EU-Staaten vernachlässigen Aids-Bekämpfung in Osteuropa
Das Baltikum und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zählen weltweit zu den Regionen, in denen sich das HI-Virus derzeit am rasantesten verbreitet.
Erschreckende Zuwachsraten bei der Neuinfektion mit HIV weisen insbesondere die baltischen Staaten Estland und Litauen auf. Diese Zahlen legte das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten bei einer Konferenz der EU-Gesundheitsminister vergangene Woche in Bremen vor. Vertreter von Nichtregierungsorganisationen forderten dort ein stärkeres Engagement der EU für Präventions- und Behandlungsprogramme im Osten Europas.
Innerhalb der EU ist das HI-Virus neben Portugal, Spanien und Italien in Estland und Litauen am weitesten verbreitet: Im kleinen Estland wird die Zahl der Infizierten ebenso wie in Litauen auf mittlerweile 10.000 geschätzt (Prävalenzrate: 1,3% respektive 0,8%), in Italien auf 150.000 (Prävalenzrate: 0,5). Die Zahl derjenigen, die sich in Osteuropa und in Zentralasien über heterosexuellen Geschlechtsverkehr ansteckten, verdoppelte sich demnach in den vergangenen fünf Jahren. Dennoch betreffen 70% der Neuinfektionen weiterhin Drogenabhängige; 30 Prozent der Neuinfizierten im Jahr 2005 waren außerdem jünger als 24 Jahre.
„Seit Litauen und Estland Mitglied der Europäischen Union geworden sind, erhalten dortige Aids-Organisationen für ihre Arbeit keine internationalen Gelder mehr“, ist Ton Coenen von Aids Action Europe empört. Es werde vorausgesetzt, dass ihre Regierungen oder die EU jetzt die Arbeit mit den Betroffenen finanzieren, was aber in der Realität kaum passiere. Denn die EU finanziere nur „Großprojekte“, und die eigenen Behörden haben entweder selbst kaum Geld oder sie wollen das wenige, was sie haben, nicht für die in der Bevölkerung wenig anerkannte „Randgruppenarbeit“ ausgeben, bestätigt Ruda Kaupe aus Riga in Litauen. Viele NROs hätten deshalb ihre Arbeit inzwischen eingestellt: „Sie sind es einfach müde geworden, ihre Arbeitszeit nur noch damit zu verbringen, immer neue Finanzanträge zu schreiben!“
Kaupes eigene Organisation Dia+Logs habe inzwischen erreicht, dass zumindest Rigas Stadtverwaltung den Sinn von HIV-Aids-Bewusstseinsarbeit einsieht: Diese habe die Mietzahlungen für das Zentrum übernommen, in dem Dia+Log vor allem den Junkies der Stadt einen Anlaufpunkt und Beratung in Sachen HIV/Aids anbietet. „Aber wir haben große Mühe, ihnen kontinuierliche Programme anzubieten, weil wir jedes Jahr nach neuen Gebern suchen müssen. Das ist ungeheuer ermüdend und erschwert unsere Arbeit mit den Drogenabhängigen zusätzlich - denn die brauchen Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit am meisten!“
Dass die EU zwar zu den größten Geldgebern in der internationalen Aidsbekämpfung gehört, aber in den eigenen Reihen ihren Verpflichtungen nicht nachkommt, veranlasste auch den Direktor von UNAIDS, Peter Piot, zu mahnenden Worte. Es sei „schockierend“, dass in einigen Staaten die Budgets für die Aids-Hilfe schon wieder gekürzt werden und dass in anderen HI-Infizierte nach wie vor unter „weit verbreiteter Stigmatisierung“ und Diskriminierung zu leiden hätten, sagte Piot. Es mache sich eine gewisse „Selbstgefälligkeit“ breit, und das obwohl weltweit nur die Hälfte der Finanzen bereit steht, die nach Schätzungen seiner Organisation nötig sind, um HIV/Aids wirksam zu bekämpfen. „Es geht hier nicht um eine ‚Modekrankheit’ sondern um eine Verpflichtung, die uns noch Jahrzehnte beschäftigen wird“, betonte Piot. Der UNAIDS-Direktor nannte es „ironisch“, dass zwar die Afrikanische Union bereits seit längerem einen kontinentweiten Aktionsplan für Aids erarbeitet habe, aber die EU nach wie vor über kein entsprechendes gemeinsames Programm verfüge.
Anspruchsvolle Selbstverpflichtungen hat sich die EU aber durchaus bereits zum Ziel gesetzt. Auf einer Konferenz der EU-Gesundheitsminister im Jahr 2004 in Dublin verpflichteten sich die EU-Staaten, bis 2010 allen Erkrankten Zugang zu antiretroviralen Medikamenten zu verschaffen, und sie versprachen Unterstützungsprogramme für besondere Hochrisiko-Gruppen. Diese Versprechungen sind in vielen Ländern bis heute nicht umgesetzt.
Nach Angaben von Aids Action Europe erhalten in Osteuropa und Zentralasien nur 13 Prozent der Aids-Kranken eine medikamentöse Versorgung. Werbung für Kondome ist in den meisten osteuropäischen Staaten tabu, und Nadelaustauschprogramme werden von vielen Regierungen noch immer eher als eine kriminelle denn als eine gesundheitspolitisch sinnvolle Handlung angesehen.