Ein Nachruf auf die Hypertext-Bewegung
Mit einem Ausblick auf die Rolle der Literatur im Zeitalter ihrer Digitalisierung
Am Anfang war das Wort, auch im Cyberspace. Lange vor den Grafiken und bunten Bildern jagte simpler, schwarzweißer ASCII-Text durch die Netze. Bis heute dominiert Schriftliches in der Online-Kommunikation, selbst auf den zwei- bis dreihundert Millionen Seiten des grafischen World Wide Web. Dieser Umstand hat viele Kritiker - zumal solche, die ohnehin im Kampf gegen die verhaßte Bilderflut alle Hoffnung auf die Schrift setzen - dazu verführt, im Internet ein Textmedium zu sehen, das mit den traditionell geringgeschätzten "Bildern und optischen Knall-Effekten" (Die Zeit) wenig im Sinn habe. "Das geschriebene Wort bleibt nicht nur erhalten", schrieb Paul Saffo vom Institute for the Future bereits 1993 in der zweiten Nummer von Wired, "es wuchert wie wilder Wein an den Grenzen der digitalen Revolution. Die Explosion des E-mail-Verkehrs bedeutet den größten Zuwachs an Briefschreiberei seit dem 18. Jahrhundert. Die avanciertesten Infonauten der Gegenwart überfluten den Cyberspace mit Gigabyte auf Gigabyte von ASCII-Reflexionen."
Damals waren weltweit gerade mal drei Millionen Computer ständig mit dem Internet verbunden, und nur knapp 30 Millionen Menschen nutzten das neue Medium. Inzwischen, sechs Jahre später, sind es bald 40 Millionen Host-Computer, über 130 Millionen Menschen und darunter auch ein paar deutsche Sprachwissenschaftler. Die stellten Anfang 1999 bei ihrer 21. Jahrestagung daher verwundert dasselbe fest wie einst Paul Saffo: "Früher konnte man Jugendliche nicht dazu bewegen, einmal im Jahr eine Karte an die Tante zu schicken. Heute schreiben sie am Computer wie die Weltmeister."
Zwischen Hype & Hypertext. Eine Erfolgsgeschichte
Nicht nur der alltägliche Schriftverkehr, auch die Literatur migrierte in den Cyberspace. Und natürlich blieb es genauso wenig wie im Falle der anderen Künste dabei, daß die Netze lediglich als besserer und billigerer Vertriebsweg für analoge Werke genutzt wurden. Das Distributionsmittel wandelte sich schnell zu einem Produktionsmedium, das der Literatur Ausdrucksmöglichkeiten erschloß, die ihr unter analogen Bedingungen nicht zur Verfügung stehen.
Zentrales ästhetisches Mittel ist dabei Hypertext. Das Verfahren, Textpassagen untereinander durch Software-Links netzartig zu verknüpfen, hatte Ted Nelson Mitte der sechziger Jahre, als an ein ziviles Internet noch nicht zu denken war, im Rahmen des Xanadu-Projekts mit der Absicht konzipiert, das digitalisierte Wissen der Menschheit effizienter zu organisieren. Fast ein Vierteljahrhundert später begannen junge Autoren, per Hyperlinks literarische Gebilde zu erzeugen, die aus dem ausbrachen, was sie als das Gefängis der Linearität empfanden. Die hochgelobten Pionierleistungen des Genres sind samt und sonders englischsprachig: Michael Joyces "Afternoon" (1987, veröffentlicht 1989), Stuart Moulthrops "Victory Garden" (1991), Robert Coovers "Hypertext Hotel" (1994), Shelley Jacksons "Patchwork Girl" (1995), Geoff Rymans "253" (1997) und Mark Amerikas "Grammatron" (1997). Was auf deutsch entstand - die Pegasus-Website gibt mit ihrem Archiv einen guten Überblick -, hinkte ein paar Jahre hinterher und neigte in der Regel zum Epigonalen.
Gemeinsam ist den Vertreter der Hypertextliteratur, daß sie ihre Geschichten nicht länger von Anfang bis Ende durcherzählen. Ihre Leser sollen nicht mehr passiv dem vorgegebenen Verlauf folgen müssen. Statt "fertiger Texte" offerieren die Hypertext-Adepten untereinander verknüpfte Textbausteine, sogenannte Lexias. Der "Leser", der sich durch dieses Gewebe portionierter Textpassagen einen je eigenen Weg klickt, wird idealiter zum Ko-Autor seiner narrativen Erfahrungen.
