EU-Wahlen: Hauptsächlich nationale Nebenwahlen?

Saal und Konferenzort, in dem 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet wurden. Bild: Hadi / CC BY-SA 3.0

Laut ARD-DeutschlandTrend gibt es starke Zustimmung zur EU und zur Wahl, auch die AfD-Anhänger überraschen. EU-Kommissionspräsident Juncker fehlt die "kollektive Libido"

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Das Interesse an der EU-Wahl sei relativ hoch, meldet der ARD-DeutschlandTrend. Unterlegt wird dies damit, dass 53 Prozent der Befragten sich "sehr stark" oder "stark" für die EU-Parlamentswahlen interessieren. Im Gesamtbild macht sich allerdings eine gespaltene Haltung bemerkbar.

Am deutlichsten wird die Gespaltenheit bei den mittleren Kategorien. So antworteten 36 Prozent auf die Frage "Wie stark interessieren Sie sich für die Europawahl?" mit dem vorgegebenen "stark", das einen emphatischen Eindruck macht. Ein etwa gleich großer Anteil, nämlich 37 Prozent, gab "weniger" zur Antwort. Bei den ausgeprägteren Antworten "sehr stark" oder "gar nicht" betrug der Unterschied 7 Prozentpunkte. 17 Prozent sind demnach stark interessiert, 10 gar nicht.

Sollten die 53 Prozent in gut drei Wochen tatsächlich wählen, dann würde die Wahlbeteiligung in Deutschland von 48,1 Prozent bei der letzten Wahl im Jahr 2014 deutlich überboten (bei den beiden Wahlen zuvor waren es nur 43 Prozent). Allerdings bliebe der Abstand zur Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen noch immer sehr groß (2017 lag sie bei 76,2 Prozent).

Bei den ersten Europawahlen im Jahr 1976 lag die Wahlbeteiligung EU-weit bei knapp 62 Prozent und in Deutschland bei knapp 66 Prozent, diese Werte wurden nie wieder erreicht. Damals war man aber augenscheinlich auch nicht gerade begeistert. Denn im Jahr 1980 prägten die Politologen Karlheinz Reif und Hermann Schmitt ihre "Nebenwahl-These", wonach die Wahlen zum Europaparlament im Grunde "nationale Nebenwahlen" sind.

Demnach nehmen weniger Stimmberechtigte an den EU-Wahlen teil, weil auch weniger auf dem Spiel steht als bei den nationalen Wahlen und die Stimmabgabe eher als Signal auf das eigene Land gerichtet ist - das Stichwort dazu lautet: Protestwahl - statt auf die konkreten Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament, wo ohnehin vieles kompliziert und die Exekutivbefugnisse im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten schwer durchschaubar sind.

Eine besonders wichtige Nebenwahl

Dieses Mal spricht vieles dafür, dass es eine besonders wichtige Nebenwahl ist. Zwar werden entscheidende Spitzenposten für die EU weitestgehend nach internen Absprachen vergeben, wobei die Wahlergebnisse schon eine Rolle spielen, aber die EU ist wichtiger geworden als bei der letzten EU-Wahl. Sie ist ständig in Debatten präsent. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich Politiker und Medien stark an Stimmungen orientieren, die von Umfragen ermittelt werden. Wahlergebnisse sind der wichtigere Indikator.

Dass es eine besondere Nebenwahl ist, liegt auch daran, dass viel auf die Frage zugespitzt wird, wie denn die Populisten und "EU-Skeptiker" abschneiden und welche Antworten das Wahlergebnis darauf liefert, wie die Einstellung zur EU aussieht.

Mehrheit sieht Vorteile der EU

Geht es nach dem ARD-DeutschlandTrend, so gibt es eine große Mehrheit, 73 Prozent, die der Auffassung ist, dass die Mitgliedschaft in der EU dafür sorgt, "dass es uns wirtschaftlich gut geht". 71 Prozent meinen, dass die EU auch dafür sorgt, "dass wir sicherer leben", und 80 Prozent sprachen sich dafür aus, dass die außenpolitisch stärker in Erscheinung trete.

