Ein Nachruf auf die Hypertext-Bewegung

Seite 2: Avantgarde und Selbsttäuschung. Über eine moderne Tradition

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So begierig und problemlos die neuen Mittel meist in der künstlerischen Praxis aufgegriffen werden und so nachhaltig sie die tradierten Erzählweisen verändern oder ganz neue Effekte initiieren, so widerwillig und problembeladen verläuft in der Regel die zeitgenössische Selbstverständigung über ihre ästhetischen Möglichkeiten und sozialen Konsequenzen. Beobachten läßt sich von Anfang an - sagen wir, seit der Erfindung der Daguerreotypie - und bis zum heutigen Tag in diesen Debatten eine hartnäckige Insistenz auf einem simplen, sequentiellen Erklärungsmodell, bei dem Neues stets das Alte zu vernichten droht.

Der Siegeszug der Fotografie mußte das Ende der Malerei bringen. Das Kino versetzte dem Roman und dem Theater den Todesstoß. Der Schallplattenspieler entzog Oper und Konzertkultur die Existenzgrundlage, das Radio tat dasselbe auch für die Schallplatte. Und das Fernsehen, das mächtigste Massenmedium der industriellen Epoche, gab so gut wie jeder anderen Kunstform den Rest, nicht nur der Zeitung, dem Radio und dem Kino, mit denen es direkt konkurrierte, sondern zugleich noch all den anderen Medien und Genres, die unerwarteterweise ihre diversen Todeserklärungen um Jahrzehnte überlebt hatten. Theater, Oper, Roman - nun endlich mit dem Fernsehen schlug ihre letzte Stunde, in diesem Punkt waren sich entsetzte Kulturkonservative und verzückte TV-Bosse mit Marshall McLuhan einig.

Entweder oder, entweder das Alte oder Neue, entweder die Tradition oder die Avantgarde - es liegt auf der Hand, daß diese Sicht auf die Entwicklung der Künste nach dem Ersatz-Modell des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts funktioniert. Denn in der Tat falsifizieren neue Theorien über die materielle Welt, die mit den gewonnenen Daten besser übereinstimmen, ältere Theorien ein für alle Mal und treten folgerichtig an ihre Stelle. Dasselbe stimmt weitgehend für die praktische Anwendung dieser Erkenntnisse, für bessere Kommunikations- und Transporttechniken sowie für innovative Produktionsverfahren.

Gleiches für die Evolution der Künste anzunehmen, ist verführerisch. Daß das Neue entweder das Alte ersetze oder aber scheitere, war denn auch über weite Teile des 20. Jahrhunderts die selbstverständliche Logik der Avantgarden wie ihrer Gegner. Die Geschichte der Medien und der Künste ähnelt in solchen Denkfiguren ein wenig den Schaubildern, die in Schulbüchern die Evolution des Homo sapiens illustrieren sollen - als aufwärtsgewandten Marsch des Fortschritts.

Selbst die biologische Evolution ist jedoch kein Prozeß simpler diachroner Ersetzung. In ihr herrscht Adaptation, deren hervorragendes Ergebnis nicht Auslöschung von Arten, sondern synchrone Diversifikation ist, die Besetzung diverser Nischen durch hochspezialisierte Lebensformen. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Reich der Meme nicht von dem der Gene. In beiden herrscht das Gesetz der Adaptation. Bisweilen, wenn ein Medium dasselbe erheblich effizienter zu leisten vermag, kann es tatsächlich andere, ältere Formen vollständig ersetzen. Die Camera obscura, die Daguerrotypie, das Panorama, der Stummfilm oder das Schwarzweißfernsehen gehören zu den ausgestorbenen Medien und Techniken, um deren Bewahrung sich das von Bruce Sterling und Richard Kadrey angeregte "Dead Media Projekt" im WWW bemüht.

