"Ein Flugzeug verschwindet spurlos über Berlin"
Seite 2: Transkript. 20. Mai 2022, morgens 8.30 Uhr, Zahnschmerzen, leichter Kater
- "Ein Flugzeug verschwindet spurlos über Berlin"
- Transkript. 20. Mai 2022, morgens 8.30 Uhr, Zahnschmerzen, leichter Kater
- 31. Mai 2022, 11.45 Uhr
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Falck liest. Auf nüchternen Magen.
Aber was ist das für ein Text? Da hat doch jemand was in die Akte geschummelt?
Falck schmeißt wütend das Manuskript hin. Nichts. Dreißig Seiten rein gar nichts. Und der Kaffee ist auch kalt. Erst mal runter zum Späti, Zucker holen und eine Tageszeitung. Schon wieder oder immer noch Streik. Seltene Gelegenheit, die Berliner Zeitung von vor zwei Tagen zu studieren. Nichts ist älter als eine Neuigkeit vom Vorgestern.
Berliner Zeitung. Thema des Tages. Eigener Bericht
Der erst vor 14 Tagen ins Amt berufene Innensenator Enrico Kodde (Bürgerbündnis "Wir sind Berlin") nutzte den Anschlag zu einer ersten Profilierung. Im Gespräch mit der BZ erwies er sich als Freund klarer Worte.
Es zeige sich an den aktuellen Ereignissen, dass die Berliner Politik "durch und durch linksversifft" sei. Sein Vörgänger, der Sozialdemokrat Nüssgen, dem die Parship-Affäre "leider viel zu spät das Genick gebrochen" habe, müsse sich Mitschuld an den derzeitigen Zuständen eingestehen. Kodde werde sich "mit aller gebotenen Härte" dafür einsetzen, diese "Kultur der Lügen Schritt für Schritt rückabzuwickeln". Kodde fordert eine massive und sofortige Erhöhung des Sicherheitsbudgets und die Beseitigung aller rechtlichen Hürden zur Einführung bereits vorhandener Terrorabwehr-Technologien. Diese seien "effizient" und es wäre nicht einzusehen, dass man weiterhin die "Sicherheit der Bürger" opfere, nur um einige Regeln zu schützen, deren Herkunft aus dem "rotroten Sumpf" sie ohnehin fragwürdig erscheinen lasse. Es könne nicht angehen, dass "beherzt auftretende Bürger", die sich für eine saubere Lösung des "zum Himmel stinkenden" Problems stark machten, auf der Basis einer "völlig antiquierten Rechtsordnung", mit der man die heutige Gefahrenlage nicht mehr einfangen könne, beständig kriminalisiert und in ihrem "Elan" gebremst würden. Kodde vertritt die Auffassung, das Erscheinen einer terroristischen Bedrohung im Luftraum über Berlin würde vor unser aller Augen ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der UdSSR der "russischen Scheindemokratie die Maske vom Gesicht" reißen, hinter der sich die "nackte Fratze des Terrors" verberge, das "wahre Antlitz des Kommunismus".
Dies zu erkennen, bedürfe es nur einer mindesten Portion "gesellschaftlicher Vernunft", an der es allerdings der "viel zu Großen Koalition" gebräche. Wenn man unser Land von "hemmungslosem Liberalismus und Multikulturalismus und anderen sozialistischen Infektionskrankheiten" heilen und einer weiteren Eskalation der Gewalt nachhaltig begegnen wolle, wisse man ja, wo die Wahlurnen stünden. Koddes Vorschlag, unter temporärer Aussetzung der in der Gewaltenteilung festgelegten Struktur direkt mit der wehrtechnischen Initiativgruppe "Ettlinger Frieden" zu kooperieren und sogenannte "denkende Projektile" einzusetzen, wird morgen in der Haushaltssitzung des Senates geprüft.
Ein Hindernis könnte darstellen, dass gegen Edmund Tschärpe, den Projektleiter der Abteilung "dP" bei der IG "Ettlinger Frieden" wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt wird - ein Umstand, den Kodde ebenfalls dem derzeit regierenden "extremen Spektrum" zurechnet, das der Wähler (bekanntlich "auf dem linken Auge blind") ermächtigt habe, Steuergelder in Millardenhöhe zu verschwenden.
