"Ein Flugzeug verschwindet spurlos über Berlin"

Seite 3: 31. Mai 2022, 11.45 Uhr

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Je mehr es auf den Juni zugeht, fällt die Temperatur. 15 Grad weniger und das über Nacht. Zwei Tage und die Frostgrenze ist erreicht. Wenn die Berliner in ihren unsäglichen Sommerbekleidungen, Camo-Shorts und FlipFlops, morgens vor die Tür treten, liegt noch Raureif auf den Autodächern.

In der "Destille" herrscht noch das Wetter von vorgestern. So schnell, wie das Klima in die Knie geht, kommt nicht einmal der Austausch zwischen Gastraum und Berliner Luft hinterher.

Ach ja, die gute kühle Berliner Luft Luft, Luft mit ihrem holden Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft … aber Achtung, das Bundesinstitut für Risikobewertung warnt: Berliner Luft kann Spuren von Spatzen, Currywurst und insbesondere größere Chargen eines beliebten synthetischen Fruchtaromas enthalten, das andere Menschen schon wieder ausgeatmet haben.

Dazu passt ein Schild, das Winnie, pensionierter Experte in Desktop- Publishing, einer ausgestorbenen Gestaltungstechnik, entworfen hat:

Einsatzregeln für die Streit-Kräfte am Tresen

  1. wir sind ein authentischer Ort, der niemals schliessen darf. 2. wir haben Geschichten zu erzählen.
  2. wir fordern: Erde zuerst! Dann aber gleich Bier.
  3. wir reden mit den Leuten.
  4. wir verbinden Respekt mit Geschäftssinn.
  5. wir. dienen. Deutschland. durch Umsatz.

Die morgendliche "Destille" ist ein Sammelbecken für illustre Gestalten mit dem Hang zum Gesprächs-Frühstück. Sie nehmen das Thema "Wir werden alle nicht jünger" zum wiederholten Mal durch, unterbrochen nur von den Hustenanfällen der Schwerstraucher. Alle fluchen über eine Plage names "Vaporizer" und die mit Nassdampf verbundenen Gefahren.

Der ganze Laden ist voll mit besonders schönen Exemplaren der "Generation Sitztanz". Aus dem Radio tönt The Clash und die Erinnerungen an mutige Pogotänze sind mit der Verschwörungstheorie verbunden, dass Wirt Norbert kürzlich Defibrillatoren in die Bassboxen eingebaut habe.

Zur Zeitung reicht er seit einigen Monaten schon Einweg-Lesebrillen. Gratis-Hörgeräte gibt es erst nach dem dritten Bier. Bölkendes Lachen mischt sich mit Geräuschen von chronischem Katarrh.

Das ist so der Tenor, bevor es wieder um Politik geht. "Hans, ehrlich gestanden, ich krieg' da kein Sinn rein, in was Du mir da erzählst."

Irene, die sympathische Säuferin, steckt sich noch eine an, obwohl es genügen würde, tief einzuatmen. Am Vormittag schon zum Schneiden dick, die Luft in der Kneipe.

Falck hat Pano dabei. Er ist auf dem Rückweg vom Hundegewahrsam der Bundespolizei noch mal kurz eingekehrt, um sich die verdiente Portion Bewunderung abzuholen. Ach, was für ein stolzer Kerl, und so wohl erzogen. Pano schaut unruhig hin und her. Mit derart vielen psychisch instabilen Existenzen auf einem Haufen war er selten konfrontiert. Der tiefsitzende polizeitrainierte Instinkt lässt ihn unbequem sitzen, den Hintern eine Schattenbreite über dem Boden, mit zitterndem Gemächt.

Auf Irenes Tabakpackung steht in einer Art zu dick geratenem Traueranzeigenrand "Rauchen schädigt die Spermatozoen". Als Fürsorgepflichtiger liest Falck den Satz nun völlig neu. An seine eigenen hat er nie gedacht. Dass passiv rauchende Rüden mit betroffen sind, kommt ihm heute erstmals in den Sinn.

Einem klügeren Kopf wäre das sicher schon früher aufgefallen.

Irene schaut Falck an aus Augen, man fragt sich, wie es möglich ist, dass ein Gehirn hinkriegt, derart viele rote Äderchen erfolgreich auszublenden. Aber erstens weiß keiner, wie für Irene das Gesicht von Falck aussieht in diesem schleimhautreizenden Dunst. Und zweitens, das viel größere Wunder: Gesetzt den Fall, dass in ihren Augen von dem Gesicht halbwegs das übrig bleibt, was auch die anderen zu erkennen meinen, wenn sie Falck ansehen, dann kann es sicher kein großer Aufwand sein, wenn sogar Irenes Gehirn das hinbekommt.

Falck hat keine Restkapazität für wahrnehmungspsychologische Detailbetrachtungen. Seine gesamte Energie wird von der Anstrengung absorbiert, die Fakten seines Falles so zu sortieren, dass sein Testobjekt Irene, die für ihre unkalkulierbar auftretenden, irritierend tiefsinnigen Einlassungen berüchtigt ist, halbwegs mitschneidet, wo er gerade feststeckt. Denn eine unkonventionelle, packende Idee ist genau, was ihm jetzt fehlt.

