EU: Sehenden Auges in die Mega-Krise

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Es bahnt sich womöglich eine Kernschmelze an - eine Eurokrise 2.0 mit ungeahnten Konsequenzen

Die EU-Staaten müssen mehr tun, um die rasant steigenden Gas- und Strompreise abzufedern und besonders betroffenen Bürgern zu helfen. Dies hat die EU-Kommission in Brüssel nicht gestern und nicht vorgestern empfohlen - sondern bereits am 13. Oktober 2021, also vor neun Monaten.

Schon damals, lange vor dem Ukraine-Krieg, war die Lage angespannt. Der Energiemarkt war überhitzt, die Inflation zog empfindlich an, Frankreich und Spanien drängten auf einen Preisdeckel für Gas und Strom. Doch die 27 EU-Staaten konnten sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, auch die Europäische Zentralbank (EZB) steckte den Kopf in den Sand. Inflation? Kein Thema!

Statt umzusteuern, setzte die EZB ihren Nullzins-Kurs fort. Die Verantwortung liege bei der Politik, hieß es, schließlich gehe es um einen Angebotsschock. Doch auch die Politiker schoben das Problem vor sich her. Vier EU-Gipfel beschäftigten sich mit der Energiekrise, ohne Ergebnis. Gleichzeitig wurden Sanktionen gegen Russland beschlossen, die die Märkte in Wallung brachten und die Preise weiter nach oben trieben. Doch die Risiken und Nebenwirkungen der EU-Sanktionen wurden ignoriert.

Das Ergebnis lässt sich nun besichtigen. Es ist erschreckend. Die EU-Kommission rechnet in diesem Jahr durchschnittlich mit 7,6 Prozent Inflation im Euro-Raum - ein historischer Höchstwert. Das Wachstum soll mit 2,6 Prozent noch schwächer ausfallen als in der letzten Prognose von Mai. Derweil erleidet der Euro einen Schwächeanfall nach dem nächsten. Er ist kaum mehr wert als ein US-Dollar - so schwach war die Gemeinschaftswährung seit ihrer Einführung vor 20 Jahren nicht mehr.

Dahinter steckt nicht nur die große Zinsdifferenz - die US-Notenbank geht viel aggressiver gegen die Inflation vor als die EZB, die sich erst jetzt auf die Zinswende vorbereitet. Hinter der Euro-Schwäche verbirgt sich auch die Angst vor einer Rezession in Europa, ausgelöst durch die Gaskrise. Sollte Russland die Ostseepipeline Nord Stream 1 nicht bald wieder komplett freigeben, droht vor allem Deutschland der wirtschaftliche Absturz.

Jetzt rächt es sich, dass die EU die Gaskrise nicht ernst genommen und regulierend in die allzu volatilen und spekulativen Märkte eingegriffen hat. Es rächt sich aber auch, dass immer mehr Sanktionen gegen den russischen Energiesektor angekündigt und verhängt wurden, ohne die Folgen zu bedenken und abzufedern. Spätestens mit dem im Juni beschlossenen Ölembargo war klar, dass die EU und Russland auf eine Konfrontation zusteuern würden.

EU-Kommission wirkt hilflos

Nun ist der Fall da - und die europäische Politik ist ratlos. Was soll man gegen den toxischen Mix aus Gaskrise und Wirtschaftskrise unternehmen? Soll man die Zinsen erhöhen, wie dies die EZB angekündigt hat? Damit steigen auch die Kosten für den Schuldendienst, und die "Spreads" für griechische, italienische oder französische Staatsanleihen gehen in die Höhe. Die Gefahr einer neuen Eurokrise wächst, wie die EZB bereits eingeräumt hat.

Soll man den Gürtel enger schnallen und die bisher recht expansive Fiskalpolitik beenden, wie dies die Eurogruppe in ihrer letzten Sitzung angekündigt hat? Das mag die Gefahr einer Überschuldung eindämmen, dämpft jedoch zugleich (genau wie die geplante Zinserhöhung) das ohnehin schwächelnde Wachstum. Die Gefahr einer Rezession wächst weiter, wenn der fiskalpolitische Stimulus fehlt, und das ganz ohne Zutun Russlands.

Völlig hilflos wirkt die EU-Kommission. Sie will die Mitgliedsländer auf eine mögliche dauerhafte Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland vorbereiten. Doch im Entwurf für den Notfallplan Gas, der am kommenden Mittwoch vorgelegt werden soll, fällt Kommissionschefin Ursula von der Leyen und ihrem "Team Europa" nichts Besseres ein, als die Heiztemperatur in Büros und öffentlichen Gebäuden auf 19 Grad abzusenken!

Verfehlte Politik

Auf diese banale Idee war die Internationale Energieagentur schon im März gekommen. "Die Vorschläge wirken mutlos, gar verzweifelt", kritisiert der grüne Europaabgeordnete Michael Bloss. Von einer "Aneinanderreihung von Hausfrauentipps", spricht sein Kollege Markus Ferber. Auf die Idee, die Heizung herunterzudrehen, hätte man auch ohne die EU-Kommission kommen können, meint der CSU-Politiker völlig zu Recht.

Doch es geht hier nicht nur um ein paar missratene Vorschläge gegen die Gaskrise. Es geht um eine verfehlte Politik. Die EU steuert seit Herbst sehenden Auges in die Mega-Krise. Diese Krise betrifft längst nicht mehr nur die Energiemärkte. Sie trifft auch die Wirtschaftspolitik und die Währungsunion - und damit den "harten Kern" der EU. Hier bahnt sich womöglich eine Kernschmelze an - eine Eurokrise 2.0 mit ungeahnten Konsequenzen.

Das siebte Sanktionspaket gegen Russland in Vorbereitung

Eine erste Vorahnung auf das, was noch kommen kann, geben die jüngsten Ereignisse in Italien. Der Rücktritt von Regierungschef Mario Draghi trifft die EU und die Eurozone im denkbar ungünstigen Augenblick. Doch auch in Frankreich, in Belgien und in den Niederlanden rumort es. Selbst Deutschland ist nicht mehr der gewohnte Hort der Stabilität, auch hierzulande droht ein ökonomisches Beben. All dies ist mit bloßem Auge leicht zu sehen.

Doch in Brüssel weigert man sich, die aufziehende Krise zu erkennen. Ein Politikwechsel zeichnet sich nicht ab - im Gegenteil: Die EU-Kommission bereitet schon das siebte Sanktionspaket gegen Russland vor. Immerhin hat die Brüsseler Behörde diesmal den Energiesektor ausgeklammert. Doch es dürfte eine kurze Atempause sein - das totale Energieembargo steht weiter auf dem Programm. Bis auch Gas an die Reihe kommt, ist es nur eine Frage der Zeit.