Extinktion ist jedoch die große Ausnahme. Zumeist ersetzen neue Medien oder bahnbrechende Erweiterungen bestehender Medien die alten Formen keineswegs. Nicht diachrone Abfolge, sondern synchrone Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten ist die Regel; wobei allerdings einst dominierende Kunstformen an den kulturellen Rand rücken mögen, aus dem Rampenlicht der Massenkultur in ästhetische Nischen. So erging es beispielsweise der Portraitmalerei nach der Durchsetzung der Schwarzweißfotografie, dem Theater nach der Durchsetzung des Kinos, der Schwarzweißfotografie nach der Durchsetzung der Farbfotografie, dem Kino nach der Durchsetzung des Fernsehens. Diese Kunstformen und Medien überlebten, wenn auch mit eingeschränkter Breitenwirkung, weil sie Effekte und Erfahrungen offerierten, über die das jeweils Neue nicht gebot und die einem Teil des Publikums wichtig waren.

Als Agenten dieser unablässigen Kulturkämpfe, in deren Verlauf ideologische Diskurse, individuelle und kulturelle Obsessionen, große und kleine Erzählungen in neue Kommunikations- und Ausdrucksmedien transportiert werden, fungieren seit Anbeginn bürgerlicher Zeiten Angehörige der künstlerischen Avantgarden. Sie sind im ästhetischen Bereich die early adopters. Sie brechen zuerst mit den etablierten Medien und Konventionen, adaptieren ihre ästhetischen Interessen der neuen Technik und entwickeln dabei eine Formsprache, die wiederum die Möglichkeiten dieser neuen Medien erweitert. Damit bereiten sie der Mehrheit einen Weg, der Mehrheit ihrer Künstlerkollegen wie der Mehrheit des Publikums.

Selten allerdings fand, was der Avantgarde nachfolgte, deren Gefallen. Denn fast nie machten die Massen von den neuen Medien jenen Gebrauch, der den Pionieren vorschwebte. Die unvermeidlichen Veränderungen beim Eintritt der gerade noch avantgardistischen Experimente in den künstlerischen Mainstream oder gar in die Massenkultur werden gerne als Entwertung beschrieben, als Kompromittierung, als verderbliche Kommerzialisierung. Unter historischer Perspektive scheint das ein Vorurteil. Denn die erste Beobachtung, die jeder macht, der einen Blick zurück in die Geschichte der Medien wirft, ist die befremdliche Unfähigkeit der Zeitgenossen und gerade auch der zeitgenössischen Avantgarden, die spezifische Unreife der jeweils neuen Medien zu verstehen.

Auf der einen Seite nämlich bieten sie genuin Neues, Techniken, die zuvor nicht existierten, ästhetische Effekte, die bis dato keine andere Kunstform zu erzielen in der Lage war. Auf der anderen Seite jedoch leiden sie unter ihrer Unfertigkeit, unter Phänomenen des Übergangs, momentanen Begleiterscheinungen, die sich lediglich technischer Unterentwicklung schulden, einem Mangel an Bandbreite, die der evolutionäre Prozeß bald schon beseitigen wird.

Die Zeitgenossen neigen nun dazu, diese akzidentiellen Mängel und die wirklich revolutionären Elemente durcheinanderzubringen. Ein Beispiel dafür geben die Varianten des Streits um die Farbe, die neuen visuellen Medien anfangs oft fehlt. Teils wurde dieser Mangel als unüberwindbarer Nachteil beklagt - etwa der Fotografie gegenüber der Malerei; teils wurde er als stilisierende ästhetische Errungenschaft hochgelobt- etwa des Schwarzweißfilms gegenüber der bunten Realität selbst. In beiden Varianten aber diskutierten die Zeitgenossen eine vorübergehende Begleiterscheinung so, als stellte sie ein kategoriales Kennzeichen der neuen Kunstübungen dar.

Gleich ihren Vorgängern ist auch die Cyberavantgarde der Gegenwart vor Selbsttäuschungen dieser Art nicht gefeit. Wie aber lassen sich die kategorialen und die akzidentiellen Elemente neu entstehender Kunstformen besser unterscheiden? Konkret: Wie läßt sich beurteilen, was an den Ideen und Werken der Hyptertext-Bewegung zukunftsträchtig ist und was nicht?