Die F6 sind längst alle. Irene schiebt ihm den Drehtabak rüber, auf dem neben der Traueranzeige ohne erkennbaren Grund das handflächengroße Foto eines aus dem Rachen gerissenen tropffeuchten Zäpfchens aufgeklebt ist, das eindeutig wegmusste, weil es am Rand neben einer faulig-schwarzen Brandstelle schon weißlich-cremigen Schimmel ansetzt. Wenn Knitter und Plasteschutzhülle das Bild nicht völlig verändert haben, liegt das Zäpfchen neben einem Babygesicht und wurde den rauen Bruchkanten nach zu urteilen mit stumpfem Werkzeug entfernt, weswegen das Baby entsetzt dreinschaut. Ein Lob auf die europäische Gesundheitspolitik! Nur die Hartgesottenen rauchen mit Genuss angesichts solcher Bilder, aber der ganze Kontinent muss mitleiden.

Falck hat sich die ganze Sache wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen und kommt nun zu dem Schluß: "Irene, ja, danke …", Falck nimmt sich einen Filter aus der Tüte.

"Irene, das kannst Du auch gar nicht, da Sinn reinkriegen. Sind schon größere Leuchten dran gescheitert als wir beiden. Weil, da is' nämlich keen Sinn drin. Weil nämlich jeder hier macht, was ihm selber grad am meisten nützt."

Er denkt kurz nach, ob er das besser noch mal in Klartext herausgibt. "Was mir dabei jetzt mal klar geworden ist, Irene, das ist, dass Du solange graben und schnüffeln und kombinieren und durch Glück rausfinden kannst, was Du willst. Du wirst eh nie wissen, was die da oben, die am Drücker sind, wirklich vorhaben. Das Einzige, was Du sicher weißt, ist, dass das, was Du rausfindest, nicht alles ist. Nicht alles ..."

Er macht eine Betonungspause und nickt wie ein Vogel vor dem Durchstarten. "Und dieses Geheimnis, das ist eigentlich Macht. Das ist, was sie sich sorgfältig bewahren. Denn ohne das Geheimnis könnten sie gar nicht regieren."

Er klopft die Selbstgedrehte mit dem Filter auf den Tresen. Der Monolog ist noch nicht zu Ende. Er verfällt wieder ins Berlinern vor Aufregung. "Unser Staat, also was die Sozialgemeinschaft angeht, ist denen total egal. Ha' ick doch schon tausendmal jesagt. Wat hier wird, kümmert keen Hund. Und wenn du wat aufdeckst, pfeifen sie dich zurück. Und ick ermittel' und ermittel' und ermittel' mir'n Wolf und denk', da ha' ick wat und det könnt eene Spur sein oder wat und dann kommt raus, wars' aber nich', da hat wieder eener wat uf Rechnung von den Fall klar jemacht, 'ne alte Rechnung beglichen, vastehste, und det mit inne Akte jemogelt. Da will natürlich keener, det ick da rin rumwühl."

Irene: "Nee, versteh' ich nicht. Muss ich?"

Irene erkennt blitzartig ihren Fehler und überlegt fieberhaft, wie sie Falck davon abhalten kann, jetzt alles noch mal "ganz anders" zu erzählen. Doch die beste Methode ("Noch'n Bier für den Herrn von der Kripo hier") zieht heute nicht, denn sein Glas ist kaum angetrunken und der Schaum längst weg.

Falck: "Is' jut, Irene, is' nur, wenn ick det vorher jewusst hätte, ick wär' keen Beamter jeworden. So bleibste ewich der Fußabtreter, da kannste tun oder lassen, waste willst ... ick bin ja man bloss son kleener Piepel in dem Laden, vastehste?"

"Ich heul' gleich, Hans", versucht es Irene, ziemlich erfolglos, wie sie gleich merkt. Norbert, der Wirt der Destille, hat die letzten Sätze mitgeschnitten und solidarisiert sich mit ihr über expressive Gesichtsmimik ... wennste Hilfe brauchst ...

"Nee, ick wär' keen Beamter jeworden, wenn ich dit jeahnt hätte, wie sinnlos dieser Kampf ist, unterbezahlt und ohne jede Wirkung, für was engagier' ick mich denn hier, für wat mach' ick mich kaputt jeden Tag?" sinniert Falck weiter, am Rande der Endlosschleife, in die Biertrinker auch nüchtern so gern geraten, "wär' ick wirklich nich', nee, nie un nimmer, muss bekloppt gewesen sein. Wär' besser in die freie Wirtschaft jegangen, mein eigner Boss jewesen. Wozu dit allet? Aba nu isset durch. Nee, wirklich, einfach durch, komplett im Arsch, der janze Laden. Statt dass ich wenigstens schön verdiene an dem Untergang, muss ich hier gerade mal mit Mindestlohn ausgestattet, täglich in den Abgrund gucken."

Was er mit "Abgrund" meint, sagt er nicht, aber alle sehen ihm an, dass er etwas ganz Bestimmtes damit meint, aber noch nicht bereit ist, damit herauszurücken.

