssen weitermachen".

Bei deutschen und französischen Regierungspolitikern scheint die Präferenz Junckers angekommen zu sein (sofern sie nicht schon vorher seiner Meinung waren): Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel verlautbarte in einer gemeinsamen Erklärung mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault, "in Zeiten, in denen die Bedrohungen sowohl von innen als auch von außen zunehmen", teile man "die Überzeugung, dass eine stärkere Europäische Union unser bester Schutz und unser größter Trumpf für die Zukunft" sei, weshalb unter anderem "eine gemeinsame Verteidigungspolitik der EU", eine "stärkere Konvergenz unserer Volkswirtschaften" und eine "Vollendung der Europäischen Währungsunion" her müssten. Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, der Vizepräsident des Europaparlaments ist, kritisierte Junckers Vorschläge dagegen als zu wenig konkret.

Kurz fordert "ein Europa, das sich zurücknimmt und stärker auf das Wesentliche konzentriert"

Deutlich konkretere Vorschläge für eine Reform der EU machte diese Woche der österreichische Außenminister Sebastian Kurz: Er möchte nach eigenen Worten "ein Europa, das sich zurücknimmt und stärker auf das Wesentliche konzentriert" und keines, dass alle Gaststätten zwingt, ihre Speisekarten wegen einer Allergenverordnung zu ändern, aber gleichzeitig seine Außengrenze nicht schützen kann. Ein wichtiger Schritt dorthin ist für ihn die Verkleinerung der EU-Kommission von 27 auf 18 oder 14 Kommissare, die nach dem Rotationsprinzip an die Mitgliedsländer gehen. Das würde seiner Ansicht nach zu Einsparungen von bis zu 120 Milliarden Euro beitragen, die sich als Kosten für überflüssige Regulierung angehäuft haben. An weiteren Maßnahmen zum Abbau solch schädlicher Regelungen schwebt ihm vor, dass alle neuen Vorschriften mit einem Ablaufdatum ausgestattet werden und dass mit jeder neuen Regel zwei alte wegfallen müssen. Vorschriften, die wegfallen können, sind seiner Ansicht nach unter anderem die EU-einheitlich geregelten sehr umfassenden Berichts- und Informationspflichten für kleine und mittlere Betriebe, die Zigarettenkennzeichnungsregeln oder Führerscheinregeln für Diabetiker.

Auch bei der "Schaffung einer Sozialunion" sollte sich die EU seiner Meinung nach "zurücknehmen" und die Personenfreizügigkeit daran ausrichten, dass sie die "Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb Europas fördert" und nicht daran, "dass man sich nach nur einen Tag Arbeit das beste Sozialsystem aussuchen kann".

Eine stärkere Rollte soll die EU dagegen bei der Kontrolle ihrer Außengrenze spielen, die Kurz durch eine neue EU-Grenzschutztruppe bewachen lassen will. Als weltgrößter Entwicklungshilfezahler muss die Union seiner Ansicht nach außerdem ihr vereintes Gewicht in die Wage legen, damit Empfängerländer abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen.

Kanzler 2018?

Diese Vorschläge (die sich seinen Worten nach "zu 90 Prozent" ohne Vertragsänderungen umsetzen ließen) will Kurz in der zweiten Jahreshälfte 2018 verwirklichen, wenn Österreich den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Während dieser Präsidentschaft, im September 2018, wird der österreichische Nationalrat neu gewählt - wenn es nicht bereits vorher vorgezogene Neuwahlen gibt.

Kurz könnte nach solchen Wahlen der aktuellen ATV-Österreich-Trend-Umfrage zufolge vom Außenminister zum Kanzler aufsteigen: Nominiert ihn seine ÖVP, würde dieser Umfrage nach nämlich nicht die FPÖ, sondern sie selbst mit 32 Prozent stärkste Partei - vor der SPÖ mit Kanzler Christian Kern (die auf 26 Prozent käme) und den Freiheitlichen, für die sich mit Norbert Hofer als Kanzlerkandidaten nur 24 Prozent der Österreicher entscheiden würden. Bei einer Direktwahl des Kanzlers würde Kurz sogar mit 34 Prozent vor Kern mit 27 und Hofer mit 16 Prozent siegen.

Allerdings gibt es in der ÖVP auch Politiker, deren Positionen von denen des Außenministers abweichen: Othmar Karas, der Chef der ÖVP im Europaparlament, begrüßte beispielsweise Junckers EU-Zukunftsszenario Nummer 5, während er die von Kurz geforderte Verkleinerung der EU-Kommission "nicht [für] das zentrale Problem" hält.

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