Hypertextliteratur & Stummfilm. Ein vergleichender Rückblick

Die Entwicklungsgeschichte eines anderen ehemals neuen Mediums - des Films - mag helfen, von den Irrtümern und Fehlern derjenigen zu lernen, die vor uns kamen und ähnliche Fragen zu beantworten hatten. Im Zentrum der zeitgenössischen Debatten, die den Siegeszug des Stummfilms begleiteten, standen zwei seiner auffälligsten ästhetischen Kennzeichen. Da war zum einen die Montage. Es gab wohl keinen Kritiker, der in ihr nicht ein entscheidendes Element erkannte, das den Film zu einer neuen, einzigartigen Kunstform machte. Das zweite Element, um das die kritischen Debatten kreisten, war der Umstand, daß der Film stumm war und sich der Schrift bedienen mußte, um seine Geschichten zu erzählen und um die Dialoge seiner Charakteren zu vermitteln.

Nun wissen wir inzwischen, daß die Montage in der Tat eine ästhetische Basis-Errungenschaft des Films ist, die ihn erst von einem reinen Aufzeichnungsmedium zu einer Kunstform macht. Wir wissen aber auch, daß der Stummfilm nicht stumm war, weil das einzigartige künstlerische Effekte ermöglichte, etwas, wonach Künstler schon immer gestrebt hatten und wonach sich das Publikum sehnte. Die Filme waren schlicht stumm, weil die Tonspur noch nicht erfunden war.

Viele Zeitgenossen, die sich in den zehner und zwanziger Jahren mit dem Film beschäftigten, Kritiker, Philosophen, ja selbst Filmemacher, sahen das jedoch recht anders. Sie erblickten in der Stummheit des Mediums zumeist keine technische Behinderung, sondern eine ästhetische Stärke. Sie hielten den realexistierenden Film für eine perfekte Kunstform; gerade wegen seiner Mischung aus Stummheit und eingefügten Zwischentiteln - die im Englischen übrigens nicht nur title cards, sondern auch (title) links hießen. Béla Balázs zum Beispiel konstatierte 1924 in "Der sichtbare Mensch", daß die Stummheit ein Principium stilisationis des Films sei, eine entscheidende Qualität, in der er sich von allen anderen Kunstformen unterschiede.

Andere Kritiker interpretierten die Zwischentitel gar als Teil eines Trends zur Literarisierung der Künste und des öffentlichen Lebens. Sie verglichen sie mit den Reklameschriftzügen und den Plakaten von Werbung und politischer Propaganda, die mit der rapiden Entwicklung einer demokratischen Konsumentenkultur das Stadt- und auch Landschaftsbild zu prägen begannen. Zwischentitel erschienen unter dieser Perspektive nicht als Ausdruck technischer Rückständigkeit, sondern als ein ästhetisches Element, das den Film von einem unbedeutenden Jahrmarkts- und Unterhaltungsmedium zu einer Kunstform im Dunstkreis der avancierten Moderne machte.

Diese Haltung mag man als ehrenwerte Illusion verteidigen, die eine bessere Zukunft im Sinn führte, als es unsere Gegenwart werden sollte, oder man mag sich über den intellektuellen Wahn amüsieren, der ausgerechnet den beginnenden Triumphzug einer visuell dominierten Massenkultur als Literarisierung verstehen wollte. Um ähnliche Fehler in der Beurteilung der gegenwärtigen Revolutionierung der Medien zu vermeiden, ist wichtiger als jede Bewertung jedoch die Analyse, worin genau der Irrtum der zeitgenössischen Kritiker des Stummfilms begründet lag.

Dergestalt rückwärts gedacht, fallen zwei Kriterien ins Auge, mit deren Hilfe sich genuine Elemente neuer Medien und Kunstformen von solchen unterscheiden lassen, die akzidentiell sind und die im Zuge der Fortentwicklung durch andere, besser funktionierende Verfahren ersetzt werden dürften:

  1. Ist das fragliche Element, der betreffende ästhetische Effekt ein wesentlicher Teil der einmaligen Art und Weise, wie das neue Medium oder die neue Kunstform seine Wirklichkeit repräsentiert?
  2. Intensiviert oder vermindert das betreffende Element die einzigartige Wirkung des neuen Mediums oder der neuen Kunstform?