Auch die Frage danach, ob die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern vertieft werden sollte, prinzipiell also, ohne die Art der Vertiefung näher anzusprechen, wird mehrheitlich, wenn auch knapp (52 Prozent) mit einer Zustimmung beantwortet. Allerdings hat diese seit Februar 5 Prozentpunkte verloren. 27 Prozent sprachen sich in der Umfrage dafür aus, dass "die Staaten wieder stärker alleine handeln". Wäre das in etwa der Stimmanteil, mit dem die Populisten und Euroskeptiker rechnen können?

Mehrheit der AfD-Anhänger für Aussage: "Die EU soll Europa einen"

Erwartbar findet sich die große Mehrheit für ein eigenständigeres Handeln auf nationaler Ebene bei den AfD-Anhängern, dort sind 68 Prozent dafür. Etwas erstaunlich, weil aus dem üblichen Wahrnehmungsrahmen fallend, ist das AfD-Ergebnis, das beim Schaubild zur Frage "Die EU soll Europa einen" gezeigt wird.

Demnach stimmen 74 Prozent der AfD-Anhänger diesem Satz zu. Spitzenreiter sind hier die Grünen-Anhänger mit 92 Prozent, gefolgt von den Unions-Anhängern mit 89 Prozent. Was mit "einen" gemeint ist, inwieweit sich das von "Vertiefen" abgrenzt, bleibt allerdings vollkommen offen. Die Antworten lassen sich aber als eine prinzipielle Zustimmung zur EU lesen, Gegnerschaft drückt sich anders aus.

In der Sonntagsfrage zur Europawahl würde die AfD auf zehn Punkte kommen. Bei der Bundestagswahl wären es zwei Prozentpunkte mehr. Demnach kann die AfD selbst nicht auf ein großes Zeichen bei der Europawahl hoffen, wie es sich Orbán oder Salvini erhoffen und Macron in Frankreich angesichts einer wieder präsenteren Marine Le Pen befürchtet.

Sonntagsfragen

Es gibt Unterschiede bei den jeweiligen Sonntagsfragen zur Bundestagswahl und zur Europawahl: Doch liegen die Ergebnisse so nah beieinander, dass daraus kaum Schlüsse abzuleiten sind, außer dass sie mit der These von der nationalen Nebenwahl leicht in Einklang zu bringen sind.

Bei der Sonntagsfrage zur Europawahl erreicht die Union 29 Prozent. Bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl liegt sie bei 28 Punkte. Ähnlich bei der SPD (19% und 18 Prozent), den Grünen (19 Prozent bei der Europawahlsonntagsfrage und 20 Prozent bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl), der Linken (7 Prozent und 9 Prozent) und der FDP (7 Prozent und 9 Prozent).

Juncker und die Liebe

In Deutschland wäre demnach nicht zu befürchten, was der noch amtierende Kommissionspräsident Juncker als Schreckensergebnis einer Nebenwahl, die von nationalen innenpolitischen Gründen bestimmt wird, an die Wand malt: "Doch was würde passieren, wenn nationale Parteien am rechten und linken Rand überall in der EU die Oberhand gewinnen würden? Dann wäre nicht nur die EU am Ende, sondern auch die liberalen Demokratien, die freien Gesellschaften. Das muss sich doch jeder klarmachen, der beispielsweise die AfD wählt."

Kurz vor Ende seiner Amtszeit entdeckt der Politiker im Interview mit dem Handelsblatt übrigens die Liebe als großen Zusammenhalt, der der EU fehlt:

Doch das Kernproblem der Europäer ist ein anderes: Wir lieben uns nicht. Die kollektive Libido ist uns abhandengekommen.

Jean-Claude Juncker