Nordneukölln, Reuterplatz. 22. Mai 2022
Hans Falck bahnt sich seinen Weg durch den täglichen Auflauf der stocktauben Kinderchauffeusen, deren Solidarität im Straßenverkehr sich radikal auf andere Babboe-Besitzer beschränkt.
Die Gehwege sind mal wieder dicht von zerrütteten Muttis in handgeschneiderten Filzkleidern, die sich mit einem einzigen Kind schon deutlich zu viel aufgehalst haben. Jeder Stauteilnehmer hält einen Babyccino-to-go in der Hand. Falck würgt es im Vorbeigehen vom Geruch erhitzter Milch und heißer Pappe. Bin wohl doch Lactosephobiker jeworden, wa? Er steckt sich aus reinem Selbstschutz eine an und fängt die wütenden Blicke der jungen Frauen auf. Als wäre er ein betagtes Kohlekraftwerk ohne Rauchgasreinigung. Falck kocht angesichts von so viel streng lächelnder Intoleranz. Wenn auch überall immer stärkere Zweifel am Klimawandel als Folge des neoliberalen Lebenswandels laut werden, so bleibt für ihn doch eine tägliche Überschwemmung, die fraglos vom Konsumverhalten getriggert ist.
Falck ertrinkt in einer Springflut von sündhaft teuren, friesischen Lastenrädern. Vorn, wo armselige Fußgänger den Weg freimachen müssen, wenn ihnen ihre Rippen etwas wert sind, trägt das Dreirad ein gewaltiges Rammhorn. Die fein getischlerte Cargobox bietet ausreichend Sitzplatz für die ganze Kita-Crew plus ihre zwölf nagelneuen Ergobags, prall gefüllt mit individualisierten Schlamperboxen. In diesen bipedalen Wunderwerken manifestiert sich für Falck auf eine kaum zu steigernde Weise die verspätete Zeugungskraft und der unbeirrbare Wille zum Selbstbetrug, der so typisch ist für die Mitglieder der "Generation Nachhaltigkeit". Das Einzige, was in solcher Landschaft wirklich blüht, sind die Geschäfte. In der guten, altmodischen Zukunft mit ihren atomaren Flugtaxis und sonnenenergiebetriebenen Materietransmittern werden unsere Nachfahren schmunzelnd zurückdenken an die vor allen Eisläden der Stadt hoffnungslos verkeilten und mit Softdrinks bespatterten Vehikel für bewusste Menschen, deren Carbon-Footprint nur von der Größe ihrer vorgeblichen Scham darüber übertroffen wird.
Ein Anruf bringt Falck auf Trab. Eine zweite Leiche ist gefunden worden, unweit des ersten Tatorts. Gibt es einen Zusammenhang? Zwar hat man hin und wieder mal einen abgesägten Kopf in einer Plastiktüte oder vom Leib getrennte Glieder in öffentlichen Mülleimern in der Hasenheide gefunden. Ansonsten ist das Gebiet trotz seines schlechten Rufs nicht gerade ein Mekka für Gewaltverbrechen.
So viel Zufall, dass es reiner Zufall wäre, dass der zweite Tote keine 200 Meter Luftlinie vom ersten gefunden wird, kann also eigentlich nicht sein. Hektik kommt auf, Zigaretten werden im Gehen ausgedrückt, mit einem Arm schon in der Barbourjacke. Frau Brandt, die erst wenige Minuten zuvor zur Vernehmung in die Wache bestellt worden ist, wird kurzerhand in den BMW mit dem polizeilichen Kennzeichen B-WM 960 verfrachtet und umstandslos zu Hause abgesetzt.
Was die Kollegen von der Streifenpolizei ihnen bei der Ankunft erzählten, klingt genauso abenteuerlich wie unglaubwürdig. Sie stehen in der Lilienthalstraße, auf einem kleinen Waldweg zwischen Schrebergärten und Friedhofsmauer. Das tote Ende der Straße ist mit seinen tief ausgefahrenen Sandbuchten sichtbar beliebt bei müden Lieferwagenfahrern, Liebespärchen und, wie die Kollegen entsetzt feststellen müssen, offenbar auch bei Gesetzeshütern. Sie hätten "sittliche Zuwiderhandlungen" kontrollieren wollen, sagen sie. Doch dann gestehen beide. Sie wollten nur schnell ein Nickerchen halten. Den Aufprall auf ihren Neunsitzer hören beide Beamte nicht. Eine erstaunliche Tatsache, wenn man bedenkt, dass es das Dach des Wagens fast bis zu den Kopfstützen durchdrückte. Die Kripocrew geht wortlos rätselnd um das Fahrzeug herum. Falck fasst zusammen. Was sie wissen, ist wenig. Nichts davon passt zusammen. Falck spuckt aus und zündet sich die nächste F6 am Stummel der letzten an. Ostkraut.