Während die Montage unter diesen Kriterien zweifelsfrei als genuines Element des Films zu erkennen ist, erweisen sich die Zwischentitel als störender Fremdkörper - ganz im Gegensatz zu den Reklameschriften und Plakaten. Die Schrift im öffentlichen Raum entspricht den ästhetischen und kommerziellen Basisinteressen ihrer Produzenten. Slogans und Markennamen werden auf eine Art und Weise verbreitet, die es den Rezipienten im Vergleich zu Radio- und Magazinwerbung schier unmöglich macht, sich ihnen zu entziehen, und die gleichzeitig, im Gegensatz etwa zu Lautsprecherbeschallung, unauffällig genug ist, um keinen organisierten Widerstand zu wecken. Da Reklamezeichen und Werbeplakaten ihren Zweck perfekt erfüllen, solange sie nur lesbar sind und Aufmerksamkeit erregen, wurden sie im Prinzip von keinem neuem Medium ersetzt und lediglich technisch verbessert - durch Neonschriften, durch Beleuchtung, durch elektronische Reklamewände, die wechselnde Reklamen zeigen können usw.

Zwischentitel jedoch widersprechen der Ästhetik des Kinos und seinen Wirkungsabsichten. Der Film entfaltet Geschichten in laufenden Bildern. Um den Handlungsbogen optimal schlagen zu können, um das Interesse an diesen Geschichten und ihren Charakteren nicht abreißen zu lassen, muß die Abfolge der Bilder ihre eigene Logik, ihren eigenen Rhythmus entwickeln können. Zwischentitel, die Dialoge aus der gesprochenen Sprache in die schriftliche übersetzen, stören daher gerade das nachhaltig, was den einzigartigen Reiz des Kinos als Kunstform ausmacht. Zwischentitel separieren, sie gleichen den Nummernmädchen, die im klassischen Varieté die einzelnen Auftritte voneinander schieden. Doch Filmszenen sind keine getrennten Nummern, sie sind Teil eines ästhetischen Ganzen.

Das Hemmnis, welches die Zwischentitel darstellen, reicht obendrein weiter. Nicht nur stört ihre Anwesenheit, auch die Abwesenheit des gesprochenen Wortes, an dessen Stelle sie treten, bedeutet einen ästhetischen Mangel. Der Film ist eine dramatische Kunst. Er inszeniert Konflikte. Eine Welt aber, in der alle stumm sind, ist für dieses ästhetische Basisinteresse per definitionem eine ärmere Welt als eine, in der die Menschen sich sprechend ausdrücken und konfrontieren. Weshalb Zwischentitel, sobald es technisch möglich war, aus dem Kino verschwanden und nur in jenen seltenen Fällen noch zum Einsatz kommen, in denen tatsächlich eine Unterbrechung des Bilder- und Handlungsflusses ästhetisch intendiert ist; als Indikator für abrupte Ortswechsel oder abrupte Zeitsprünge sowie zur reinen Informationsvermittlung in den Vor- und Abspännen.

Was nun die Ideen und Werke der Hyptertext-Bewegung angeht, lassen sich aus dem historischen Beispiel deutliche Lehren ziehen. So essentiell wie für den Film die Montage ist für die Hypertextliteratur der Link. Er steuert strukturell den Fortgang der Erzählung, und er lenkt den Verlauf der Rezeption, die sich ja an jedem der Knotenpunkte, die der Link markiert, neu entscheiden muß, ob sie in der gegenwärtigen Textportion verbleiben oder zu einer neuen, unbekannten wechseln will. Der Link, als "hot spot" graphisch hervorgehoben, unterbricht das aktuelle Textkontinuum und montiert den Leseverlauf. Zweifellos ist er die ästhetische Basisinnovation, ohne die keine digitale Fiktion ihr Ziel, die nicht-lineare Anordnung ihrer Elemente, erreichen könnte.

Ebenso eindeutig aber läßt sich mit Hilfe der am Beispiel des Stummfilms gefundenen Kriterien der zentrale Irrtum der Hypererzählungen erkennen. Das Äquivalent zu der Annahme, der Stummfilm sei eine perfekte Kunstform und ihr zentraler Mangel, die Stummheit, sei sein Principium stilisationis, ist nichts anderes als - derselbe Irrtum in neuem Gewand. Wer in die Digitalisierung einen Trend zur Literarisierung hineinliest, nur weil die realexistierende Bandbreite in den Netzen für einen historischen Augenblick textzentrierte Formen begünstigt, pflegt die alte Hoffnung, das Wort, ob als title link oder durch Hyperlinks verbunden, könne die Gewalt der immer schnelleren und derweil auch noch bunten Bilder bannen.