So gering die Zahl der Hyperfiktionen bis heute ist, die Bewegung ist dennoch eine Erfolgsgeschichte; nicht am Markt, wohl aber bei den literarischen Institutionen. Die nämlich haben ihr anfängliches Erschrecken überwunden und sich zu einer hektischen Umarmung der neuen literarischen Avantgarde verstanden. Sympathetische Kritiker und Literaturwissenschaftler wie George P. Landow interpretieren die Durchsetzung von Hypertext als revolutionäre Veränderung, "nicht weniger radikal als jene, die Gutenbergs Buchdruck bewirkte".
Hypertext-Experimente sind in die Norton Anthology of Postmodern American Fiction aufgenommen worden, was einer Kanonisierung gleichkommt, und sie werden großzügig subventioniert, vom amerikanischen National Endowment of the Arts bis zur schweizerischen Migros-Kulturstiftung. Allein das Arts Council of England stellte 1998 Hunderttausende für Writer's in Residence-Programme und Online-Workshops zur Verfügung. Computerfirmen wie Apple und IBM, Verlage wie die New York University Press und Zeitschriften wie die Zeit finanzieren einschlägige Veranstaltungen und Wettbewerbe.
Für die vergleichsweise bereitwillige Annahme der Hypertext-Literatur durchs literarische Establishment darf man einen doppelten Grund vermuten: Ihre schiere Existenz appelliert an die Vorlieben und Vorurteile sowohl der kulturkonservativen wie der postmodernen Fraktionen. Auf die einen, die traditionalistischen Bilderfeinde, wirkt die Vorstellung beruhigend, daß die als Bedrohung empfundenen Entwicklungen im Bereich der neuen Medien von einem Literarisierungsprozeß begleitet und abgefedert werden: Die surfenden Kinder lesen und schreiben wieder!
Die anderen wiederum, die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, die nicht nur an amerikanischen Universitäten den Ton angeben, begeistert an den hypertextuellen Produkten, wie brav da ihre Lieblingsthesen literarisch ausgemalt werden: Der patriarchalische Autor wird entmachtet, die rigide autoritäre Linearität des Textes destabilisiert, die Einheit des monolithisches Werks aufgelöst, der Kreativitätsprozeß enthierarchisiert, der passive Leser demokratisch zum Mitschöpfer und Sinn(ko)produzenten befördert ... Hypertexterzählungen, schreibt Landow, seien für die postmoderne Literaturkritik "ein Laboratorium, in dem sich deren Ideen testen lassen".
Die Harmonie, darf man vermuten, ist prästabiliert, so auffällig scheinen die Manifeste und Selbsterklärungen der Autoren aus postmodernen Literaturtheorien zusammengeklaubt. Und ebenso auffällig erinnert ihr revolutionärer Gestus an die Auftritte klassischer Avantgarden. Für nichts weniger als den Tod der Tote-Bäume-Literatur streitet man - für das ästhetische und bald auch praktische Ende von linearen, nicht-interaktiven Werken, wie es bereits 1992 von Robert Coover den Lesern der New York Times Book Review unter dem Titel "Das Ende der Bücher" verkündet wurde. Seine Kernthese: daß der Roman, "wie wir ihn kennen, an seinem Ende angekommen ist".
Bei einem einschlägig geförderten Treffen 1998 in New York gingen die Organisatoren gar so weit, der Ansicht vom Ende der tradierten Literatur dadurch Nachdruck verleihen zu wollen, daß man prominente Repräsentanten der "Tote-Bäume-Lit" wie Norman Mailer oder George Plimpton in effigie verbrannte. Das natürlich war nur ein weiterer, beschränkt origineller Beitrag zum kulturgeschichtlich bekannten Mix aus Todesdrohungen, Todeserklärungen und nachfolgenden Selbstinthronisierungen, der die Heraufkunft neuer Medien und Kunstrichtungen seit rund zweihundert Jahren zu begleiten pflegt; seit eben der akzelerierende technische Fortschritt unablässig neue Mittel zur Erzeugung und zur Reproduktion visueller und akustischer Effekte erzeugt.