"Ein Hoffnungsträger, der nur enttäuschen kann"

Seite 2: "Der deutsche Digitalisierungsdiskurs ist eine Angstdebatte"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gut, "Industrie 4.0" war in gewisser Weise ein Hype. Aber denken Sie nicht, das im Kern daran etwas Wahres ist?

Matthias Becker: Nein, eigentlich nicht. "Industrie 4.0" ist ein Beispiel für geschicktes Agenda-Building, wie es im Marketingjargon so schön heißt. Die großen deutschen Hersteller von Automatisierungstechnik, industriell genutzter Software und Sensorik wollten mit diesem Schlagwort der Kundschaft vermitteln, es sei jetzt höchste Zeit, auf den Digitalisierungszug aufzuspringen - und ihre Produkte zu kaufen! - weil dieser Zug angeblich sonst ohne sie abfährt und sie in der Konkurrenz ins Hintertreffen geraten. Dieser Appell zielte besonders auf die kleineren und mittleren Industriebetriebe Deutschlands. Für die großen Konzerne - ich nenne als Beispiel mal Siemens oder Bosch - stellen sie einen sogenannten Heimatmarkt dar, den sie brauchen, um in der internationalen Konkurrenz zu bestehen.

Die wesentlichen Wettbewerber Deutschlands in diesem Bereich sind einerseits China - wo bekanntlich ein großer Teil der weltweiten industriellen Fertigung stattfindet, übrigens auch auf immer höherem technischen Niveau - und andererseits die USA - wo bekanntlich die dominierenden Datenhändler und Technologieunternehmen sitzen, die Googles, Microsofts, Apples und Amazons.

Übrigens bringt Japan gerade die Digitalisierungsoffensive "Gesellschaft 5.0" auf den Weg. Ich bin gespannt, ob die deutsche Industrie das auf sich sitzen lassen wird oder doch den großen Sprung zur "Industrie 10.0" wagt! Aber Spaß beiseite, "Industrie 4.0" wurde enorm erfolgreich, sehr wahrscheinlich erfolgreicher, als es sich seine Erfinder sich im Jahr 2011 ausgemalt hatten. Mittlerweile ist alles 4.0 - die Arbeit, die Organisationen, die Pflege, die Liebe, die Haustiere … Dieser durchschlagende Erfolg beruhte darauf, dass die Medien und Gewerkschaften den Ausdruck sofort aufgriffen.

Politisch betrachtet ist der deutsche Digitalisierungsdiskurs eine typische "Ruckdebatte", die immer gleichzeitig auch Angstdebatten sind: Wir Deutsche müssen uns ranhalten und fit machen - das heißt: vorn dabei sein bei der technischen Entwicklung - weil unser Wohlstand auf unserer Weltmarktdominanz beruht. So lautet die implizite, ziemlich fragwürdige Logik.

"1930 prophezeite Keynes die 15-Stunden-Woche"

Nun diskutiert die Öffentlichkeit ja nicht nur in Deutschland über die Folgen der Digitalisierung. Die Studie von Carl Frey and Michael Osborne beispielsweise, der zufolge in den nächsten zwei Jahrzehnten die Hälfte der amerikanischen Arbeitsplätze wegfallen wird, hat weltweit Besorgnis ausgelöst. Wird nicht doch zunehmend menschliche Arbeitskraft durch Technik ersetzt?

Matthias Becker: Menschliche Arbeitskraft wird immer schon durch Technik ersetzt. Der amerikanische Gewerkschafter Kim Moody scherzte kürzlich, er habe zuhause ein ganzes Regal voller Bücher, die das Ende der Arbeit vorhersagen, und ich vermute, die meisten Exemplare darin sind recht alt. Im Jahr 1963 schickte eine Gruppe Intellektueller ein Memorandum an den damaligen Präsident Lyndon B. Johnson und warnte ihn, die kybernetische Revolution führe zu einem System von nahezu unbeschränkter Produktivität, das immer weniger Arbeit benötigt. 1957 erwartete der Soziologe Heinrich Popitz, dass die Automatisierung den Anteil der Menschen am Produktionsprozess so erheblich vermindert, dass nur noch wenige Stunden am Tag gearbeitet werden braucht.

Noch früher, im Jahr 1930, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, prophezeite John Maynard Keynes in seinem Aufsatz Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder die 15-Stunde Woche. In seinem Essay spricht er von einer technischen Arbeitslosigkeit, die entstünde, wenn wir schneller Wege finden, um die Arbeit zu rationalisieren, als wir andererseits neue Anwendungsmöglichkeiten für die Arbeit entdecken. Natürlich ist das theoretisch denkbar, aber denjenigen unter uns, die arbeiten müssen, um zu leben, bleibt ja gar nichts anderes übrig, als unsere Arbeitsfähigkeit zu verkaufen.

Denken Sie nicht, dass angesichts der jüngsten Erfolge der Künstliche Intelligenz eine kritische Grenze erreicht haben, weil der menschliche Beitrag zur Produktion immer kleiner wird?

Matthias Becker: Die technischen Fortschritte, von denen gegenwärtig so viel die Rede ist, geben gewaltige Freisetzungen einfach nicht her. Weder das avancierte Maschinenlernen, noch die Fortschritte in der Sensorik und Robotik taugen dazu, in den Werkshallen und Büros massenhaft "Personal abzubauen", wie es so unschön heißt.

"Programmgesteuerte Maschinen können nur Dienst nach Vorschrift"

Glauben Sie das wirklich?

Matthias Becker: Ja, uns steht in Wirklichkeit kein großer Automatisierungssprung bevor. Ich mache im Moment häufiger Lesungen, um mein Buch vorzustellen, und diese Behauptung trifft im Publikum oft auf Unglauben - aber dort, wo die Zuschauer selbst arbeiten, an ihren eigenen Arbeitsplätzen, bestätigen sie unfehlbar, dass ihnen die Digitaltechnik in Wirklichkeit kaum Arbeit abnimmt. Das Kernproblem jeder Automatisierung ist Standardisierung und Modularisierung. Computer, oder allgemein: programmgesteuerte Maschinen können nur Dienst nach Vorschrift.

Die Unternehmen brauchen aber durchaus mitdenkende Mitarbeiter. Maschinenlernen, Mustererkennung, künstliche neuronale Netze und so weiter erweitern zwar die Möglichkeiten der Programmsteuerung und machen sie flexibler. Von den universellen Fähigkeiten und Anpassungsfähigkeit der menschlichen Arbeitskraft sind sie dennoch weit entfernt, da müssen die Maschinenlehrer ihre Algorithmen noch eine ganze Weile weiter tweaken.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.