Edit-War um Friedrich Merz
Warum die Geschichte eines Wikipedia-Eintrags oft aufschlussreicher ist als der Eintrag selbst
Die freie Enzyklopädie Wikipedia versammelt auf ihren Seiten mittlerweile sechs Millionen Artikel in 250 Sprachen. Dabei kommt es bei der Erstellung von Artikeln nicht auf die Meinung von Experten an. Denn jeder der Zeit und Lust (in Deutschland etwa 7.000 Wikipedianer) hat, kann sich beim Anlegen der Artikel beteiligen. Dieses basisdemokratische Modell ist jedoch in letzter Zeit verstärkt in die Kritik geraten.
Zum einen führen die hohe Fluktuation der Wikipedia-Autoren und der damit verbundene unabgeschlossene Charakter zu einer raschen Veränderung der einzelnen Artikel. Die sogenannten Edit-Kriege, bei denen mehrere Autoren wechselseitig innerhalb kurzer Zeit die Änderungen des Anderen rückgängig machen, weil sie bestimmte Sachverhalte anders interpretieren sind eine Folge davon. Weiter können sogenannte Vandalen unsinnige- oder falsche Sachverhalte in die Enzyklopädie einarbeiten, was möglicherweise über längere Zeit unentdeckt bleibt.
Spaßguerrilla
Letztes Jahr wurden z. B. Dieter Thomas Heck, Bata Illic und Karl Moik Opfer der von der Spaßguerilla gezielt verbreiteter Falschinformationen. Bei einer offensichtlichen Ente in Manuel Andracks Wikipedia-Eintrag vom 14. März 2007 ist man fast versucht, die Humorhandschrift seines Vorgesetzten Harald Schmidt zu erkennen: "Kritisch gesehen wird heute sein 1991 erfolgter Eintritt in die rechtsextreme NPD." Auch der ehemalige Wikipedia-Administrator Ulrich Fuchs hatte bei vierzig Stichworten Falschinformationen untergebracht, welche teilweise nach 14 Tagen immer noch nicht korrigiert wurden. Gleichfalls hat die in puncto Wikipedia auffallend kritisch gestimmte "Süddeutsche Zeitung" verschiedene Stichworte der Enzyklopädie mit falschen Fakten versorgt , prompt deren schleppende Eliminierung moniert und sogar "wuchernde Wissenswülste" beklagt.
Bezahlte Arbeitszeit
Unerwähnt blieb bei diesem Artikel jedoch, dass nicht Edit-Warriors und Vandalen, sondern PR-Agenturen und Think Tanks die schwerwiegendere Gefahr für Wikipedia darstellen, weil ihnen beim Kampf um die Deutungshoheit einzelner Artikel professionelle Schreiberlinge mit reichlich bezahlter Arbeitszeit zur Verfügung stehen. Schon zu Zeiten der Heise-Freitagschats drang aus den PR-Agenturen unter der Hand die Nachricht, dass weniger gut bezahlte Angestellte mithelfen mussten, Publikumsfragen und -stellungnahmen im Sinne von IT-Verbänden zu formulieren.
Der findige Amerikaner Gregory Kohs gründete 2006 sogar ganz offen die Firma "MyWikiBiz", um für Unternehmen zum Preis von 50 bis 100 Dollar in der Internet-Enzyklopädie publikumswirksame Einträge zu verfassen. Zwar wurde Kohs daraufhin der Autoren-Status entzogen, jedoch liegt der Verdacht mehr als nahe, dass es sich bei der versuchten kommerziellen Unterwanderung um keinen Einzelfall handelt. Z. B. hat der skandalgeschüttelte deutsche Elektronikkonzern Siemens erwiesenermaßen beim Lebenslauf seines Vorstandschefs Klaus Kleinfeld kosmetische Korrekturen vornehmen lassen.
Edit-War um Merz
Nicht ohne Unterhaltungswert ist auch die Edit-Schlacht, die um Friedrich Merz geführt wird. Eine wichtige Figur hierbei ist der Autor TMFS, nach Eigenangabe Jurist , der seit Oktober 2003 bei Wikipedia mitarbeitet und dessen Interessenschwerpunkte Politik und Geschichte sind. Mit dem Juristen eigenen Fleiß bearbeitet TMFS vor allem mittags und während der Abendstunden bis zu 60 Artikel am Tag, wobei er dem Artikel über den ehemaligen Vorsitzenden der CDU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz besondere Beachtung schenkt. Dieser ist nämlich eifrig umkämpft. Z. B. rief der Appell von Merz, das "rote Rathaus" seines Heimatortes Brilon zu stürmen, garniert mit der respektheischenden Bemerkung, dass sein Großvater Josef Paul Savigni "bis 1937" Bürgermeister der Stadt war, Empörung hervor.
Nazi-Kollaboration oder Klatsch und Tratsch?
Denn Lokalhistoriker sehen in dem Zentrums-Politiker einen Kollaborateur mit den Nazis. Diese"Großvateraffäre" schlug auch bei dem Wikipedia-Artikel über Merz zu Buche. Der Eintrag wurde von TMFS mit der Bemerkung "Klatsch und Tratsch raus" gelöscht und als diese wieder aufgenommen wurde im Wortlaut modifiziert (was dann wieder von einem Alexander Fischer rückgängig gemacht wurde). Weiter löschte TMFS Einträge, in denen zu lesen war, dass Friedrich Merz regelmäßig den Gottesdienst besucht, als Erfinder der "Bierdeckelsteuer" gilt und seine Frau Charlotte Merz Insolvenzrichterin ist. Andere Autoren streiten sich wiederum über die Umbenennung der Überschrift "Nebentätigkeiten" in "Tätigkeiten für Lobby- und Interessensgruppen" oder "Vetternwirtschaft" .
Bessere Transparenz bei Wikipedia
Vor allem wenn man sich den Luxus des eigenen Mitdenkens erlaubt, geht der Vorwurf, die von anonymen Laien geschriebenen Artikel wären schlechthin unseriös, am Ziel vorbei: Im Internet sind die Wikipedia-Artikel eine sinnvolle Informationsquelle. Und dass Skurilles und scheinbar Abseitiges in die Texte mit einfließt, das in seriösen Lexika nicht veröffentlicht würde, muss - siehe Merz - nicht automatisch von Nachteil sein, weil die Einträge so auch Nachrichten beinhalten können, die dem Informationskodex über gehobenen Kreise zuwiderlaufen und trotzdem (oder gerade deshalb) relevant sind.
Schließlich kann man Begriffe auch mit dem ebenfalls unentgeltlichen (aber für den Nutzer umständlicher handhabbaren) Brockhaus-Lexikon oder der Internet- Enzyklopädie "Citizendium" vom Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger (der mit Experten arbeiten will) gegenchecken. Der große Vorteil des derzeitigen Wikipedia-Systems ist, dass sich über die Versionen/Autoren-Leiste der PR-Charakter von Einträgen entschieden leichter nachvollziehen lässt als anderswo. Denn die meisten Zeitungen stellen sich geschickter an als die "Potsdamer Neuesten Nachrichten", die in einer Stellenanzeige direkt nach einem "PR-Journalisten" Ausschau hielten.