"Solln wa'n Doktor holen?", schaltet sich Norbert ein und knallt mit Schmackes ein leeres Likörglas auf den Tresen. Bevor er den Selbstangesetzten aus dem Kühlfach angeln kann, hält Falck die flache Hand über den Glasrand zum Zeichen, dass er die Sorgen mit Gespräch bekämpfen will … auf die Berliner Art.

Der Neue, eigentlich auch schon ein alter Knacker, mit Schnauz und schicker grauer Wollstrickjacke, hält sein kaum angetrunkenes Bier fest und setzt an, etwas zu sagen. Aber wie immer labern alle anderen über ihn hinweg.

"Nun lass' doch mal Ludwig, er wollte euch wat sagen zu Abgrund, oder Ludwig?" ergreift Norbert Partei für den freundlich zurückhaltenden Gast, mit dem er neulich frühmorgens, als die anderen noch nicht da waren, ein gutes Gespräch über sein Steckenpferd Stalin hatte.

Der Neue holt erneut Luft, doch bevor er etwas sagen kann, ist Falck schon wieder dran: "Norbert, Du hast jut reden. Hier in Dein kleenet Universum ist ja allet bestens jeregelt. Ick sach mal so: Hier biste Herr der Lage. Aba da draußen, da tobt 'n Kriech. Du machst dir keene Vorstellung. An welche Tür du ankloppst, is' ejal, kaum machste nur eenen Schritt vor, schon stehste einm uffe Zehen rum. Et is schlimmer wie in'n M41. Wenijer Kinderwagen, aber jenauso verkeilt. Jeht weder vor noch zurück. Kiek' ma, ick kost' die ja ne Stange Jeld je'n Tach. Und wat ham die mich nun für einjesetzt? Dat ick nüscht raus find' und sie die Sache beruhijt einstellen können? Det kann doch die Natur der Dinge nach nich wahr sein, oder spinn' ick? Is' aber so. Is' aber so."

Zur Bekräftigung pocht er mit dem Mittelknöchel des kleinen Fingers auf den Tresen, die Betonung vorn auf "is'".

Das Streichholz, das Irene ihm hinhält, bläst er aus, ohne zu ziehen, so schwer nimmt ihn die Sache mit.

Falck: "Von wegen erst Privatisierung dann Digitalisierung der Behörde. Et bleibt, wie et war: Am Ende der Informationskette sitzt een janz normaler Anjestellter mit sein schlechtet Jewissen. Die janze moderne Ermittlungs- und Erkenntnistechnologie, die wa jetz anjeschafft gekriegt ham, nutzt der nur zum Spuren vertuschen - dit allerdings aufs höchste Niveau. So isset nun mal. Alle wolln bloß Ruhe und 'n Schlußstrich untern Fall. Bloß nichts rausfinden. Gibt nur Ärger. So und nich anners. Ick find' da sonst keene andere Erklärung für."

Falck guckt zu Ludwig rüber, der ihn zustimmend anblinzelt. Wir werden doch alle von der Politik verraten. Als sein Mund sich zum Sprechen öffnet, legt ihm Falck schnell den Satz hinein:

"Ick bin der Idiot, den se innet Leere loofen lassen. Der Depp vom Dienst, wo die andern von sagen: Jeben s'et Falck, da is et jut aufjeho'm, da kommt nüscht zurück. Lassen mich am steifen Arm vahungern. Oder?"

"Is ja ekelhaft!" Norbert als feinsinniger Kneipenpsychologe versucht es mit Bestätigung - und einem Kaffee aufs Haus. Den frisch Aufgebrühten gießt er aus einer in die Jahre gekommenen Plastekanne mit gesplitterter Schnaupe in einen Jumbobecher und schiebt ihn zu Falck rüber. Dampf kringelt über dem Pott.

"Nobi, seit wann trinkst Du Kaffee?"

Mit Falck ist in dem Zustand wirklich rein gar nichts anzufangen.

Ab 16. Dezember 2020 befindet sich die Auflage (1500 Stück) in der Auslieferung.

Die Erstausgabe ist wertvoll ausgestattet mit zwei farbigen Lesebändchen, sowie farbigem Vor- und Nachsatz, wird auf 70 g Munken Papier gedruckt, gesetzt aus der EB Garamond, und enthält 5 s/w Abbildungen. Der Vorzugsausgabe von 100 Stück liegt ein gestempeltes und nummeriertes Formblatt bei.

Der Roman kann ab heute in der Buchhandlung Otherland bestellt werden: service@otherland-berlin.de

Stimmen:

Dicht geknüpft, als Teppich wäre er ein teures Stück.
Marie-Luise Scherer

Ich halte das buch für einen gut durchkomponierten sozial­kritischen bestseller, wobei ich zugeben muß, daß ich mich mit bestsellern nicht auskenne.
Bert Papenfuß

Ein wilder Ritt durch Science-Fiction, Dystopie und Politik … Ich habe beim Lesen viel gelacht.
Margaux de Weck

Ich müsste lügen, wenn ich schriebe, daß ich alles verstanden hätte.
Andreas Rötzer

Kurz gesagt: famos.
Oleg Jurjew