Inzwischen sind Strekel und Schwitzgebel von der Spurensicherung wieder oben in der Wohnung. "Falck, könnense mal eben, wir haben da wat ..." Falck steigt mit den Männern runter ins Verlies. In diesen Berliner Kellern bleibt es ewig 1905. Feuchter algiger Mief, Reichsformat-Ziegel, zu Preussischen Kappen vermauert. Aus den Fugen tröpfelt bis heute der Angstschweiß der Bewohner, die vor dem Bombenkrieg hier unten Schutz suchten und eng gedrängt in den Gängen hockten, immer kurz davor, verschüttet zu werden.
In Keller 28 beleuchtet eine umwelt- und energierechtlich nicht mehr zulässige Glühbirne den aufgebrochenen Verschlag. Der Boden mit Ziegeln ausgelegt, die Steine fast zur Unkenntlichkeit schwarz verschmutzt. Zu Pulver zerfressene Baumrinden vom Anzündholz, gemischt mit fein zermergelten Brikettresten.
Falck hat sich schon immer gefragt, wie die Würmer da unten überhaupt hinkommen. Wahrscheinlich schon im Feuerholz drin, wenns reingeschleppt wird. In der Mitte des Raumes gähnt ein eckiges Loch, sauber ausgestanzt aus dem Kohlenstaub.
Strekel fasst zusammen: "Also, erst kamet uns komisch vor, dass die Spuren vom Brechwerkzeug, also wie soll ick sagen, die Latte war so nach innen, also et sah irjendwie danach aus, als sei die Tür von innen aufjehebelt worn. Kann ja nich sein, oder? Dann waren Spuren von ausgebrochenem Mörtel um die Platte da. War uns erst nicht aufjefallen, vielleicht verrutscht oder so. Aber dann, is nich schlüssich, warum sollte die einjemörtelt jewesen sein, wennse bloss aufm Boden jelegen hat? Wir also die Klamotte hochjehebelt und siehste wat, 'n Schacht mit Jeheimtreppe anne Wand. Falck, was meinense, sin' die von unten jekommen?"
Falck spürt den Sog, der offene Schacht zieht ihn förmlich rein. "Strekel, meinen Sie, Höhenangst, gibts das auch für Tiefe ... oder solln wir mal?"
"Nix für ungut, Herr Kommissar, aber ick bin noch mit meine Verehrteste verabredet heute nachmittag, zum Shoppen und 'ne Molle im Kaiser-Keller anner Friedrichstraße ... da würd ick et vorziehn, dat ick hier oben sichere, während sie ne kleene Expedition unternehm' ..."
Er reicht Falck seine Taschenlampe. Der winkt ab. "Habn Feuerzeug, falzet nötig wern sollte.", schwingt sich über den Rand, denkt, wann werden wir uns wiedersehen und setzt den Fuß auf den ersten Metallbügel der senkrechten Wandleiter.
"Falck?" Er sieht Schwitzgebels Gesicht über dem Rand auftauchen. Die Glühbirne verpasst ihm einen Heiligenschein, der ins Auge sticht. Ein Pülverchen Kohlestaub, das Falck beim Einstieg aufgewirbelt hat, juckt in der Nase.
Schwitzgebel reicht einen dampfenden Thermopappbecher über den Rand, wo auch immer er den so schnell hergezaubert hat.
"Nur wat Kleenet zur Stärkung." Falck zögert, wer weiß, wanns den nächsten gibt und kippt sich die bittere Brühe hinter die Binde.
"Danke, Robert!" Als er den Becher wieder hoch reicht, man will ja nicht den Schacht zumüllen, ist das Licht schon viel angenehmer, intensiver gelb, dennoch milder, weniger brennend.
Der Schluck hat gut getan, als habe Falck neuen Mut gefasst. Schwitzgebel zwinkert ihm verschwörerisch zu. Was hat der denn, so kenn' ich den ja gar nicht. Na, was solls, die Kollegen von der Spusi, immer schön locker bleiben. Der Abstieg beginnt.